Herstellung und Verlag

Books on Demand GmbH Norderstedt

ISBN 9783751988209

© 2020 Michael Weischede

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über www.dnb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Senecas Briefe an seinen Freund Lucilius gehören zu den wenigen Texten der lateinischen Literatur, die auch nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches nicht in Vergessenheit gerieten. Während die meisten Publikationen der Antike erst in der Renaissance „wiedergeboren“ wurden, fanden die Epistulae morales ad Lucilium bis in unsere Zeit hinein durchgängig eine interessierte Leserschaft. Aus diesem Grund herrscht auch heute kein Mangel an Übersetzungen der Briefe. Es erschien mir deshalb wenig sinnvoll, eine weitere hinzuzufügen, ohne einen gesonderten Schwerpunkt zu setzen. Ich habe mich deshalb ganz bewusst für ein möglichst text- und wortgetreues Vorgehen entschieden und mich dabei, soweit es ging, an die Wortvorschläge der gängigen Lexika gehalten (Georges, PONS, Stowasser, Langenscheidt usw.). Vor allem Schülern sollte es auf diese Weise leichter fallen, die Übersetzung aus dem Lateinischen nachzuvollziehen und bei Bedarf mit ihren eigenen Bemühungen zu vergleichen.

Der lateinische Textteil stammt aus verschiedenen Internetquellen, wobei das Augenmerk auf der Gemeinfreiheit lag. Er ist also nicht editiert, und ich habe mir zudem erlaubt, ihn hier und da an meine stilistischen Vorlieben anzupassen. Für ein ernsthaftes wissenschaftliches Arbeiten ist er dementsprechend nicht geeignet. Er soll nur aufzeigen, auf welcher Grundlage die Übersetzung erfolgte.

Soweit mir meine Motivation für dieses Projekt nicht abhanden kommt, werde ich nach und nach alle 20 Bücher mit den Briefen an Lucilius übersetzen und veröffentlichen. Bei meiner eher gemächlichen Arbeitsweise kann das allerdings einige Zeit dauern ...

Dortmund im Juli 2020

Liber III – Epistula XXII

Seneca Lucilio suo Salutem,

(1) Iam intellegis educendum esse te ex istis occupationibus speciosis et malis, sed quomodo id consequi possis quaeris. Quaedam non nisi a praesente monstrantur; non potest medicus per epistulas cibi aut balinei tempus eligere: vena tangenda est. Vetus proverbium est gladiatorem in harena capere consilium: aliquid adversarii vultus, aliquid manus mota, aliquid ipsa inclinatio corporis intuentem monet.

(2) Quid fieri soleat, quid oporteat, in universum et mandari potest et scribi; tale consilium non tantum absentibus, etiam posteris datur: illud alterum, quando fieri debeat aut quemadmodum, ex longinquo nemo suadebit, cum rebus ipsis deliberandum est.

(3) Non tantum praesentis sed vigilantis est occasionem observare properantem; itaque hanc circumspice, hanc si videris prende, et toto impetu, totis viribus id age ut te istis officiis exuas. Et quidem quam sententiam feram attende: censeo aut ex ista vita tibi aut e vita exeundum. Sed idem illud existimo, leni eundum via, ut quod male implicuisti solvas potius quam abrumpas, dummodo, si alia solvendi ratio non erit, vel abrumpas. Nemo tam timidus est ut malit semper pendere quam semel cadere.

Buch 3 – Brief 22

Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Nunmehr verstehst du, dass du dich von diesen Geschäften, den täuschenden und verderblichen, losreißen must; jedoch fragst du dich, auf welche Weise du dies erreichen kannst. Manches wird nur durch persönliche Anwesenheit gelehrt; ein Arzt kann anhand von Briefen nicht den Zeitpunkt fürs Essen oder fürs Bad auswählen: den Puls muss er fühlen. Es gibt ein altes Sprichwort, dass der Gladiator die Kriegslist in der Arena auswählt: manches sagt der Gesichtsausdruck des Gegners voraus, manches die Hand, die bewegt wurde, und manches, wenn man es im Auge behält, sogar die Neigung des Körpers.

(2) Was gewöhnlich zu tun, was notwendig ist, kann im Allgemeinen überliefert und beschrieben werden; nicht nur den Abwesenden, auch den Nachkommen wird ein solcher Rat erteilt: jenes andere – wann es geschehen sollte oder auf welche Weise – wird aus der Ferne niemand anraten; es muss unter den spezifischen Umständen bestimmt werden.

(3) Nicht nur Anwesenheit, sondern auch Aufmerksamkeit ist nötig, um eine schnell vergehende Gelegenheit zu beobachten; daher halte Ausschau nach dieser und ergreife diese, wenn du sie siehst, und strebe es mit ganzer Leidenschaft, mit allen Kräften an, um dich diesen Verpflichtungen zu entledigen. Und gewiss beachte, welchen Gedanken ich vorbringe: ich bin der Ansicht, dass du entweder diese Lebensweise oder das Leben [selbst] aufgeben musst. Aber zugleich urteile ich dahin, dass man einen sanften Weg einschlagen sollte, um lieber aufzuschnüren als gewaltsam auseinanderzureißen, in was du unglücklich verwickelt worden bist, wenn du dich nur, falls keine andere Möglichkeit zur Befreiung existiert, auch [wirklich] losreißt. Niemand ist so verzagt, dass er lieber beständig in der Schwebe hängen will, als einmal zu Boden zu fallen.

(4) Interim, quod primum est, impedire te noli; contentus esto negotiis in quae descendisti, vel, quod videri mavis, incidisti. Non est quod ad ulteriora nitaris, aut perdes excusationem et apparebit te non incidisse. Ista enim quae dici solent falsa sunt: 'Non potui aliter. Quid si nollem? Necesse erat.' Nulli necesse est felicitatem cursu sequi: est aliquid, etiam si non repugnare, subsistere nec instare fortunae ferenti.

(5) Numquid offenderis si in consilium non venio tantum sed advoco, et quidem prudentiores quam ipse sum, ad quos soleo deferre si quid delibero? Epicuri epistulam ad hanc rem pertinentem lege, Idomeneo quae inscribitur, quem rogat ut quantum potest fugiat et properet, antequam aliqua vis maior interveniat et auferat libertatem recedendi.

(6) Idem tamen subicit nihil esse temptandum nisi cum apte poterit tempestiveque temptari; sed cum illud tempus captatum diu venerit, exsiliendum ait. Dormitare de fuga cogitantem vetat et sperat salutarem etiam ex difficillimis exitum, si nec properemus ante tempus nec cessemus in tempore.

(4) Einstweilen, das steht zu Anfang, lass dich ja nicht verwirren; du solltest mit den Aufgaben zufrieden sein, zu denen du dich entschlossen hast, oder, wenn du es lieber so sehen willst, hineingeraten bist. Es gibt keinen Anlass, dass du nach mehr trachtest, oder aber du wirst deine Ausrede verlieren und offenbaren, dass du nicht „hineingeraten“ bist. Das nämlich, was gewöhnlich behauptet wird, ist falsch: „Ich konnte nicht anders. Was, wenn du nicht gewollt hättest? Es war unausweichlich.“ Niemand muss die Glückseligkeit in der Karriere suchen: selbst ohne dagegen anzukämpfen, ist es nicht ohne Bedeutung, innezuhalten und dem erlangten Erfolg nicht weiter nachzusetzen.

(5) Bist du etwa beleidigt, wenn ich zur gemeinsamen Überlegung nicht nur erscheine, sondern Sachverständige hinzurufe, und noch dazu klügere, als ich selbst es bin, zu denen es mich zu verschlagen pflegt, wenn ich über etwas nachdenke. Lies den Brief von Epikur, der sich auf diese Angelegenheit bezieht, der an Idomeneus adressiert ist, welchen er bittet, insoweit es möglich ist, davonzulaufen und sich zu eilen, bevor eine höhere Gewalt dazwischentritt und ihm die Freiheit raubt, sich zurückzuziehen.

(6) Derselbe fügt freilich hinzu, dass man es nur versuchen soll, wenn es angemessen und zur rechten Zeit versucht werden kann; aber wenn jener lange Zeit angestrebte Zeitpunkt gekommen ist, sagt er, muss man aufspringen. Demjenigen, der über die Flucht nachdenkt, gestattet er nicht, sich gehen zu lassen, und er hofft außerdem auf einen vorteilhaften Ausweg aus der schwierigen Lage, sofern wir uns weder vor der rechten Zeit in Bewegung setzen noch bei günstiger Gelegenheit zögern.

(7) Puto, nunc et Stoicam sententiam quaeris. Non est quod quisquam illos apud te temeritatis infamet: cautiores quam fortiores sunt. Exspectas forsitan ut tibi haec dicant: 'Turpe est cedere oneri; luctare cum officio quod semel recepisti. Non est vir fortis ac strenuus qui laborem fugit, nisi crescit illi animus ipsa rerum difficultate.'

(8) Dicentur tibi ista, si operae pretium habebit perseverantia, si nihil indignum bono viro faciendum patiendumve erit; alioqui sordido se et contumelioso labore non conteret nec in negotiis erit negotii causa. Ne illud quidem quod existimas facturum eum faciet, ut ambitiosis rebus implicitus semper aestus earum ferat; sed cum viderit gravia in quibus volutatur, incerta, ancipitia, referet pedem, non vertet terga, sed sensim recedet in tutum.

(9) Facile est autem, mi Lucili, occupationes evadere, si occupationum pretia contempseris; illa sunt quae nos morantur et detinent. 'Quid ergo? Tam magnas spes relinquam? Ab ipsa messe discedam? Nudum erit latus, incomitata lectica, atrium vacuum?' Ab his ergo inviti homines recedunt et mercedem miseriarum amant, ipsas exsecrantur.

(