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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leserwarnung

Widmung

Playlist

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von L. J. Shen bei LYX

Impressum

L. J. Shen

All Saints High

DER REBELL

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Anja Mehrmann

Zu diesem Buch

Knight Cole ist attraktiv, beliebt und als Captain des Footballteams der Star der Schule. Aber obwohl die Knie aller Mitschülerinnen der All Saints High weich werden, wenn er sie bloß ansieht, hat er nur Augen für Luna Rexroth. Sie ist schüchtern, introvertiert – und hat nach einem Schicksalsschlag aufgehört zu sprechen. Auch wenn die beiden unterschiedlicher nicht sein könnten, sind sie schon seit ihrer Kindheit die besten Freunde. Aber obwohl sie auch ohne Worte ganz genau verstehen, was in dem anderen vorgeht, gibt es doch ein großes Missverständnis zwischen ihnen. Denn obwohl Luna schon seit Jahren spürt, dass das Knistern zwischen ihr und Knight immer stärker wird, traut sie sich nicht, der Anziehung nachzugeben. Schließlich ist sie fest davon überzeugt, dass sich Knight niemals in jemanden wie sie verlieben könnte. Was Luna nicht weiß: Knight hofft seit Jahren darauf, dass sie in ihm mehr als nur ihren besten Freund sieht, und hat daher alle Annäherungsversuche von anderen Mädchen abgewiesen. Doch als Luna beschließt, für ihr Studium in eine andere Stadt zu ziehen, muss er einsehen, dass er womöglich zu lange gewartet hat …

Leserwarnung

Dieses Buch enthält Bezüge zu Krankheit und Tod.

Für Betty und Vanessa V., zwei begabte Frauen,
die ich verehre, und für die Lunas dieser Welt.

Titelsong

»Dream On« – Aerosmith

Playlist

»Enjoy the Silence« – Depeche Mode

»Just My Type« – The Vamps

»Who Do You Love?« – The Chainsmokers feat.
Five Seconds of Summer

»I Wanna Be Adored« – The Stone Roses

»Beautiful« – Bazzi feat. Camilla Cabello

»Fix You« – Coldplay

»I Will Follow You into the Dark« – Death Cab for Cutie

»The Drugs Don’t Work« – The Verve

»I Predict a Riot« – Kaiser Chiefs

1. Kapitel

Knight, 9; Luna, 10

Knight

Ich schlug mit der Faust gegen die Eiche und fühlte den vertrauten Schmerz einer frischen Wunde, als die Haut über den Fingerknöcheln aufplatzte.

Wenn ich blutete, konnte ich freier atmen. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber es brachte Mom dazu, im Badezimmer zu weinen, wenn sie glaubte, dass niemand sie hörte. Sobald sie auf meine ständig kaputten Knöchel blickte, begannen die Tränen zu fließen. Das hatte mir auch den wöchentlichen Besuch bei einem Kerl im Anzug eingebracht, der mich ständig nach meinen Gefühlen fragte.

Meine Ohrhörer übertönten die Geräusche der Vögel, der Grillen und der knisternden Blätter unter meinen Füßen. Die Welt war zum Kotzen, ich wollte sie nicht mehr hören. »Break Stuff« von Limp Bizkit hatte ich mir als Hymne für meinen Weltschmerz ausgesucht. Fred Durst sah zwar aus wie ein Sack mit Basecap, aber recht hatte er trotzdem.

Bam.

Bam.

Bam.

Die meisten Kids prügelten sich miteinander. Ich nicht. Ich wollte nur mich selbst verletzen. Wenn mein Körper schmerzte, hörte mein Herz damit auf. Eine einfache Rechnung und ein guter Deal.

Ein Kiefernzapfen fiel mir auf den Kopf. Ich blickte nach oben. Luna, meine bescheuerte Nachbarin, saß vor unserem Baumhaus. Sie hielt einen weiteren Kiefernzapfen in der Hand und ließ ihre Zahnstocherbeine baumeln.

»Was soll das?« Ich nahm die Ohrhörer heraus.

Mit einer Kopfbewegung forderte sie mich auf, zu ihr hinaufzuklettern. Ich rührte mich nicht. Jetzt winkte sie.

»Nee.« Ich zog die Nase hoch und spuckte seitlich aus.

Sie hob eine Augenbraue. Das war ihre Art, mich zu fragen, was mein Problem war. Luna war neugierig, aber nur, wenn es um mich ging. Ich fand es nervig.

»Vaughn hat mein Rad geklaut«, verkündete ich.

Ich hätte Vaughn, meinen sogenannten besten Freund, zusammengeschlagen, hätte ich nicht befürchtet müssen, ihn aus Versehen umzubringen. Er wollte, dass ich ausraste, hatte er gesagt. »Es muss raus aus deinem System.« Was immer das heißen sollte. Was für ein System? Und was wusste er über meins? Über Wut? Vaughns Leben war perfekt. Seine Eltern waren gesund. Er hatte nicht mal einen nervigen kleinen Bruder wie Lev.

Luna warf den zweiten Kiefernzapfen. Dieses Mal fing ich ihn, holte aus wie ein Baseballspieler und warf ihn zurück, allerdings absichtlich vorbei.

»Ich habe Nein gesagt.«

Sie griff nach dem dritten Kiefernzapfen – sie hatte einen Vorrat im Baumhaus für den Fall, dass wir angegriffen wurden, was aber ehrlich gesagt nie passierte – und holte demonstrativ aus.

»Mann, bist du blöd!«, schnauzte ich sie an.

Aber sie zwinkerte mir nur zu.

»Guck mich nicht so an!«

Wieder Zwinkern.

»Verdammt, Luna!«

Mir war egal, was Vaughn sagte. Ich würde dieses Mädchen niemals küssen wollen. Gott steh mir bei, falls sie das je von mir verlangen sollte.

Ich kletterte auf die Reifenschaukel und von dort weiter hinauf in unser kleines Baumhaus. Vaughn hielt sich bereits für zu cool, um in Baumhäusern zu sitzen. Gut. Noch eine Sache zwischen Luna und mir, mit der er nichts zu tun hatte.

Luna sprang von dem Ast hinunter. Sie rollte sich auf dem Boden ab, kam schnell wie ein Ninja wieder auf die Füße und klopfte sich mit einem zufriedenen Lächeln den Staub ab. Dann lief sie auf das Viertel zu, in dem wir wohnten. Schnell.

»Wo willst du hin?«, rief ich ihr nach, obwohl ich wusste, dass sie mir nicht antworten würde.

Ich blickte ihr nach, bis sie nur noch ein Punkt am Horizont war und schließlich verschwand. Es machte mich immer traurig, sie weggehen zu sehen.

Trotzdem war das alles Blödsinn. Ich kannte niemanden, der Vaughn zu irgendetwas hätte überreden können. Und Luna war nicht mal zum Reden in der Lage, Punkt. Außerdem brauchte ich ihre Hilfe nicht. Ich hatte ihn stehen lassen, weil ich wusste, dass er andernfalls von mir bekommen hätte, was er wollte – eine schmutzige Prügelei. Ich war anders als er. Mein Lebensziel bestand nicht darin, meine Eltern auf die Palme zu bringen.

Wenig später kam Luna auf meinem Fahrrad angefahren. Ich stand auf und schützte meine Augen mit einer Hand vor der untergehenden Sonne. Kurz bevor der Ozean sie verschluckte, schien sie noch einmal heftig aufzuflammen.

Luna winkte mich zu sich.

Als Antwort warf ich ihr einen Kiefernzapfen auf die Schulter. »Hey, Rexroth.«

»Wie bitte?«, fragte ihre hochgezogene Augenbraue. Dieses Mädchen konnte mir mit ihren Augenbrauen alles Mögliche erzählen. Manchmal hatte ich Lust, sie ihr abzurasieren, nur um sie zu ärgern.

»Ich bekomme immer meine Revanche. Vergiss das nicht, klar?«

»Ja, klar«, sagte mir ihr Augenrollen.

»Dann komm jetzt rauf.«

Sie deutete auf mein Rad und stampfte mit dem Fuß auf.

»Vergiss das dumme Fahrrad.«

Zusammengedrängt saßen wir im Baumhaus. Anstatt mich bei ihr zu bedanken, was ich eigentlich hätte tun sollen, holte ich die Blätter heraus, die ich früher am Tag ausgedruckt hatte, und breitete sie auf dem hölzernen Boden zwischen uns aus. Unsere Köpfe stießen zusammen, als wir uns darüberbeugten. Ich brachte ihr obszönes Zeug in Gebärdensprache bei – was ihr Vater und ihr Therapeut niemals tun würden.

»Hier steht, dass man für ›Schwanz‹ das s-Zeichen direkt an der Nase machen muss.« Ich ahmte das Bild auf der Seite nach und drehte das Blatt um. »Oh, sieh mal. Wenn du ›Fick dich‹ sagen willst, musst du der betreffenden Person nur den Mittelfinger zeigen und böse gucken. Wie praktisch.«

Ich sah ihr nicht ins Gesicht, spürte aber ihre Stirn an meiner. Luna war zwar ein Mädchen, aber trotzdem ziemlich cool. Der einzige Nachteil war, dass sie mit ihren Blicken manchmal zu viele Fragen stellte. Mom meinte, das läge daran, dass Luna mich gernhatte. Ich hätte es zwar im Leben nicht zugegeben, aber ich hatte sie auch gern.

Sie klopfte mir auf die Schulter, und ich legte das Blatt beiseite.

»Mit der flachen Hand neben dem Kinn hin und her winken bedeutet ›Schlampe‹. Mann, dein Vater bringt mich um, wenn er herausfindet, dass ich dir das beigebracht habe.«

Sie klopfte mir energischer auf Schulter, grub mir einen Fingernagel in die Haut.

Ich hörte auf zu lesen und hob den Kopf. »Was ist los?«

»Geht es dir gut?«, fragte sie.

Sie benutzte die Gebärdensprache nur selten. Luna wollte nicht sprechen. Weder in Gebärdensprache noch anders. Aber sie konnte sprechen. Eigentlich. Ich hatte sie zwar noch nie etwas sagen hören, aber unsere Eltern behaupteten, es ginge nicht um ihre Stimme, sondern um die Welt.

Das konnte ich verstehen. Ich hasste die Welt auch.

Wir hassten sie nur auf verschiedene Art.

»Klar«, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

»Freunde machen Freunde nicht wegen Kleinigkeiten an«, argumentierte sie.

Wow. Ein ganzer Satz. Das war neu.

Ich begriff zwar nicht, warum sie die Gebärdensprache benutzte, wenn sie eigentlich überhaupt nicht sprechen wollte, aber ich wollte ihr kein schlechtes Gefühl geben oder so.

»Das Fahrrad ist mir egal.« Ich legte das Blatt weg und rutschte auf den Ast zu, um vom Baum zu klettern. Luna folgte mir und setzte sich neben mich. Ich fuhr nicht mal gern mit dem Fahrrad, sondern tat es nur, um mit Luna abhängen zu können. Aus demselben Grund malte ich Malbücher aus. Ich hasste es.

Sie legte den Kopf schief. Eine Frage.

»Mom ist wieder in der Klinik.« Ich warf einen Kiefernzapfen in die untergehende Sonne, über den Rand des Hügels hinaus, auf dem unser Baum stand. Ich fragte mich, ob der Zapfen es wohl bis zum Ozean schaffen würde, ob er bereits nass und kalt war. Und ob er mich hassen würde.

Luna legte ihre Hand auf meine und starrte darauf. Unsere Hände waren gleich groß, ihre war braun und meine so weiß wie frisch gefallener Schnee.

»Ist schon okay«, sagte ich schniefend und nahm noch einen Kiefernzapfen. »Alles okay.«

»Ich hasse dieses Wort. Okay«, sagte Luna mit den Händen. »Es bedeutet weder gut und noch schlecht. Es bedeutet gar nichts.«

Sie senkte den Kopf und drückte mir die Hand. Es fühlte sich warm und klebrig an, irgendwie eklig. Ein paar Wochen zuvor hatte Vaughn mir erzählt, dass er gern Cara Hunting küssen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, ein Mädchen auf diese Art zu berühren.

Luna nahm meine Hand und legte sie auf ihre Herzgegend.

Peinlich berührt verdrehte ich die Augen. »Ich weiß. Du bist für mich da.«

Sie schüttelte den Kopf und drückte meine Hand noch fester. Die Intensität ihres Blicks machte mir Angst. »Immer. Wann immer. Für immer«, gebärdete sie.

Ich nahm ihre Worte in mich auf. Ich wollte mein dämliches Fahrrad in Vaughns dämliches Gesicht werfen und weglaufen. Und dann sterben. Ich wollte in der Einöde sterben, zu Staub zerfallen und mich vom Wind in alle Richtungen tragen lassen.

Ich wollte anstelle Moms sterben. Ich war vollkommen nutzlos, aber auf Mom waren sehr viele Menschen angewiesen.

Dad.

Lev.

Ich.

Ich.

Luna zeigte auf die Sonne.

»Sonnenuntergang?«, fragte ich und seufzte.

Sie runzelte die Stirn.

»Strand?«

Kopfschüttelnd verdrehte sie die Augen.

»Morgen geht die Sonne wieder auf«, formte sie mit den Fingern.

Sie beugte sich vor. Für einen Moment glaubte ich, sie würde vom Baum springen. Stattdessen löste sie eine Sicherheitsnadel von ihren karierten Vans und stach sich damit in den Zeigefinger. Kommentarlos griff sie nach meiner Hand und stach auch mir in den Finger. Sie drückte die beiden Finger zusammen, und ich sah zu, wie sich unser Blut vermischte.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Ihre Zähne waren schief. Und ein bisschen spitz. Ziemlich unvollkommen.

Ohne sich um den Zustand meiner Fingerknöchel zu kümmern, schrieb sie mir mit unserem Blut Alles oder nichts auf den Handrücken.

Ich dachte an das Fahrrad, das sie für mich zurückgeholt hatte, und musste lächeln.

Sie zog mich an sich, und ich versank in ihren Armen.

Ich wollte sie nicht küssen.

Am liebsten hätte ich meine Haut mit einem Reißverschluss geöffnet und sie in mich hineingezogen.

Sie vor der Welt versteckt und für mich behalten.

Knight, 12; Luna, 13

Luna

Ich wurde nach dem Mond benannt.

Dad sagte, ich sei ein pummeliges perfektes Baby gewesen. Ein Licht, das in die Dunkelheit geboren wurde. Ein Kind, das meine Mutter nicht gewollt hatte und mit dem er selbst nichts anzufangen wusste. Er sagte, dass ich trotzdem – oder vielleicht genau deswegen – das schönste und bezauberndste Lebewesen war, das er jemals gesehen hatte.

»Mir brach das Herz, aber nicht vor Kummer, sondern weil es bei deinem Anblick so sehr anschwoll, dass ich mehr Platz in der Brust brauchte«, hat er einmal gesagt.

Er hat mir viel erzählt, damit ich mich geliebt fühlte. Natürlich gab es dafür gute Gründe.

Meine Mutter hatte uns verlassen, als ich noch keine zwei Jahre alt war.

Im Lauf der Zeit tauchte sie immer wieder in meinen Gedanken auf, wenn ich es am wenigsten erwartete – sie drängte sich mit einer Unzahl an Erinnerungen und versteckten Fotos, die ich niemals hätte finden sollen, in meinen Geist. Ihr Lachen – ein Lachen, das ich nicht überhören konnte, sosehr ich es auch versuchte – lief mir wie Feuerzungen über die Haut.

Was das Ganze noch schlimmer machte, war das Wissen, dass sie lebte. Sie lebte irgendwo unter demselben Himmel und atmete die gleiche Luft wie ich. Vielleicht in Brasilien, ihrer Heimat. Aber das spielte keine Rolle, denn wo immer sie auch war, sie war nicht bei mir. Und als sie einmal meinetwegen zurückgekommen war, hatte sie im Grunde nur Geld gewollt.

Als das passierte, war ich fünf – es geschah etwa zu dem Zeitpunkt, an dem Dad meine Stiefmutter Edie kennenlernte. Val, meine Mutter, hatte das gemeinsame Sorgerecht beantragt und verlangte so viel Unterhalt, dass sie einen kleinen Staat hätte finanzieren können. Als ihr klar wurde, dass sie durch mich nicht reich werden würde, setzte sie sich wieder ab.

Damals machte ich es mir zur Gewohnheit, abends in die Küche zu schleichen, wo Dad und Edie ihre wichtigen Gespräche führten. Sie bemerkten mich nie. Seitdem Val mich nicht mehr besuchte, hatte ich die Kunst perfektioniert, mich unsichtbar zu machen.

»Ich will sie nicht mehr in der Nähe meines Kindes sehen«, hatte Dad mit zusammengebissenen Zähnen gesagt.

»Ich auch nicht«, antwortete Edie.

Mein Herz zerfloss zu einer warmen klebrigen Masse.

»Aber wenn sie zurückkommt, müssen wir in Betracht ziehen, dass sie Luna sehen will.«

»Was ist, wenn sie ihr wehtut?«

»Was ist, wenn sie ihr guttut?«

Die Erfahrung hatte mich bereits gelehrt, dass Zeit zwei Dinge kann: Sie kann heilen, und sie kann töten. Auf Heilung wartete ich an jedem einzelnen Tag. Ich kniete mich auf die Spitzenkissen vor meinem Fenster, öffnete es und betete, der Wind möge alle Erinnerungen an meine Mutter einfach wegwehen.

Ich konnte Valenciana Vasquez nicht hassen. Die Frau, die vor meinem Kinderbettchen ihre Sachen packte, während ich weinte und schrie, sie anflehte, bei mir zu bleiben, und die trotzdem ging.

An diese Szene erinnerte ich mich mit grausamer Deutlichkeit. Es heißt zwar, die frühesten Erinnerungen beginnen nach dem zweiten Lebensjahr, aber ich habe ein fotografisches Gedächtnis, einen IQ von 155 und ein Gehirn, das oft genug getestet wurde, um zu wissen, dass ich mich an alles erinnere, ob ich will oder nicht.

An alles Gute.

An alles Schlechte.

Und an alles dazwischen.

Deshalb war die Erinnerung an ihren Abschied immer noch frisch. Die Entschlossenheit in ihren schräg stehenden bernsteinfarbenen Augen. Der kalte Schweiß, der sich unter meinen pummeligen Armen gesammelt hatte. Fieberhaft suchte ich in meinem Gehirn nach Worten, und als ich sie endlich gefunden hatte, schrie ich, so laut ich konnte.

»Mommy! Bitte! Nein!«

An der Tür blieb sie kurz stehen. Ihre Knöchel waren weiß, so fest umklammerte sie den Türrahmen, um sich nicht dazu hinreißen zu lassen, sich umzudrehen und mich in die Arme zu nehmen. Ich erinnerte mich, dass ich nicht zu zwinkern gewagt hatte, aus Angst, sie würde verschwinden, sobald ich meine Augen schloss.

Doch für den Bruchteil einer Sekunde siegte ihr Mutterinstinkt, und sie drehte sich um und blickte mich an.

Ihr Gesicht war verzerrt. Sie öffnete den Mund und fuhr sich mit der Zunge über die scharlachrot geschminkten Lippen. Sie schien etwas sagen zu wollen, schüttelte aber nur den Kopf und verließ das Zimmer. Im Radio lief eine traurige Melodie. Val schaltete oft das Radio ein, um mein Weinen zu übertönen. Meine Eltern lebten nicht zusammen, aber sie teilten sich das Sorgerecht. Nachdem Val die zahlreichen Anrufe meines Vaters nicht beantwortet hatte, fand er mich dann einige Stunden später in meinem Gitterbettchen. Meine Windel war so voll, dass sie schwerer war als mein kleiner Körper.

Ich weinte nicht. Nicht mehr.

Ich schwieg, als er mich hochnahm.

Ich schwieg, als er mich in die Notaufnahme brachte, um mich gründlich untersuchen zu lassen.

Ich schwieg, als er mir etwas vorsummte, mich küsste, mich in den Arm nahm.

Ich schwieg, als ihm die Tränen über die Wangen liefen und er mich anflehte, einen Ton von mir zu geben.

Von nun an schwieg ich, denn an diesem Tag wurde ich zur selektiven Mutistin. Das bedeutete, dass ich zwar sprechen konnte, es aber nicht wollte. Was allerdings ziemlich blöd war, weil ich nicht anders sein wollte als die anderen. Ich war es einfach. Dass ich nicht mehr sprach, beruhte weder auf einer Entscheidung, noch war es eine Phobie. Mir wurde eine schwere Sozialphobie attestiert, und ich erhielt von frühester Kindheit an zwei Therapiesitzungen wöchentlich. Normalerweise bedeutet selektiver Mutismus, dass eine Person in Situationen, in denen sie sich wohlfühlt, durchaus reden kann. Ich konnte es nicht.

Das unbekannte Lied, das an jenem Tag im Radio gelaufen war, hatte sich wie eine Narbe in mein Gehirn gebrannt. Nun wurde es erneut gesendet und überfiel mich ein weiteres Mal.

Ich saß mit Edie, meiner Stiefmutter, im Auto. Regen prasselte auf die Scheiben ihres weißen Porsche Cayenne. Der Radiosprecher sagte »Enjoy the Silence« von Depeche Mode an. Die Ironie des Titels ließ meinen Mund trocken werden – diesen Mund, der sich aus einem einzigen Grund zu sprechen weigerte: Die Worte, die ich ausgesprochen hatte, hatten meiner Mutter nicht genügt. Ich genügte nicht.

Als die Musik erklang, wäre ich am liebsten aus der Haut gefahren und hätte mich in Luft aufgelöst. Ich wollte aus dem Auto springen. Aus Kalifornien weglaufen. Edie, Dad und Racer, meinen kleinen Bruder, verlassen – einfach verschwinden und irgendwo anders hingehen. Egal, wohin. Irgendwo, wo die Menschen mich nicht bedrängen und bemitleiden würden. Wo ich kein Zirkusfreak sein würde.

»Himmel, das ist mehr als zehn Jahre her. Kann sie nicht endlich mal darüber hinwegkommen?«

»Vielleicht geht es ja gar nicht um die Mutter. Habt ihr ihren Vater gesehen mit seiner jungen Geliebten …?«

»Das Mädchen war schon immer seltsam. Hübsch, aber seltsam.«

Ich wollte mich in meiner Einsamkeit suhlen, in dem Wissen, dass meine Mutter mir in die Augen gesehen und beschlossen hatte, dass ich nicht genügte. Ich wollte in meinem Kummer ertrinken. In Ruhe gelassen werden.

Als ich eine Hand ausstreckte, um das Radio abzustellen, schmollte Edie: »Aber das ist mein Lieblings-Song!«

Natürlich war er das. Klar.

Ich schlug mit der flachen Hand gegen das Fenster und brachte ein ersticktes Wimmern heraus. Das ungewohnte Geräusch meiner eigenen Stimme ließ mich erschauern. Edie, die am Steuer saß, blickte zu mir herüber. Noch immer umspielte ein Lächeln ihren Mund, dieses Lächeln, das stets auf ihren Lippen lag. So offen wie Arme, die zu einer Umarmung einluden.

»Dein Vater ist mit Depeche Mode aufgewachsen. Es ist eine seiner Lieblingsbands«, erklärte sie, um mich von dem Nervenzusammenbruch abzulenken, den ich offenbar gerade erlebte.

Ich schlug noch fester auf das Beifahrerfenster ein und trat gegen den Rucksack zu meinen Füßen. Der Song grub sich in meinen Körper, rauschte durch meine Adern. Ich wollte raus. Ich musste hier raus. Wir bogen ab und fuhren auf unsere Villa im mediterranen Stil zu, aber es dauerte zu lange. Ich konnte diesen Song nicht überhören. Konnte das Bild, wie Valenciana mich verließ, nicht aus meinem Geist vertreiben. Ich konnte das riesige Loch in meinem Herzen nicht verdrängen, das jedes Mal größer wurde, wenn mich die Erinnerung an meine leibliche Mutter überfiel.

Edie stellte das Radio ab, aber in demselben Augenblick riss ich die Tür auf und sprang aus dem langsamer werdenden Fahrzeug. Ich stolperte über eine Pfütze, fing mich und rannte auf das Haus zu.

Das Garagentor öffnete sich, Donner krachte am Himmel, riss ihn auf und brachte noch heftigeren Regen mit sich. Ich hörte Edies Rufe durch das offene Fenster, aber ihre Worte wurden von diesem für Südkalifornien sehr ungewöhnlichen Sturm verschluckt. Regen durchnässte meine Socken und ließ meine Beine schwer werden. Meine Füße brannten vom Rennen, als ich mein Fahrrad aus der Garage holte, ein Bein darüber schwang und auf die Straße zusteuerte. Endlich hielt Edie an. Sie stieg aus dem Wagen, rief nach mir und rannte mir hinterher.

Wild trat ich in die Pedale, nur raus aus der Sackgasse, am Haus der Followhills vorbei. Vor mir warf die riesige Villa der Spencers ihren Schatten auf den Weg. Das Haus der Coles, mein Favorit, lag zwischen unserem Haus und dem der Followhills.

»Luna!«, donnerte Knight Coles Stimme hinter mir.

Es überraschte mich nicht einmal.

Unsere Schlafzimmerfenster lagen einander gegenüber, und wir ließen die Vorhänge immer offen. Wenn ich nicht in meinem Zimmer war, machte Knight sich üblicherweise auf die Suche nach mir. Und umgekehrt.

Es fiel mir schwerer, Knight zu ignorieren als meine Stiefmutter, aber nicht, weil ich Edie nicht liebte. Das tat ich. Ich liebte sie mit der Intensität, mit der nur ein Stiefkind lieben kann – es war eine hungrige instinktive Liebe, nur noch besser als das, weil sie von Dankbarkeit und Bewunderung getränkt war.

Knight war zwar nicht gerade wie ein Bruder für mich, aber auf irgendeine Weise gehörte er doch zur Familie. Er klebte mir Pflaster auf die aufgeschürften Knie, und selbst wenn sie doppelt so groß waren wie wir, jagte er die Mobber weg, die mich ärgern wollten. Er gab mir Zuspruch, bevor ich überhaupt wusste, dass ich ihn brauchte.

Das einzig Blöde an Knight war, dass es sich anfühlte, als hielte er ein Stück meines Herzens gefangen. Das war der Grund, warum ich mich ständig fragte, wo er war. Sein Wohlergehen war eng mit meinem verknüpft. Als ich nun auf meinem Fahrrad den Hügel hinunter und auf das schwarze schmiedeeiserne Tor zurollte, das unsere prächtige Wohngegend gegen die Umwelt abschloss, fragte ich mich, ob auch er dieses unsichtbare Band zwischen uns spürte und ob er mir folgte, weil ich daran gezogen hatte. Weil es schmerzte, wenn sich einer von uns zu weit entfernte.

»Hey! Hey!«, rief Knight hinter mir.

Edie hatte ihn eingeholt. Sie schienen sich zu streiten.

»Ich werde sie beruhigen.«

»Aber, Knight …«

»Ich weiß, was sie jetzt braucht.«

»Das weißt du nicht, Schätzchen. Du bist nur ein Kind.«

»Und du bist nur eine Erwachsene. Hau ab!«

Knight hatte keine Angst davor, sich mit Erwachsenen anzulegen. Ich hingegen hielt mich an die Regeln. Solange ich nicht sprechen sollte, machte ich alles nach Vorschrift – ich war eine Einser-Schülerin und nett zu Fremden. Ich las Müll von der Straße auf, auch wenn es nicht meiner war, und spendete jedes Jahr zu Weihnachten einen Teil meiner Geschenke für Menschen, die sie wirklich brauchten.

Aber meine Motive waren nicht echt. Ich fühlte mich minderwertig, also versuchte ich ständig, besser zu werden. Daria Followhill, ein weiteres Nachbarskind in meinem Alter, nannte mich deshalb Sankt Luna.

Aber sie lag falsch. Ich spielte nur die Rolle einer Heiligen, und zwar weil Val dafür gesorgt hatte, dass ich mich wie eine Sünderin fühlte.

Ich fuhr schneller. Es regnete in Strömen, und der Regen verwandelte sich in Hagel, der mit eiskalter Wut auf meine Haut niederprasselte. Blinzelnd fuhr ich durch das Tor zu unserer Siedlung.

Dann ging alles sehr schnell. Gelbes Licht blitzte auf und blendete mich. Heißes Metall streifte mein Bein, als das Fahrzeug mir auszuweichen versuchte. Ohrenbetäubendes Hupen folgte.

Mit einer Kraft, die mich würgen ließ, zog mich etwas am Kragen meiner Tweedjacke zurück, und ehe ich mich versah, lag ich in einer Pfütze am Straßenrand.

Exakt in diesem Augenblick drang mir das Geräusch meines explodierenden Fahrrads in die Ohren. Das vorbeifahrende Auto zerlegte es in seine Einzelteile. Der Sattel flog nur Zentimeter an meinem Kopf vorbei, während der Rahmen in die andere Richtung schlitterte. Ich landete mit dem Gesicht auf dem Asphalt. Staub, Schlamm und Blut bedeckten meinen Mund. Ich hustete, rollte mich herum und kämpfte gegen etwas, was sich wie das Gewicht der ganzen Welt anfühlte. Knight hielt mit beiden Beinen meine Taille umklammert. Das Auto fuhr schleudernd bis zum Ende der Straße, wendete und raste am Tor zu unserem Wohngebiet vorbei. Es hagelte dermaßen, dass ich nicht einmal die Umrisse des Fahrzeugs erkennen konnte, geschweige denn das Nummernschild.

»Arschloch!«, schrie Knight dem Wagen mit einer Wut hinterher, die meine Lunge anstelle der seinen brennen ließ. »Fick dich!«

Ich blinzelte und versuchte, Knights Gesichtsausdruck zu entschlüsseln. So hatte ich ihn noch nie gesehen – ein Sturm in einem Sturm. Obwohl Knight ein Jahr jünger war als ich, wirkte er älter. Besonders jetzt. Seine Stirn lag in Falten, seine weichen rosigen Lippen waren geöffnet, die pechschwarzen Wimpern waren ein schwerer, vom Regen durchnässter Vorhang. Ein Tropfen lief über seine Unterlippe und verschwand in seinem Kinngrübchen, und dieses schlichte Bild schickte einen Feuerstrahl in mein Herz.

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass mein bester Freund … schön war. Ja, er war schön.

Idiotischer Gedanke, schon klar. Vor allem unter den gegebenen Umständen. Er hatte mich gerade vor dem sicheren Tod gerettet, hatte sich auf mich geworfen, damit mich kein vorbeifahrendes Auto erfasste, und ich dachte nicht an Val oder Edie oder Depeche Mode oder daran, wie zerbrechlich das Leben war, sondern ich sah, dass der Junge, mit dem ich aufgewachsen war, sich zu einem Teenager entwickelte. Zu einem gut aussehenden Teenager. Zu einem gut aussehenden Teenager, der Besseres zu tun haben würde, als seine Freundin aus Kindertagen zu retten oder ihr beizubringen, wie man »Volltrottel« in Gebärdensprache sagt.

Ich hatte geglaubt, die Erinnerung an Valenciana hätte meinem Herz einen Stich versetzt, aber das war gar nichts im Vergleich zu dem gewaltigen Riss, den es bekam, als ich Knight anblickte und erkannte, dass er mir das Stück meines Herzens, das er gefangen hielt, brechen würde. Nicht böswillig, nein, bestimmt nicht einmal mit Absicht. Aber das spielte keine Rolle. Ob Unfall oder Blitzschlag – der Tod war der Tod.

Ein gebrochenes Herz war ein gebrochenes Herz.

Schmerz war Schmerz.

»Was soll dieser Bullshit?«, schrie er mich an.

Er war mir so nah, dass ich seinen Atem riechen konnte. Nach Zucker, Kakao und Junge. Er roch wie ein Junge. Eigentlich sollte ich noch ein paar Jahre Zeit haben, bis diese Nummer anfing. Aber ich war wie gelähmt, sodass ich unter seiner Wut nicht einmal zusammenzuckte. Wieso war mir der anmutige Schwung seiner Nase noch nie aufgefallen? Die Farbe seiner Augen – so intensiv grün, mit dunkelblauen Flecken, eine Schattierung von Viridiangrün, wie ich sie noch nie gesehen hatte? Der gleichmäßige Bogen seiner Wangenknochen, so ausgeprägt, dass sie sein schelmisches Gesicht umschlossen wie ein goldener Bilderrahmen ein Pop-Art-Poster?

»Antworte mir, verdammt noch mal!« Er schlug neben meinem Kopf mit der Faust auf den Asphalt.

Seine geschwollenen Knöchel waren mittlerweile so groß wie Golfbälle. In letzter Zeit fluchte er manchmal, nicht schlimm, aber doch so, dass ich zusammenzuckte. Weil ich wusste, dass er mir niemals wehtun würde, blickte ich ihn unverwandt an. Er umklammerte seine verletzte Faust mit der anderen Hand, stieß einen frustrierten Schrei aus und drückte dann schwer atmend seine Stirn gegen meine. Wir waren beide außer Atem, unsere Brustkästen hoben und senkten sich in demselben Rhythmus.

»Warum?« Seine Stimme war jetzt ein sanftes Grollen. Er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde. Unsere Haare verflochten sich miteinander, seine kupferbraune Mähne vermischte sich mit meinen dunklen Locken. »Warum hast du das gemacht?«

Ich versuchte, meine Arme aus der Umklammerung seiner Beine zu lösen, um ihm in Gebärdensprache zu antworten, aber er schloss die Oberschenkel enger um meinen Körper und hielt mich fest.

»Nein«, knurrte er. »Rede mit mir. Du kannst es. Ich weiß, dass du es kannst. Mom und Dad haben es mir erzählt. Sag mir, warum du das getan hast.«

Ich öffnete den Mund, weil ich ihm die Frage beantworten wollte. Natürlich hatte er recht. Ich konnte sprechen, physisch gesehen jedenfalls. Ich wusste das, weil ich manchmal, wenn ich unter der Dusche oder irgendwo anders allein war, zu Übungszwecken Wörter wiederholte, die ich mochte. Nur um zu beweisen, dass ich es konnte, dass ich in der Lage war, sie laut auszusprechen, es aber vorzog, zu schweigen. Ich wiederholte die Wörter, und der Klang meiner eigenen Stimme ließ mir kleine Wonneschauer über den Rücken laufen.

Alte Bücher.

Frische Luft (vor allem, wenn es geregnet hatte).

Den Mond dabei beobachten, wie er mich beobachtet.

Seepferdchen.

Dad.

Edie.

Racer.

Knight.

Und jetzt verlangte Knight zum ersten Mal nach Worten aus meinem Mund. Ich wollte sie aussprechen. Mehr als das – ich wusste, dass er es verdient hatte, sie zu hören. Aber ich brachte kein Wort heraus. Mein Mund stand offen, und ich konnte nichts anderes denken als: Du bist also nicht nur blöd, du siehst auch noch so aus.

»Nun sag schon!« Knight schüttelte mich an den Schultern.

Der Hagel ging in leichten Regen über, und die Sicht wurde wieder besser. Seine Augen waren gerötet und sahen müde aus. So müde. Meinetwegen. Weil ich ständig in irgendwelche blöden Schwierigkeiten kam, aus denen er mich befreien musste.

Er dachte, ich hätte versucht, mir etwas anzutun. Hatte ich aber nicht. Ich klappte noch immer den Mund auf und zu wie ein Fisch, aber die Worte wollten nicht herauskommen. Ich versuchte, sie hinauszupressen, mein Herz raste und hämmerte gegen meinen Brustkasten.

»Äh … ich … äh …«

Knight stand auf, lief hin und her, fuhr sich mit den Händen durch das dichte nasse Haar und zog frustriert daran.

»Du bist so …« Er schüttelte den Kopf und ließ Wassertropfen durch die Gegend fliegen. »So …«

Ich stand auf und lief zu ihm. Den Rest des Satzes wollte ich nicht hören. Ich war nicht scharf darauf, herauszufinden, was er von mir dachte, denn wenn er glaubte, dass ich absichtlich gegen das Fahrzeug gefahren war, hielt er mich offensichtlich für noch verkorkster, als ich tatsächlich war.

Ich fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu mir. Er musterte mich mit finsterem Blick.

»Ich habe das Auto nicht gesehen, ich schwöre«, versicherte ich und schüttelte hektisch den Kopf.

»Du hättest sterben können!«, brüllte er mir ins Gesicht und schlug sich mit den vernarbten Knöcheln auf die Brust. »Ich hätte dich verlieren können.«

»Hast du aber nicht.« Mit Händen, Armen und Fingern versuchte ich ihn zu beruhigen.

Meine Lippen zitterten. Hier ging es um sehr viel mehr als nur um uns. Hier ging es auch um Rosie, seine Mutter. Knight mochte es nicht, wenn Leute verschwanden. Nicht einmal für ein paar Tage in eine Klinik, damit es ihnen wieder besser ging.

»Deinetwegen«, signalisierte ich. »Du hast mich gerettet.«

»Weißt du noch? Immer, wann immer, für immer, hast du gesagt. Was ist daraus geworden? Wo ist dein Teil der Abmachung?«

Er wiederholte das Versprechen, das ich ihm viele Jahre zuvor gegeben hatte. Seine Stimme klang verächtlich. Ich breitete die Arme aus, er kam einen Schritt auf mich zu, und wir wurden eins. Wir verschmolzen miteinander wie zwei unterschiedliche Farben, die zu etwas Echtem und Einzigartigem werden – ein Farbton, der nur uns zur Verfügung stand.

Knight vergrub sein Gesicht in meinem Haar. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie er das bei einer anderen tat. Trotz der Kälte wurde mir heiß.

Meiner.

Ich dachte es nicht nur. Meine Lippen bewegten sich und formten das Wort. Ich konnte es beinahe hören und umklammerte ihn noch fester.

»Alles oder nichts«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich wusste, dass er sein eigenes Versprechen meinte.

Ich wusste auch, wie unfair das war, denn ich war mir nicht sicher, ob ich in der Lage war, ihn zu retten, sollte das jemals nötig sein.

Als müsste jemand wie Knight jemals gerettet werden. Knight war ein normales Kind gewesen. Er sprach. Er war sportlich, aufgeschlossen und strahlte Selbstbewusstsein aus. Edie hatte gesagt, er sähe so gut aus, dass Rosie in der Shoppingmall von Model Scouts angehalten worden war, die ihr ihre Visitenkarten in die Hand gedrückt und sie angefleht hatten, ihn vertreten zu dürfen. Er war witzig und charmant und reicher, als man sich vorstellen konnte. Die Welt wartete darauf, von ihm erobert zu werden, und ich wusste, dass er sie eines Tages erobern würde.

In seinen Armen fing ich an zu weinen. Eigentlich war ich keine Heulsuse. Die wenigen Male, die ich seit Vals Verschwinden geweint hatte, ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Aber ich konnte nicht anders. Damals wusste ich, dass es kein Happy End für uns geben würde.

Knight hatte etwas Besseres verdient als ein Mädchen, das ihm nicht sagen konnte, was es empfand.

Er war perfekt, und ich war defekt.

»Versprich es mir.« Seine Lippen berührten meine Schläfe, und sein warmer Atem ließ meinen Körper erschauern.

Diese Schauer fühlten sich anders an – mein Unterleib schien sich mit flüssiger Lava zu füllen. Was sollte ich ihm noch mal versprechen?, fragte ich mich im Stillen. Ich nickte trotzdem, obwohl er seinen Satz noch nicht beendet hatte, denn ich wollte ihm gefallen. Meine Lippen bewegten sich. »Ich verspreche es. Ich verspreche es. Ich verspreche es.«

Vielleicht traute er mir deswegen nicht.

Vielleicht kam er deswegen in dieser Nacht in mein Zimmer geschlichen – und von da an jede Nacht, sechs Jahre lang –, nahm mich in die Arme und überzeugte sich, dass es mir wirklich gut ging.

Manchmal roch er nach Alkohol.

Und manchmal nach einem anderen Mädchen. Fruchtig, süß und … anders.

Oft roch er nach meinem Kummer.

Aber er überzeugte sich immer davon, dass ich in Sicherheit war.

Und er verschwand immer, ehe mein Vater an die Tür klopfte, um mich zu wecken.

In den folgenden sechs Jahren gab Knight mir immer einen Kuss auf die Stirn, ehe er zum Fenster hinaussprang. Auf dieselbe Stelle, auf die mir Dad wenig später den Gutenmorgenkuss drückte. Die Hitze von Knights Lippen lag immer noch auf meiner Haut und ließ mein Gesicht strahlen.

In der Schule hörte ich ihn dreist herumprahlen, und mit seinen witzigen Sprüchen brachte er die Mädchen dazu, ihre Vorsicht und ihre Höschen abzulegen. Er warf sein dichtes glänzendes Haar zurück und zeigte seine Grübchen und sein strahlend weißes Lächeln.

Es gab zwei Knight Coles.

Einer davon gehörte mir.

Der andere allen anderen.

Und obwohl er seine Freistunden mit mir verbrachte, mich ständig beschützte und wie eine Königin behandelte, wusste ich, dass er jedermanns König war und ich nur in einem kleinen Teil seines Lebens regierte.

Eines Nachts, als der Vollmond uns durch mein Fenster ins Gesicht starrte, küsste mein Knight die empfindliche Haut hinter meinem Ohr.

»Moonshine«, flüsterte er. »Du erfüllst den leeren, dunklen Raum, so wie der Mond den Himmel beherrscht. Er ist ruhig. Er ist hell. Er muss kein Feuerball sein, um bemerkt zu werden. Er ist einfach da. Er leuchtet bis in alle Ewigkeit.«

Von da an nannte er mich immer so. Moonshine.

Ich nannte ihn überhaupt nicht beim Namen, weil ich nicht sprach.

Vielleicht wusste er deshalb Jahre später so genau, dass ich gelogen hatte – und zwar durch Unterlassung. Er war nicht nichts. Er war mein Ein und Alles.