Über das Buch
In Stratus’ Seele brennt ein Verlangen, mächtig wie eine Feuersbrunst. Er muss denjenigen finden, der sein Leben zerstört hat. Stratus ist ein Drache, durch die Hand eines dunklen Magiers gefangen im Körper eines Menschen. Doch mit der Erinnerung an sein altes Leben kehren langsam auch seine Magie und seine alte Gestalt zurück. Und Stratus will Rache. Blutig und unerbittlich metzelt er sich durch Horden von Untoten zu seinem Erzfeind und kämpft dabei nicht nur für seine eigene Gerechtigkeit …
Über den Autor
Mark de Jager wurde in Südafrika geboren und wuchs dort auf. Heute lebt er in London, wo er im Finanzsektor arbeitet. Er ist leidenschaftlich engagiert in der Science-Fiction- und Fantasyszene, besucht regelmäßig Conventions und ist verheiratet mit der Autorin Liz de Jager, die ihrerseits eine erfolgreiche Fantasy-Autorin ist.
MARK DE JAGER
BLUTHIMMEL
ROMAN
Aus dem Englischen von
Michael Krug
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Mark de Jager
Titel der englischen Originalausgabe: »Firesky«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Einband-/Umschlagmotiv: © Shutterstock: Refluo;
© Getty Images: Rafi nade | ArminStautBerlin
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7831-3
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Mein Vater ist gestern gestorben. Er war ein großer Gelehrter und auch ein Krieger. Einst marschierte und stritt er an der Seite der Schlachtenkönige. Er setzte seine Macht so ein wie sie ihre sterngeschmiedeten Schwerter und metzelte Kreaturen, die eines Tages zu Legenden und Mythen werden sollten. Seine Hand verfasste den ersten Codex der Macht, seine Lehren führten mich auf deren Pfad.
Er war der großartigste Mann, den ich kannte und wahrscheinlich je kennen werde, und gestern sah ich zu, wie er in seinem eigenen Dreck starb, die Hände, die einst die Wirklichkeit zu beugen vermochten, krumm und knorrig.
Als die Sonne unterging, zündete ich seinen Scheiterhaufen mit der Magie an, die er mir geschenkt hatte, und beobachtete, wie sich sein Fleisch in Asche und Glut verwandelte. Seine Gefolgsleute weinten, die Barden sangen Klagelieder, als Funken hoch in die Nacht aufstiegen. Die Priester hielten indes ihre großen Rituale ab und versicherten mir mit weichen Händen und sanften Stimmen, seine Seele habe den Weg zu den Göttern gefunden.
Zweifellos verwechselten sie mein Schweigen mit Trauer, doch sie hatten bei mir gesessen und mit mir zugesehen, wie ihm die Zeit sowohl den Verstand als auch das Leben geraubt hatte. In seinen letzten Augenblicken der Klarheit bettelte er um Erlösung, und ich gewährte sie ihm. Und mittlerweile war mein Vater nicht mehr, denn der Tod hatte jeden Teil von ihm bedeutungslos werden lassen.
Der Tod.
Er beherrscht unser Leben, greift unverfroren darin ein. Sogar jetzt spüre ich, wie sich die heimtückischen Finger seiner Dienerin, der Zeit, um mein Herz schließen. Wann werden sie zudrücken und all meine Träume und Errungenschaften in das Feuer der Vergessenheit werfen?
Die persönlichen Annalen von Tiberius Talgoth, Erzmagier
Tatyana hörte auf, an den Schnallen der Rüstung zu fingern, die sie soeben dem Wachmann abgenommen hatte, den ich töten musste, um sie zu retten. Mit großen Augen glotzte sie mich an.
»Du bist ein Drache?«
»Ja.« Ich stand so aufrecht und stramm, wie es mir mein derzeit menschlicher Körper gestattete.
»Ein waschechter, feuerspeiender Drache?«
»Eigentlich ist es eher ein Spucken«, stellte ich richtig. Allmählich beschlich mich der Verdacht, es könnte voreilig gewesen sein, ihr die Wahrheit anzuvertrauen. Aber ich glaube, wenn ich es nicht ihr erzählt hätte, wäre ich vielleicht aufs Dach hinaufgestiegen und hätte es auf die Stadt hinuntergebrüllt. Manche Geheimnisse bettelten darum, zumindest einmal erzählt zu werden. Seit ich Tatyana mein Geheimnis preisgegeben hatte, stand sie nur wie angewurzelt da und versuchte wiederholt, die immer selbe Schnalle zuzuziehen. Dabei sah sie aus, als erwarte sie, jeden Moment aus einem Traum zu erwachen.
Erneut schüttelte sie den Kopf. »Nein. Nein, das ist nicht möglich.«
Ich nahm ihr die Schnalle ab und fädelte den Riemen so hindurch, wie sie es bei den anderen gemacht hatte. »Ich versichere dir, das ist es doch.«
Tatyana berührte die nackte Haut meines Arms. Ihre Hand wirkte neben meiner Schwärze so bleich wie ein Knochen. »Du kannst es nicht sein. Der Todeswind ist nur eine Legende.«
Ich spürte, wie mir ein ungewisser, kribbelnder Schauder über den Rücken lief, als sie jenen längst vergessenen Teil meines Namens laut aussprach. Einst war ich als Stratus Himmelsfeuer, der Todeswind, der Zerstörer bekannt gewesen. Ich spürte, wie das alte Feuer in meinen Augen aufflammte. Tatyana schnappte bei dem Anblick nach Luft und holte mich zurück in die Gegenwart.
Ich schloss die Augen, bis sich das Kribbeln legte, dann holte ich zur Beruhigung tief Luft. »Meine Antwort wird sich nicht ändern, nur weil du immer wieder dieselbe Frage stellst. Jetzt muss ich Fronsac finden. Der Zauberer weiß …«
»Stratus, warte.« Sie packte mich am Arm, als ich mich abwandte.
Ich hielt inne und biss die Zähne zusammen, um mir eine scharfe Erwiderung zu verkneifen. Diesmal schrak sie nicht vor meinem Blick zurück. Stattdessen rieb sie sich die Hände, als wäre ihr kalt, und trat von einem Bein aufs andere.
»Bitte. Ist das … war das wahr? Was du mir gezeigt hast?«
Ohne es bewusst zu versuchen, konnte ich hören, wie ihr Herz raste, und als ich daran dachte, nahm ich den sauren Beigeschmack von Angst in ihrem Geruch wahr. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihr einen flüchtigen Blick auf mein altes Ich, mein wahres Ich zu gewähren. Doch wie bei den meisten Menschen, galt auch bei ihr: Was sie nicht sahen, das glaubten sie nicht. Und anscheinend genügte manchmal nicht einmal das.
»Ich würde dich nicht belügen«, log ich sie an. »Ich bin der Todeswind.«
»Aber …« Vage deutete sie in meine Richtung.
Mir widerstrebte die Verzögerung. Fronsacs Geruch wurde nicht frischer, und je eher ich meine Angelegenheiten mit ihm zu Ende gebracht hatte, desto eher konnte ich die Stadt, die Dächer, die Mauern und die lästigen Regeln der Menschen hinter mir lassen.
»Genug davon. Du redest wirr daher.« Sie zuckte zusammen, als ich einen Schritt auf sie zuging. Das kränkte mich, zumal ich ihr gerade das Leben gerettet hatte, und das nicht zum ersten Mal. »Warum ist die Wahrheit schwerer zu glauben als die Idee, dass ich eine infernale Schöpfung sei?«
»Das habe ich nicht geglaubt«, rechtfertigte sie sich.
Ich hörte, wie ihr Herzschlag an der Stelle leicht aussetzte, nur ein Flüstern, das ich vermutlich nicht wahrgenommen hätte, wenn mir der Takt ihres Herzens nicht mittlerweile so vertraut gewesen wäre.
»Du verlangst von mir, nicht zu lügen, doch dann tust du es selbst. So gehen Freunde nicht miteinander um, Tatyana Henkman.« Ich legte keine Macht in ihren Namen, dennoch konnte ich fühlen, wie die in ihr verwurzelte Hexenkunst reagierte.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, dann jedoch schloss sie ihn wieder und schlang nur die Arme um sich. Die Versuchung, in ihren Geist zu blicken, war stark, aber ich widerstand und verschränkte stattdessen die Arme vor der Brust.
»Verrate mir, was ich noch sagen oder tun kann, um dich zu überzeugen.«
Zunächst erwiderte sie nichts, starrte mich nur an, als sähe sie mich zum ersten Mal.
»Deine Flügel«, platzte sie heraus, als ich mich abwandte. »Wo sind deine Flügel? Und wo ist dein Schwanz?« Sie holte tief Luft. »Dämonen kann ich verstehen, über die kursieren viele Geschichten. Aber ein Drache? Das ist einfach nicht möglich. Ich meine, wie denn auch? Ich weiß schon, es ist Magie im Spiel und all das, aber du bist zu klein.«
Drei Bedienstete, die stehengeblieben waren und uns anglotzten, eilten rasch weiter, als ich in ihre Richtung schaute, und sie tuschelten aufgeregt untereinander.
»Meine Flügel sind in mir drin.« Ich hob die Hand, als sie erneut den Mund öffnete. »Der Bann, der mich an diese Gestalt bindet, hätte mich beinah umgebracht, als ich mich damit belegte. Ich will nicht deine oder meine Zeit mit dem Versuch verschwenden, ihn dir zu erklären. Also sage ich nur, dass sich mein Leib an meine Flügel erinnert wie ein Samenkorn, das in sich die Erinnerung an die mächtige Eiche trägt, zu der es eines Tages werden wird.«
»Aber warum bist du immer noch ein Mensch?« Sie zeigte auf mich, als wäre ich mir nicht qualvoll des Körpers bewusst, in dem ich steckte.
»Das bin ich nicht freiwillig. Es ist …«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Kompliziert?«
»Genau«, bestätigte ich erleichtert. »Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für den Versuch, es dir zu erklären.«
Darüber legte sie die Stirn in Falten, und ich nutzte den Moment, um mich wieder in Bewegung zu setzen. Nach einer kurzen Pause hörte ich, wie sie mir folgte. Eine Weile gingen wir einigermaßen schweigend. Einigermaßen, weil ich sie bei sich murmeln hörte, aber zum Glück schien sie die Fragen vorerst aufgebraucht zu haben.
Die Spuren von Fronsacs Magie ließen sich einfacher verfolgen als sein Geruch. So konnte ich mich in Gedanken besser darauf vorbereiten, wie ich mich ihm offenbaren sollte. Jedenfalls bis Tatyana wieder das Wort ergriff und meine Grübeleien unterbrach.
»Und wie willst du das handhaben? Ich meine, wird Fronsac es wissen?«
»Was wissen?«
Sie beschleunigte die Schritte, bis sie sich auf meiner Höhe befand. »Dass du ein verfluchter Drache bist.«
»Nein. Wieso sollte er?«
»Na ja, immerhin ist er der beste Zauberer, den wir haben, oder?« Sie schwenkte die Hände in meine Richtung. »Du bist doch derjenige mit dem magischen singenden Regenbogen. Woran merkst du, ob jemand ein Zauberer ist?«
Unwillkürlich lächelte ich über ihre Beschreibung der Liedlinien. Ich hatte mir große Mühe dabei gegeben, ihr zu erklären, wie die Ströme der Magie die Wiege der Welt bildeten, doch ihre Aufmerksamkeitsspanne war der Herausforderung eindeutig nicht gewachsen gewesen.
»In der Regel rieche ich es an ihnen wie ein verbranntes Gewürz. Oder ich nehme wahr, wie sich die Macht in ihnen bündelt.« Ich ging langsamer, um ihr das würdelose Gehopse zu ersparen, zu dem sie gezwungen war, um mit mir Schritt zu halten. »Um zu erkennen, wer und was ich in Wahrheit bin, müsste er weit mehr tun, als er bisher getan hat. Zweifellos spürt er, dass an mir etwas Unmenschliches ist, aber ich vermute, er hält es zumindest vorläufig für eine Eigenart meiner Hexenkunst.«
»Und wirst du es ihm sagen?«
Die Vorstellung eines Zauberers, der wusste, was ich war, jagte mir einen unangenehmen Schauder über den Rücken, auch wenn es sich in diesem Fall um einen vergleichsweise freundlichen Zauberer handelte. Die Qualen, die mir der Letzte, den ich kennengelernt hatte, durch Navar Louw angedeihen ließ, waren nicht leicht zu vergessen. Mittlerweile empfand ich seinen Namen als Fluch, und ich ballte beim bloßen Gedanken an ihn die Hände zu Fäusten. Ich hatte geschworen, ihn zu töten. Und mir auszumalen, auf welch sagenhaft brutale Weise ich das tun würde, war mein liebster Zeitvertreib in den bedauernswert seltenen Augenblicken geworden, die ich für mich allein hatte.
»Stratus?«
»Was?« Ich fauchte ihr das Wort förmlich entgegen, weil Tatyana mich aus meiner Gedankenverlorenheit aufschreckte. »Entschuldige. Ich habe keine angenehmen Erinnerungen an Zauberer.«
Die Spur, der ich folgte, führte uns einen Korridor entlang. Er endete in einer kleinen Kammer mit einer wunderschönen Doppeltür. Die beiden Flügel bestanden beinah gänzlich aus bunten Glasteilen, die das zwar ansprechende, aber etwas absonderliche Bild eines Mannes mit brennendem Kopf auf einem Pferd bildeten. Hinter den Türen konnte ich die Schemen mindestens eines Dutzends bewaffneter Männer ausmachen, und wenngleich sie im Augenblick nicht sonderlich aufgeregt zu sein schienen, wusste ich, dass nicht viel nötig war, um ihre simplen Geister in Gewaltbereitschaft zu versetzen.
»Warte, Stratus.« Tatyana zog an meinem Arm, als ich dazu ansetzte, die Tür zu öffnen. »Langsam. Warum hast du uns hierhergeführt?«
Ich spähte durch das Glas auf die Umrisse der Männer im Raum dahinter und zuckte mit den Schultern. Für mich sahen sie beliebig aus. »Fronsac ist irgendwo in der Nähe, irgendwo hinter dieser Tür.«
»Dieser Gang führt zu Jeans persönlichen Gemächern. Das sind seine Leibwächter. Ohne eine Einladung seinerseits werden sie niemanden vorbeilassen.«
»Nicht einmal dich, die vereidigte Schwertkämpferin von Prinz Lucien?«
Darüber schnaubte sie, erwiderte jedoch nichts. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt. Ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass sie angestrengt über etwas nachdachte. Ich hatte kein Problem damit, mir den Weg in seine Gemächer zu erkämpfen, wenn es sein musste. Allerdings wäre es zweifellos einfacher, wenn ich dafür nicht mein Feuer einsetzen müsste.
»Ich will etwas versuchen«, kündigte sie an und zog an ihrer geliehenen Rüstung. »Tu gar nichts. Folg nur meinem Beispiel.«
»Dann würde ich ja aber doch etwas tun.«
»Bei den Göttern, nicht jetzt, Stratus.«
Damit zog sie die Glastüren auf und betrat den Gang dahinter. Kaum hatte sie einen Schritt gemacht, wurde ihr auch schon der Weg versperrt.
»Stehengeblieben, meine Dame«, sagte einer der Männer. »Erwartet Euch Prinz Jean?«
Ich trat in den Gang, und obwohl ich mich friedlich verhielt, reagierten die Wachleute wie von Taranteln gestochen. Sie schraken vor mir zurück und legten die Hände auf die Knäufe ihrer Schwerter.
»Ruhig, meine Herren«, ergriff Tatyana lächelnd das Wort. Einige Herzschläge lang sah es tatsächlich so aus, als könne ihr Plan aufgehen. Allerdings hatten wir beide eine Kleinigkeit nicht bedacht: Irgendwo im Labyrinth des Palasts hinter uns hatten sich die Paladine, die ich auf dem Weg zu Tatyanas Rettung in ihrer eigenen Unterkunft eingesperrt hatte, den Weg durch die Tür gehackt. Und just in diesem Augenblick läuteten sie alle verfügbaren Glocken und ließen jedes Horn erschallen, das sie in die Hände bekamen.
Die Wachleute erstarrten, als uns der volltönende Chor der Hörner erreichte. Der Mann, der mit Tatyana gesprochen hatte, reagierte als Erster, indem er von ihr zurückwich und die Hand hob.
»Ich fürchte, ihr beide müsst gehen. Bis ich weiß, was los ist, kommt hier niemand rein oder raus.«
Ich beugte mich dicht zu Tatyana und hielt ihr mit einer Hand die Augen zu. Bei meiner Berührung zuckte sie zusammen, aber ich drückte sie so fest an mich, dass sie sich nicht rühren konnte, während ich mich an den Wächter wandte, der gesprochen hatte.
»Entschuldigung«, sagte ich. »Das ist weder persönlich noch dauerhaft.«
Er starrte mich mit der Hand auf dem Griff seines Schwertes an, und sogar ich erkannte den Ausdruck in seinem Gesicht als Verwirrung. Ich schloss die Augen und entfesselte den Lichtzauber, den ich zurückgehalten hatte. Ich fügte ihm keine Hitze hinzu, daher ging ich aufrichtig davon aus, dass ihr Sehvermögen zurückkehren würde. Dennoch fand ich es unnötig, ein Wagnis für meine eigene Sicht einzugehen. Das pulsierende magische Licht manifestierte sich über meinem Kopf und erstrahlte kurz wie eine kleine, stumme Sonne, bevor es flackernd verlosch. Als ich Tatyana losließ, stieß sie sich von mir ab.
»Was machst du denn da?« Sie verstummte, als die Wachleute zu brüllen anfingen und an ihren Gesichtern krallten. »Bei Gottes Bart, ich hab dir doch gesagt, du sollst nichts tun!«
»Dein Versuch war so nützlich wie ein Ziegenohr.«
»Wie bitte?«
»Ist eine alte Redewendung. Komm mit«, forderte ich sie auf und drängte mich durch die taumelnden Wachleute. Einer klammerte sich an meinem Bein fest, doch ich schüttelte ihn mühelos ab.
Fronsacs Geruch wurde stärker, sobald wir die Wachen hinter uns gelassen hatten. Zum Glück steckte er ganz in der Nähe, und ich schenkte Tatyana ein ermutigendes Lächeln, als ich an die Tür klopfte. Der Zauberer öffnete fast sofort, daher blieb ihr keine Zeit, Einspruch zu erheben.
»Ich dachte mir schon, dass ich deine Hexenkunst gespürt habe«, sagte er. »Bei den Sternen, was geht hier vor?«
»Nichts Schlimmes«, beruhigte ich ihn. »Ich habe Tatyana gefunden.«
Einige Augenblicke lang beobachtete er die Männer im Gang, dann trat er beiseite. »Ja, das hast du. Kommt schnell herein.«
*
Jeans Gemächer erwiesen sich als geräumiger, als es die von Lucien gewesen waren, und das nicht nur, weil hier die überfüllten Tische fehlten. Im Hauptraum stand eine Reihe von Sesseln, die alle gemütlich genug aussahen, um darin zu schlafen, um einen einzigen langen Tisch mit Schalen voll Obst und Brot und mit mehreren Weinflaschen angeordnet. Der strenge Geruch von Männern herrschte vor, doch dazwischen befanden sich weit angenehmere Untertöne von süßen Rosinen und Blumen, wodurch der Gesamteindruck einigermaßen erträglich wurde.
Jean saß auf dem größten der Sessel und beobachtete uns mit einem Kelch in den tintenfleckigen Fingern und einer Menge Papier auf dem Schoß. Hinter ihm stand ein blasser, muskelbepackter Mann, den ich nicht kannte. Seine Hände ruhten auf den Knochengriffen der zwei Schwerter an seinem Gürtel.
»Hoheit«, meldete sich Tatyana hinter mir. Sie bohrte mir einen Finger in den Rücken, und ich neigte das Haupt, wenn auch nur, um einen Wutausbruch ihrerseits zu verhindern.
»Meneer Stratus«, sagte der Prinz, stellte den Kelch ab und nickte Tatyana zu. »Der Zauberer hat gerade von dir gesprochen.« Er deutete mit dem Kopf zur Tür und dem gedämpften Glockengeläut. »Ich vermute, eine Menge Menschen reden gerade über dich, und wahrscheinlich nicht in allzu freundlichem Ton.«
»Mein Prinz, dürfte ich …«, setzte Fronsac an, aber Jean hob die Hand, und der Zauberer verstummte wie abgeschnitten.
»Nein«, kam von Jean. »Ich will, dass er es mir sagt. Dass er es mir so zeigt, wie er es dir gezeigt hat.«
»Mein Prinz, das ist, um es äußerst milde auszudrücken, ausgesprochen unüblich.«
»Er hat dir doch sein Wort gegeben, oder?«
Ich lächelte, als Fronsac zu mir herüberschaute. Prinz Jean entpuppte sich als interessanter, als mein erster Eindruck von ihm nahegelegt hatte. Ich hatte Fronsac tatsächlich mein Wort gegeben, dass ich ihm beistehen und Navar Louw vernichten würde, den sogenannten Herrn der Würmer und meinen früheren Besitzer. An sich hielt ich es für gefährlich, einem begabten Zauberer wie Fronsac etwas Derartiges anzubieten. Aber Navar zu töten, hatte für mich ohnehin Vorrang vor allem anderen.
»Ich habe mein Wort aufrichtig gegeben und bin daran gebunden«, beteuerte ich den beiden. »Und ich denke nicht, dass unsere Feinde warten werden, während ich die Geschichte zum Besten gebe.«
»Zeit ist im Augenblick für uns alle Mangelware«, gab mir der Prinz recht.
Der Mann mit den Schwertern hinter ihm beobachtete mich aufmerksam, als ich mir einen Sessel heranzog und mich vor den Prinzen setzte, der mich noch aufmerksamer beobachtete. In seinem Geruch lag etwas, das an Angst erinnerte, auch sein Herzschlag beschleunigte sich, und ich fragte mich unwillkürlich, ob er die Andersartigkeit in mir so wie Fronsac spüren konnte. Es wäre töricht von mir gewesen, zu glauben, der Zauberer würde mich nicht in diesem Augenblick unscheinbar abtasten und nach Hinweisen darauf suchen, was sich an mir verändert hatte. Aber vermutlich bemerkte ich den Moment, wenn er es entdeckte.
Während ich meine Gedanken sammelte, bedachte ich Jean mit einem unverbindlichen Lächeln. Welche Geheimnisse verbargen sich in seinem Kopf? Wenn ich es wüsste, würde ich dann bereuen, dass ich versprochen hatte, den Nachkommen derer zu helfen, die einst ihre Armeen auf mich gehetzt und mich meine einzige Liebe gekostet hatten?
»Was muss ich tun?«, fragte Jean und riss mich damit aus meinen Überlegungen. Er legte die Dokumente beiseite.
»Seht mir einfach in die Augen.«
»Darf ich blinzeln?« Ich lächelte, weil mir Tatyana dieselbe Frage gestellt hatte, und ich verkniff es mir, zu erwidern, dass etwas Schreckliches geschehen würde, wenn er es täte.
»Natürlich.« Ich spreizte leicht die Beine und stützte die Ellbogen auf die Knie, sodass sich mein Gesicht auf derselben Höhe wie seines befand. Dann erweckte ich meine Hexenkunst. Ich konnte fühlen, wie uns Fronsacs Magie umwirbelte, als er die Zauber beeinflusste, mit denen er Jeans Geist schützte. Sie verlagerten sich wie die Teile eines Zauberwürfels, doch es vollzog sich zu verschachtelt und zu schnell, als dass ich dem Ablauf hätte folgen können. Ich wartete, bis ich spürte, wie der Druck nachließ, dann sah ich tief in Jeans helle Augen.
Ein von den Schutzzaubern ausgehender Restwiderstand war zwar geblieben, aber den konnte ich mühelos überwinden. Jean schauderte, als sich unsere Geister in einem Gewirr aus Bildern und losen Gedanken verbanden. Kurz dauerte das Chaos an, dann übte ich Einfluss aus und zog ihn in meine Erinnerungen.
Genau wie Fronsac ließ ich auch ihn beobachten, was ich gesehen hatte. Von meiner ursprünglichen Entdeckung der unter der Sepulkralkirche von Sankt Tomas versteckten, verzauberten Leichen über die Schlachten, die Tatyana und ich gegen die Toten in den Katakomben geschlagen hatten, bis hin zu meinem Aufeinanderprall mit Kardinal Polsson, dem verkommenen Anführer der Paladine, auf die sich die Stadt zu ihrer Verteidigung verließ. Wie bei Fronsac achtete ich darauf, die Wahrheit darüber zu unterdrücken, wer und was ich war.
Ich konnte die Verblüffung und die Wut spüren, die sich angesichts der Wahrheit über Polssons Verrat in Jean regten. Und während er zu verdauen versuchte, was ich ihm gezeigt hatte, nutzte ich die Gelegenheit, um auch in seinen Geist zu blicken, denn ich bezweifelte, dass sich in absehbarer Zeit eine weitere Möglichkeit bot. Da die Zeit nicht reichen würde, um meine Gedanken an den seinen auszurichten, musste ich mich mit einer allgemeineren Herangehensweise begnügen, ähnlich wie bei Kräh, dem freundlichen alten Kesselflicker, den ich auf der Straße nach Falkenburg kennengelernt hatte. Ich würde die Gedanken und Erinnerungen später durchsehen, wenn ich allein war und Zeit hatte.
Behutsam koppelte ich mich von seinem Geist ab und ließ die Verbindung verblassen, bevor ich mich zurücklehnte. Jeans Knöchel traten weiß hervor, als er die Armlehnen des Sessels umklammerte und den Kopf schüttelte.
»Das …« Mit zittriger Hand griff er nach seinem Kelch und trank einen ausgiebigen Schluck von dem darin verbliebenen Wein. »Das war mit nichts vergleichbar, was ich je erlebt habe.« Er schaute zu Fronsac, der in der Nähe stand. »Ist Hellsicht so ähnlich?«
»Nein, mein Prinz«, antwortete Fronsac. »Hellsicht ist weniger persönlich, mehr wie die Sicht eines in der Luft fliegenden Vogels.«
Der Prinz trank einen weiteren Schluck Wein, bevor er sich zurücklehnte und mich anstarrte. Eine Weile verharrten wir so. Dann schlemmte ich mich durch die nächstbeste Obstschale. Er musterte mich immer noch eindringlich, die Fingerspitzen unter dem Doppelkinn aneinandergelegt. Fronsac begnügte sich damit, nur dazustehen. Tatyana vertrieb sich die Zeit, indem sie unruhig auf und ab lief und bei jeder Kehrtwende laut seufzte. Ich empfand es als Erleichterung, als Jean die Hände schließlich sinken ließ und sich räusperte.
»Du sollst wissen, dass ich alles zu schätzen weiß, was du für uns getan hast. Mir ist noch nicht ansatzweise das volle Ausmaß des Schadens klar, den Polsson angerichtet hat, aber mir ist sehr wohl bewusst, dass er ohne dich sehr viel schlimmer ausgefallen wäre.«
Ich wollte ihm gerade danken, als ich spürte, wie sich Tatyanas Herzschlag beschleunigte.
»Ungeachtet dieser Dankbarkeit bringst du mich in eine schwierige Lage. Wir befinden uns im Krieg, Meneer Stratus, und die Gesetze dieses Königreichs sind eindeutig. Sie verlangen deinen Tod.«
Tatyana schnappte nur nach Luft, aber ich sprang auf, stieß meinen Sessel nach hinten und ballte die Hände zu Fäusten.
»Hoheit, bitte, das könnt Ihr nicht tun!« Tatyanas Schwert blieb in der Scheide, als sie auf ein Knie sank.
Ich führte meinem Feuergebilde und dem Windgebilde etwas Macht zu, so dass ich beide mit einem einzigen Gedanken entfesseln konnte. Fronsac musste es wahrgenommen haben, denn ich spürte, wie auch seine Magie flackernd zum Leben erwachte. Seine plötzlich mit Energie unterfütterten Zauber ließen die Luft um ihn schimmern wie Öl auf Wasser.
Falls Jean in irgendeiner Weise bewusst war, wie kurz davor er stand, verbrannt zu werden, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen gab er nur seinem Leibwächter mit der Hand ein Zeichen. Der steckte das verheerend aussehende Schwert genauso schnell zurück in die Scheide, wie er es gezogen hatte.
»Setz dich«, verlangte er von mir. Seine Stimme nahm den harten Klang an, den er beim Kriegsrat verwendet hatte. Das gefiel mir zwar nicht, aber ich hakte einen Finger meiner Hexenkunst unter meinen umgekippten Sessel und zog ihn zurück zu mir. Tatyana hatte inzwischen ebenfalls Platz genommen und kauerte am Rand ihres Sitzes. Ihr Herz schlug immer noch einen Trommelwirbel, und Anspannung durchwirkte ihren Geruch. Ich schaute zu Fronsac, während seine Zauber trüber wurden; auch er beobachtete mich. Das Grün seiner Augen funkelte vor gebündelter Energie.
»Hast du eigentlich eine Ahnung, was du getan hast?«, herrschte Jean mich an und löste meine Aufmerksamkeit von dem Zauberer. Er verstummte nicht lang genug, um Tatyana oder mir eine Erwiderung zu ermöglichen. »Du hast gestanden, dass du ein Totenbeschwörer bist. Du hast den Befehlshaber meiner Armee umgebracht, sein halbes Lager niedergebrannt und nun am Vorabend der Schlacht die Kirche angegriffen. Dabei hast du Drogah weiß wie viele der heiligen Ritter getötet, ganz zu schweigen von ihrem geistlichen Anführer. Und den Glocken nach vermute ich, dass du auf dem Weg zurück zu mir noch mehr Schaden angerichtet hast, richtig?«
»Sie haben Tatyana gefoltert. Das konnte ich nicht zulassen.«
»Ich fasse das als Ja auf. Hast du auch nur die entfernteste Vorstellung, wie es für mich aussieht, dass ich dich ins Vertrauen gezogen habe? Die Wachen draußen fragen sich in diesem Augenblick, warum ich ihnen nicht längst befohlen habe, dich in Eisen hinauszuschleppen.«
»Er hat die Wachen außer Gefecht gesetzt«, warf Fronsac hilfreich ein.
»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte ich. »Ihr kennt die Wahrheit.«
»Was es für eine Rolle spielt?« Jeans Stimme ertönte mit der Wucht eines Peitschenhiebs, und er umklammerte den Rand des Tisches. »Was es für eine Rolle spielt? Bist du ein Schwachkopf?«
Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem verächtlichen Ausdruck verzogen. War das sein Dank für alles, was ich getan hatte, für all das von mir vergossene Blut?
»Undankbarer Wicht.«
Jean zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, und einen Moment lang trat solche Stille ein, dass ich das leise Summen der Fruchtfliegen um die Obstschalen hören konnte.
»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden?« Trotz der Wut, die in seinem Geruch lag, ertönte Jeans Stimme leise, und der Leibwächter hinter ihm legte wieder die Hand auf sein Schwert.
Ich schaute zu dem blassen Mann auf. Bestimmt war er schnell, aber ich war zuversichtlich, dass meine Gedanken noch schneller wären. »Wenn du das Schwert ziehst, brenne ich dir das Fleisch von den Knochen.«
»Hoheit«, ergriff Fronsac das Wort und trat zwischen uns. »Stratus. Friede, ich bitte euch.«
»Ich werde nicht hier sitzen und so mit mir reden lassen – nicht von ihm«, fauchte Jean. »Von niemandem.«
»Selbstverständlich nicht, Hoheit, und er wird Euch um Verzeihung bitten.« Fronsac spähte bei den Worten zu mir. »Die Nacht war nervenaufreibend und von seltsamer Magie erfüllt. Ich fürchte, das hat sowohl den Stolz als auch das Gemüt entflammt. Ich bitte Euch, lasst uns nicht die Heerscharen der Feinde auffüllen, mit denen wir ohnehin bereits konfrontiert sind.«
»In Fronsacs Worten liegt Weisheit«, merkte ich an. »Ich schlage vor, Ihr hört auf ihn.«
Jean erwiderte nichts, sondern knirschte mit den Zähnen und starrte mich mit einem Blick an, den er wohl für bedrohlich hielt.
Der Zauberer wandte sich an mich. »Was mein Prinz gemeint hat, ist, dass du ihn in eine missliche Lage brachtest. Denn wenngleich er deine Dienste schätzt, so hat er doch keinerlei Beweis für Kardinal Polssons Untaten, wenn der oberste Seneschall des Ordens in Kürze durch diese Tür kommt.«
»Der Kardinal war ein Handlanger des Herrn der Würmer«, gab ich zurück.
»Das verstehe ich ebenso wie mein Prinz, aber wo ist der Beweis?«
»Ich habe euch den Beweis gezeigt, den ihr braucht.«
Fronsac schüttelte den Kopf. »Der Orden wird deine Magie nicht als Beweis anerkennen, also was willst du stattdessen vorweisen? Du hast nichts, was der Orden akzeptieren wird.«
»Was, wenn du die Leichen untersuchst und ihnen die Würmer zeigst?«, schlug Tatyana vor.
»Auch das wäre alles ein Ergebnis von Magie. Was immer sonst Polsson getan haben mag, er hat sichergestellt, dass Zauberer und Kirche nie wieder Seite an Seite stehen werden. Also noch einmal: Ihr könnt euch nicht auf Magie verlassen, um dem Orden euren Fall vorzutragen.«
Ich sah Jean an. »Ihr seid der Prinz, der älteste Sohn des Königs, Ihr stammt von der Linie Krams höchstpersönlich ab. Könnt Ihr nicht über sie befehlen?«
Jean warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. Er lachte! Ich spürte, wie die Wut in mir erneut Funken schlug, doch Tatyana ergriff hinter mir das Wort und lenkte mich ab, bevor aus der Glut eine Feuersbrunst werden konnte.
»Wer oder was ist Kram?«
Fronsac antwortete für mich. Zum Glück, denn ich selbst konnte mich nur verschwommen an jemanden erinnern, der den Besuch eines Königs ankündigte, indem er all dessen imposant klingende Titel herunterleierte.
»Kram war ein heidnischer Kriegsgott aus dem Götterhimmel vom Anbeginn der Zeit. Angeblich wandelte er in Gestalt eines weiblichen Avatars namens Sturm die Botin auf der Welt.«
»Und schon mag ich ihn«, sagte Tatyana.
»Das ist äußerst beeindruckend, Fronsac«, lobte ich und war tatsächlich beeindruckt.
Er tat so, als lüpfe er einen Hut. »Ich wäre kein rechter Zauberer, wenn ich Leute nicht mit unbekanntem Wissen blenden könnte.«
»Ja, wir sind alle begeistert, Fronsac«, meldete sich Jean zu Wort. »Nur ändert das nichts. Und was das Befehligen der Paladine angeht: Das würde ich mit Freuden tun, wenn ich dadurch nicht gegen mindestens sechs uralte Gesetze und vier ähnlich alte und wirklich geschickt formulierte Verträge verstieße. Womit wir nach wie vor dort sind, wo wir angefangen haben, nämlich bei der Tatsache, dass ich verpflichtet bin, euch beide wegen Hochverrats verhaften und hinrichten zu lassen.«
»Niemand richtet uns hin«, warnte ich knurrend. Zwar legte ich keine Hexenkunst in meine Worte, doch die Stimme, mit der ich sprach, war älter als diese Stadt, und ihr Klang weckte die verborgensten Teile ihrer Gehirne auf, jene Teile, die sie daran erinnerten, die Dunkelheit zu fürchten.
Jean erbleichte und schrak auf seinem Sitz zurück. Sein Leibwächter umklammerte mit plötzlich linkischen Händen sein Schwert. Hinter mir stockte Tatyana der Atem, und sogar Fronsac wich einen Schritt zurück und wusste vermutlich nicht recht, wie er auf eine nicht magische Bedrohung reagieren sollte.
»Ich unterbreite dir einen Vorschlag«, sagte Jean. Einen Moment lang hörte sich seine Stimme brüchig an, bevor sie zu ihrer üblichen Stärke zurückfand.
Erregung durchströmte mich, als ich die Reaktionen der Menschen um mich herum beobachtete. Ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlte, gefürchtet zu werden. Und vermutlich entschied ich aus diesem Grund, Fronsac auf die Probe zu stellen. Weil ich es so lange nicht gespürt hatte. Ich stemmte meinen Willen gegen die Berührung der Schutzbanne, in die er mich wie in hauchdünne Vorhänge aus Licht gehüllt hatte, und ich spürte, wie sie sich festigten, als ich versuchte, sie abzustreifen. Sie verwandelten sich in scharfe Klingen, die meine Energie in bedeutungslose Scheibchen schnitten, dann zogen sie sich um mich zusammen wie die großen Baumschlangen im fernen Süden, und ihre unsichtbaren Schneiden waren nur einen Gedanken davon entfernt, mich zu zerstückeln.
»Tu das nicht, mein Freund«, warnte er mich, doch seine Worte schürten den in mir schwelenden Ärger nur. Er war nicht der erste Zauberer, der mich zu binden und gefangen zu nehmen versuchte, und wenngleich ich wusste, dass er es ohne Arg tat, hätte ich in jenem Augenblick nichts lieber getan, als ihm das Herz aus der schmalen Brust zu reißen.
Eine kühle Hand senkte sich auf meinen Arm. Der kleine Funke roher Hexenkunst, der zwischen uns flackerte, ließ mich wissen, dass es Tatyana war, noch bevor sie mich berührte. Ich stieß den angehaltenen Atem aus, und damit legte sich auch der in mir hochkochende Zorn.
»Verzeih mir«, entschuldigte ich mich und drehte mich kurz Fronsac zu. »Meine Neugier ist ein garstig Ding.« Ich lehnte mich zurück und bedachte Jean mit einem breiten Lächeln. »Wie lautet Euer Vorschlag?«
»Mit deinem Mangel an Respekt tust du dir keinen Gefallen, Zauberer.«
Ich öffnete den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass ich ein Hexer war, kein Zauberer, doch ich bremste mich noch vor dem ersten Wort. »Zauberer« war ein so überaus menschlicher Begriff, geprägt von einer Rasse, die nur ein Echo des Großen Lieds gehört hatte, und in ihrer Überheblichkeit dachte, sie könnte es sich untertan machen, indem sie ihm eine Bezeichnung verlieh.
»Ich bin kein Zauberer«, erklärte ich, weil ich nun mal nicht anders konnte. An sich hätte ich ja gern mit ihm über den Begriff gestritten, allerdings hatte das keinen echten Sinn. Mittlerweile hatte ich ein Gespür für seinen Geist entwickelt, und wenngleich es sich auf einen flüchtigen Eindruck beschränkte, wusste ich, dass sich seine Meinung nicht leicht ändern lassen würde. Ich griff mir weiteres Obst, während ich darauf wartete, dass er damit fertig wurde, mich anzustarren.
Er lehnte sich zurück, als ich einen Apfel in zwei Hälften biss. »Ich habe keine Zeit für Wortklauberei oder deinen verletzten Stolz. Nun, ich mag dich vielleicht nicht, aber ich bin nicht so ungehobelt, zu leugnen, dass wir in deiner Schuld stehen. Folgendes wird geschehen: Wenn du diesen Raum verlässt, wirst du verhaftet und eingesperrt, um auf deine Hinrichtung zu warten.«
Bei der Äußerung sog Tatyana scharf die Luft ein. Ich spähte meinerseits zu Fronsac, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Ich konnte zwar seine Schutzzauber fühlen, nicht jedoch, dass er weitere Macht um sich scharte, was ich als beruhigend empfand. Ich verspeiste den Rest des Apfels und wartete darauf, dass Jean zu Ende sprach.
»Du wirst zu den Zellen für Verräter im Wachturm gebracht. Was sich natürlich als Fehler herausstellen wird, denn ein Zauberer dürfte wohl keine Mühe haben, die Tür zu öffnen. Zu meiner öffentlichen Enttäuschung wirst du fliehen. Anschließend triffst du dich im Geheimen mit Fronsac, der dich irgendwohin aus dem Weg schafft, bis wir abschätzen können, wie sich dieser ganze Schlamassel entwickelt.«
»Ich mag keine Kerker.«
Jean schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ist mir egal! Du wirst es tun, sonst liefere ich dich ihnen mit einer blutigen Schleife um den Hals aus, so wahr mir die Götter helfen.«
»Hoheit«, ergriff Tatyana das Wort und trat vor. »Prinz Jean, was ist mit Lucien? Er steht dem Orden zu nah.«
»Ich habe meinen eigenen Bruder nicht vergessen.« Der Prinz schaute zum Fenster und zum Himmel, der sich dahinter rosig verfärbte. »Er ist erst heute Morgen losgeritten, um sich seiner Armee anzuschließen, begleitet von Baron Karsten und seinen Lanzenstreitern.«
»Die vierte Kohorte? Das sind Polssons Männer«, warf ich ein. Waren meine Warnungen denn völlig umsonst?«
»Ich habe Baron Karsten in den Rang des Obersten Seneschalls erhoben«, erwiderte Jean, als erkläre das alles.
»Karsten ist ein guter Mann«, befand Tatyana. »Als Oberster Seneschall wird er ständig in Luciens Nähe sein.« Sie sah wieder Jean an. »Aber er kennt die Wahrheit nicht. Ich sollte an seiner Seite sein. Dort gehöre ich hin. Lasst uns ihnen folgen. Bitte, Jean.«
»Um was genau zu tun? Man wird euch beide aufknüpfen, bevor ihr euch ihm auch nur auf fünfzig Schritte genähert habt.«
»Es ist so weit«, meldete Fronsac, bevor Tatyana oder ich etwas erwidern konnten. »Sie kommen gerade die Treppe herauf.«
Ich verstand, was er meinte. Aber obschon ich die Logik in Jeans Plan nachvollziehen konnte, schnürte mir die Vorstellung, wieder in Ketten gelegt und eingesperrt zu werden, die Kehle zu und ließ mich die Hände zu Fäusten ballen. Unterwerfung behagte mir so wenig wie eh und je.
»Bringen wir diesen Mummenschanz hinter uns«, brummte ich und erhob mich. Als ich mich bewegte, zog der blasse Mann hinter Jean sein Schwert. Kaum hatte er das getan, entfesselte ich mein Windgebilde, das ich im Geist bereitgehalten hatte. Es rammte das Schwert gegen seine Brust und schleuderte ihn mit solcher Wucht in die Wand, dass sich ein dort stehendes Bücherregal leerte. Er hinterließ eine Blutschliere auf dem Stein, als er daran zu Boden rutschte. Man sah nur das Weiße in seinen Augen, während sein benommenes Gehirn zu begreifen versuchte, was ihm soeben widerfahren war.
Beim Geräusch seines gegen die Mauer klatschenden Körpers hechtete Jean praktisch aus seinem Sessel und landete ausgestreckt zu Fronsacs Füßen, doch da war es bereits vorbei. Der Zauberer selbst starrte mich an, die Hände halb erhoben. Und wenngleich ich auch keine Lust verspürte, seinen Geist mit den erwachten Schutzbannen zu berühren, war ich mir doch ziemlich sicher, dass er gerade zu verstehen versuchte, warum er nicht im Voraus gespürt hatte, dass ich etwas tun würde.
Einen Herzschlag später wurde die Tür aufgerissen, als die Wachen auf den Lärm reagierten und hereinstürmten. Mit gezückten Schwertern brüllten sie Warnungen. Ich hob die Hände und stand nur da, während Fronsac dem guten Jean auf die Beine half.
»Schafft sie hier raus!«, brüllte der Prinz. Seine prallen Wangen schillerten beinahe so rot wie das Blut an der Wand. »Und die Ketten bleiben dran, verstanden? Sie bleiben dran!«
Unwillkürlich zuckte ich zusammen, als sich die Schellen um meine Handgelenke schlossen. Dass ich sie allein mit der Kraft meiner Arme aufzubrechen vermocht hätte, bot nur einen kargen Trost gegen die Demütigung der Unterwerfung.
Sie führten uns hinaus in ein heilloses Durcheinander. Die Wachleute, die ich geblendet hatte, wurden gerade versorgt, vermutlich von Heilern. Gleichzeitig versuchten andere Gardisten, drei graubärtige Männer in den weißen und roten Gewändern der Paladine zurückzuhalten. Diese drei und ihre ähnlich gekleideten Begleiter verdoppelten ihr Gebrüll, als sie uns erblickten, und in einem Anflug rasender Wut pflügten sie sogar durch den ersten Rang der Gardisten.
»Dämon!«
»Mörder!«
»Ketzer!«
Die Gardisten, die Jean damit beauftragt hatte, uns zu den Zellen zu bringen, forderten sie auf, die Waffen fallen zu lassen und zurückzubleiben, doch sogar ich erkannte, dass sie nicht gehorchen würden.
Prompt stürmten die Begleiter der Graubärtigen vorwärts und fielen mit Fäusten und Füßen über die Gardisten her, schlugen sie zu Boden. Alle außer mir brüllten. Einer meiner Aufpasser trat einem Paladin so kräftig in den Schritt, dass er in die Knie ging, was mich in schallendes Gelächter ausbrechen ließ.
Der Graubart, der sich mir am nächsten befand, schrie »Du Schwein!« und sprang mit einem Dolch in der Hand auf mich zu.
Ich zuckte zurück, stieß dabei Tatyana zu Boden und entging dem Angriff nur knapp. Er war mir dabei so nah gekommen, dass ich spontan den Kopf in sein Gesicht rammen konnte, wie es einst einer seiner Männer bei mir gemacht hatte. Allerdings verschätzte ich mich, und statt ihn mit der Stirn zu treffen, klatschte mein Gesicht gegen das seine. Das rettete ihn zwar vor einem eingeschlagenen Schädel, doch ich biss ihm stattdessen ein Stück aus der Wange, was ihn lauthals aufheulen ließ. Den blutigen Brocken spuckte ich aus, als er zurückwankte und sein Gesicht umklammerte.
»Genug!«
Das Wort toste förmlich durch den Gang. Die Macht, die darin mitschwang, fegte Gemälde von den Wänden und ließ alle mit erhobenen Fäusten und offenen Mündern jäh erstarren. Ich roch Fronsacs Magie, während der Schrei in meinen Ohren zu einem widerhallenden Brummen verebbte.
Ich half Tatyana auf die Beine, so gut es mit meinen hinter dem Rücken gefesselten Händen ging.
»Das ist mehr als genug.« Fronsacs Stimme klang hart und troff vor Macht, als er heraus in den Gang trat. »Ihr da. Schafft die Gefangenen des Prinzen in die Zellen.« Dann zeigte er mit seinem Stab auf die Paladine. »Und ihr, meine Herren, werdet Seiner Hoheit euer Begehr in der vereinbarten Weise vortragen. Kirche hin, Kirche her – wenn ihr noch einmal Hand an die Männer des Königs legt, werdet ihr als Verräter am Reich betrachtet und nach den alten Gesetzen abgeurteilt.«
Ich hatte mit einem Aufbegehren der Paladine gerechnet, doch anscheinend war das Feuer in ihnen erloschen. Sie hievten lediglich ihre Verwundeten auf die Beine, während ein kräftiger Stoß der Gardisten Tatyana und mich wieder in Bewegung setzte.