Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Zitat
  7. Personenverzeichnis
  8. Prolog
  9. 1
  10. 2
  11. 3
  12. 4
  13. 5
  14. 6
  15. 7
  16. 8
  17. 9
  18. 10
  19. 11
  20. 12
  21. 13
  22. 14
  23. 15
  24. 16
  25. 17
  26. 18
  27. 19
  28. 20
  29. 21
  30. 22
  31. 23
  32. 24
  33. 25
  34. 26
  35. 27
  36. 28
  37. 29
  38. 30
  39. 31
  40. 32
  41. 33
  42. 34
  43. 35
  44. 36
  45. 37
  46. 38
  47. 39
  48. 40
  49. 41
  50. 42
  51. 43
  52. 44
  53. 45
  54. 46
  55. 47
  56. 48
  57. 49
  58. Karte
  59. Glossar
  60. Anmerkung und Dank

Über das Buch

Von Bremen und Mallorca in den Süden Frankreichs und den Norden Italiens – eine spannende Reise durch die mittelalterliche Medizin und die Geschichte der Kreuzzüge

1217. Weil sein Vater ihn ins Kloster geben möchte, flieht der junge Bremer Adlige Thonis und schließt sich einem Kreuzzugsheer an. Doch er kommt nicht weit: Schon auf dem Weg ins Heilige Land erblindet er, wird zum Sterben zurückgelassen. Dass er gesundet, verdankt er allein dem betörenden Gesang einer Spielfrau, der ihn im Leben hält, und der Kunst des Chirurgen Wilhelm. Fasziniert lässt sich Thonis selbst zum Chirurgen ausbilden und spürt die Frau auf, die ihn einst rettete: Elena, eine Sklavin. Beide wollen sie den Menschen helfen – und geraten in einer Zeit der Kreuzzüge und Ketzerverfolgung in tödliche Gefahr …

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, Schwarze Brandung. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Die Natur ist nämlich wie ein Fiedelspieler, der mit
seinem Klang die Tänzer führt und lenkt. Wir Ärzte
und Chirurgen sind wie die Tänzer, und genauso,
wie die Natur musiziert, müssen wir tanzen.

Henri de Mondeville (französischer Arzt, 1260–1310)

Instrumenten und Seytenspil der Musica helffen auch die
gesuntheit erhalten/und die verloren wider zubringen.
Dan die tön seind eben den schwachen gemüteren
vergleicht/wie sich die artzneyen den schwachen leiben
vergleichen.

Ibn Butlan (christlich-nestorianischer Arzt, † 1065 Antiochien)

Personenverzeichnis

NORDDDEUTSCHLAND

Thonis von Versfleth, niederadeliger Ritter aus der Wesermarsch von Geburt, Chirurg aus Berufung

Drochtleff von Owmund und Domina Amelradis, seine Eltern

Mathias und Emo, seine Brüder

Gerhard zur Lippe, Erzbischof von Bremen*

Simon zur Lippe*

MALLORCA

Elena, Sklavin und Spielfrau mit einem besonderen Talent

Loukia und Itys, ihre Eltern

Niko, Sklave

GENUA

Rambertino Buvalelli*, Podestà von Genua und Troubadour

Leibdiener Gisulfo

Maja, Sklavin

BOLOGNA

Dominus Magister Wilhelm de Congénis, Chirurg*

Domna Graziella, seine Frau

Gaston und Sibilla, ihre Kinder

Amiré, Medizinstudent und Magister Wilhelms Gehilfe

Außerdem treten u.a. folgende historisch verbürgte Persönlichkeiten auf (ansonsten mit * gekennzeichnet):

Raymond von Toulouse VI.

Oliver der Sachse

Beatrice d’Este

König Jaume I. von Aragón

Kaiser Friedrich II.

Simon de Montfort

Herzog Otto von Lüneburg, genannt »das Kind«

Prolog

Toulouse, Okzitanien, August 1222

Der Wagen rumpelte in ein Schlagloch und geriet in gefährliche Schieflage. Elena umklammerte ihre Laute, mit der anderen Hand hielt sie sich am Gestänge fest. Das Seidenkleid klebte an ihrem Leib. Ihre Lippen spannten, sodass sie sie anfeuchten musste, damit sie nicht einrissen. Ihr Herr hatte die Plane fest verschlossen, weshalb sie seit Tagen in stickiger Hitze und erzwungener Blindheit dahinfuhr. Jetzt aber öffnete sich das Leinen im heißen Fahrtwind einen Spalt weit. Die Sommerhitze lag über den kargen Feldern wie ein Leichentuch. Der Landstrich war ausgeblutet. Brandruinen von Höfen, ja ganzen Dörfern. Weinstöcke wucherten unbeschnitten, Vieh war kaum zu sehen. Sie kannte diese Gegend nicht. Wo waren sie? Wohin reisten sie?

Hungerleider rannten zu dem Frachtwagen und versuchten, ihn aus dem Loch zu schieben. Ein dürrer Junge riss an der Plane und spähte in den Wagen hinein. Als er Elena bemerkte, schob er ihr die geöffnete Handmuschel entgegen.

»Bona Domna, bitte, ein paar Münzen nur! Ich flehe …« Er brach ab, als sie ruckartig anfuhren.

Draußen gingen Bettelrufe durcheinander. »Bitte, Ser, ein Dank für unsere Hilfe!«

»Ein paar Almosen für uns!«

Der Hänfling klammerte sich an den Wagen. »Helft! Ich flehe Euch an!« Er streckte sich, beinahe bekam er ihren Schleier aus venezianischer Seide zu fassen.

Elena wich zurück. Wenn er den Schleier zerriss, würde ihr Herr sie schlagen. Dabei wünschte sie sich, sie könnte dem Jungen etwas geben. Er war fünf, sechs Jahre jünger als sie, vielleicht vierzehn, und auch wenn es für ihn anders aussehen musste, war sie genauso bettelarm wie er. Das Seidenkleid, das ihre hohe, etwas zu kräftige Figur umschloss, der Schleier über ihren schwarzen langen Locken, die feinen Schuhe – nichts davon gehörte ihr.

»Es tut mir leid, ich habe selbst nichts«, wisperte sie.

Die Peitsche zischte hell. Der Wagen fuhr schneller, sodass Elena auf die Bank gedrückt wurde. Der Junge stürzte auf die Straße.

»Bagasa!«, beschimpfte er sie als Dirne. Auch die anderen Helfer riefen ihnen Flüche hinterher. Wie beißender Rauch umwehten die Verwünschungen sie.

Nicht lange nachdem Stimmen und Schritte verklungen waren, hielten sie an. Ihr Herr öffnete den Wagenverschlag. Seine Kleidung und seine Haare waren vom Straßendreck bestäubt. Auf seine gefurchte Stirn hatten Schweiß und Staub tiefe Linien gezeichnet. Er funkelte sie wütend an.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du mit niemandem reden sollst«, fauchte er. »Hast du ihm etwa verraten, wer wir sind und woher wir kommen?«

Trotzig schwieg sie. Glaubte er wirklich, sie habe mit dem Betteljungen geplaudert? Unvermittelt schlug er ihr die Faust in den Leib. »Antworte gefälligst!«

Elena krümmte sich keuchend. Dann zwang sie sich, gegen den Schmerz anzuatmen. Mit Bauchkrämpfen würde sie nach den Strapazen der Reise ihre Aufgabe nicht erfüllen können. »Ich habe ihm nur gesagt … dass ich ihm nichts geben kann, Ser«, presste sie hervor.

Nun strich der Herr ihr über die Wange, was sie erschaudern ließ. Gönnerhaft hielt er ihr einen Lederschlauch hin. Nur kurz konnte sie sich die Kehle mit dem mit Wasser und Honig versetzten Wein netzen, ehe er ihr den Behälter wieder abnahm.

»Das reicht. Du brauchst einen klaren Kopf.«

Die Kontrolle am Stadttor war langwierig. Immerhin hatten ihre Schmerzen nachgelassen. Ihr Herr wusste genau, wie er sie schlagen konnte, ohne sie ernsthaft zu verletzen; er wollte seinen kostbaren Besitz ja nicht beschädigen. Elena lauschte dem Gespräch mit dem Zöllner. Schließlich schnappte sie den Namen der Stadt auf: Toulouse. Sie erstarrte. Deshalb also waren sie so lange unterwegs gewesen! Deshalb hatte ihr Herr darauf bestanden, unauffällig zu reisen. Todfeinde der Christenheit hatten sich in Südfrankreich ausgebreitet: die Katharer. Sie selbst behaupteten, den reinen Glauben zu vertreten, aber ihre Gegner waren davon überzeugt, dass sie dem Teufel, der sich oft in der Gestalt der Katze zeigte, den Hintern küssten. Der Papst hatte bereits vor etlichen Jahren zu einem heiligen Krieg gegen diese sogenannten Armen Christi aufgerufen, doch diese hatten offenbar Rückhalt in Adel und Bauernstand. In der Grafschaft Toulouse tobte der Kampf zwischen den Katholiken und den als Ketzer verfolgten Katharern noch immer erbittert. Es sah aus, als hätten dreizehn Jahre Kreuzzug das einst reiche Okzitanien in ein Armenhaus verwandelt. Kreuzritter, Häretiker, Aufständische und skrupellose Profiteure hatten Land und Leute zwischen sich zermahlen. Warum brachte ihr Herr sie in diese tödliche Gefahr?

Endlich durften sie passieren. Selbst durch den schmalen Spalt in der Wagenplane waren die Folgen der Belagerungen, der Überfälle und Plünderungen unverkennbar. Etliche Häuser waren zerstört, andere wirkten verlassen. Eine angespannte Stille lag über der Stadt. Nichts war von dem Trubel zu spüren, der diese reiche Handelsstadt vermutlich sonst prägte. Die gewaltige Basilika aus rosafarbenen Steinen war von unzähligen Bettlern umlagert.

Da erregte ein Tumult ihre Aufmerksamkeit: Auf einem Platz beschimpften sich Menschen, als hinge ihr Leben davon ab.

Der Wagen hielt. Besitzergreifend legte ihr Herr seinen Arm um ihre Taille, als er ihr beim Aussteigen half. Vor ihnen erhob sich ein imposantes, schwer bewachtes Steinhaus, dessen Fensterläden verschlossen und gesichert waren. Ein mulmiges Gefühl schnürte Elena den Hals zu.

Ein Diener nahm sie in Empfang. Im Dämmerlicht war Elena beinahe blind. Die gespenstische Stille im Haus verursachte ihr ein unangenehmes Zusammenziehen der Kopfhaut. Ein Adeliger begrüßte sie und flüsterte ihrem Herrn zu, dass sich die Situation, seitdem er die Nachricht geschickt hatte, dramatisch verschlechtert hatte. Graf Raymond habe einen Unfall gehabt. Jetzt gehe es um Leben oder Tod.

Als sie ins Obergeschoss geführt wurden, hörte Elena mit Verzweiflung und Hass gemurmelte Gebete. Das Kribbeln breitete sich aus und zog den Nacken hinunter. So unwohl fühlte sie sich, dass sie sich wünschte, mit den kostbaren Tapisserien an den Wänden verschmelzen zu können. Beruhigend war nur die Laute in ihren Händen, birnenbauchig, poliert und mit frischen Saiten versehen, das Beständigste in ihrem Leben.

Ihr Herr sah sie warnend an, als er sie in eine große Schlafkammer schob. »Du weißt, was du zu tun hast. Verdirb es nicht«, raunte er.

Durch das Gespinst ihres Schleiers nahm Elena die Umgebung in sich auf. Es war ein düsterer und stickiger Raum, in dessen Mittelpunkt ein großes Himmelbett mit Vorhängen aus feinstem Damast stand. Eine Dame kniete neben dem Bett und betete. Der Duft der wohlriechenden Kräuter, die in mehreren Schalen verbrannt wurden, konnte den Gestank der Krankheit nicht überdecken. Männer standen in Grüppchen in der Nähe des Betts und diskutierten erregt. Es waren Adelige, Bürger, Geistliche und Kreuzritter verschiedener Orden. Ein junger Ritter lief unruhig vor den verrammelten Fenstern auf und ab.

Und da war der Kranke. Sein Körper war von Pelzen bedeckt, sein Schädel von Seide. Dazwischen ein eingefallenes Gesicht mit blutunterlaufenen Augenhöhlen. Ein gestandener Ritter, das verriet seine Statur. Ein Mann, der das Leben ausgekostet hatte, das verriet sein Gesicht. Ein Sterbender, das verriet seine Stimme. Sein Stöhnen trieb Elena den Geschmack von Asche in den Mund.

Die Männer wandten sich ihnen zu. Die fein geschnittenen Züge eines Mönchs verwandelten sich bei ihrem Anblick in eine angewiderte Grimasse. »Was hat das Weib hier zu suchen?«, zischte er. Seinem schwarz-weißen Habit nach zu urteilen, gehörte er dem strengen Predigerorden an.

»Ihre Künste sind mir ans Herz gelegt worden. Wir müssen alles Menschenmögliche versuchen, um meinen Vater zu retten. Die Heiltränke dieses Herrn sind berühmt. Außerdem hat Graf Raymond die Musik immer geliebt«, sagte der junge Ritter, der sich mit diesen Worten als Raymond der Jüngere zu erkennen gab.

»Auf Gott sollte der Graf vertrauen! Sein Leben liegt in der Hand des Allmächtigen. Wenigstens im Tode sollte er sich angemessen verhalten«, brach es aus dem Mönch heraus.

Nun mischte sich ein Greis ein, der sein dunkles, schlichtes Gewand mit einem einfachen Seil gegürtet trug. »Der Graf ist ein guter Christ und möchte auch im Tode so behandelt werden. Lasst mich diesem Freund Gottes die Hand auflegen und sein Leben zu einem guten Ende führen.«

Elena erstarrte bei diesem Ansinnen. Der Greis musste ein Perfectus sein, einer der geistlichen Anführer der Katharer. Warum wurde er hier geduldet? Ihren Herrn schien diese Diskussion nicht zu kümmern. Mit großer Geste flößte er dem Kranken einen Heiltrank ein.

Die Reaktion des Predigermönchs ließ nicht auf sich warten. »Schweigt, verketzerte Brut!«, schrie der Mönch den Perfectus an.

»Mäßigt Euch!«, ging nun einer der Kreuzritter in scharfem Ton dazwischen.

»Ich lasse mir nicht den Mund verbieten. Extra ecclesiam nulla salus, heißt es. Auch Ihr solltet wissen, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt. Brennen soll dieser häretische Greis auf dem Scheiterhaufen, wie so viele seiner Glaubensgenossen vor ihm.«

»Ich fürchte das Feuer nicht. Es wird meine Seele befreien!«, verkündete der Perfectus.

»Damit sie in ein anderes Wesen einfahren kann, wie der Teufel? Macht endlich dieser Häresie ein Ende! Es ist eure Aufgabe, die Kirche mit euren Waffen zu verteidigen!«, fuhr der Mönch die Kreuzritter an.

Nun wandte sich einer der Hospitaliter dem Erbgrafen zu. »Eine Spielfrau? Was soll dieser Hokuspokus? Ich kann unseren Infirmarius noch einmal kommen lassen.«

»Das ist sehr freundlich von Euch, aber ich denke, Euer Infirmarius hat bereits sein Möglichstes getan«, wies Raymond der Jüngere den Vorschlag zurück. »Wir müssen auf andere vertrauen. Mein Vater muss noch einmal erwachen, er muss auf jeden Fall seinen Willen bekunden.«

»Das ist vergebene Liebesmüh. Der Graf stirbt, das ist unverkennbar. In seinem Testament hat er verfügt, als Ritter des Hospitaliter-Ordens bestattet zu werden«, sagte der Kreuzritter.

»Das ist Jahre her und unter Zwang geschehen. Längst hat Graf Raymond diese Anordnung wiederrufen. Auf keinen Fall werden wir zulassen, dass Ihr den Leichnam an Euch reißt!«, protestierte der Perfectus.

»Denkt Ihr etwa, er wird das Consolamentum empfangen, wie ein verdammter Ketzer?«

»Wenn es sein Wunsch ist, soll es so sein!«

Kurz sah es aus, als stünde ein Handgemenge bevor.

»Genug!«, machte Raymond der Jüngere dem Streit ein Ende. »Wenn Ihr nicht Frieden haltet, werde ich Euch alle dieses Hauses verweisen müssen.«

Elena schwindelte von den intensiven Farben, die während des Wortwechsels vor ihren Augen zu tanzen begonnen hatten. Gleißend roter Hass, tiefschwarze Galle, stechendes Grün und Scharlach. Dazwischen ein Pfad aus schwindendem Grau – auf ihn musste sie sich konzentrieren, ihm musste sie folgen.

Ihr Herr stellte neben dem Bett einen Schemel für sie bereit. Etwas befangen setzte sie sich. Ihre Fingerkuppen strichen behutsam über das Muster im Holzkorpus und die gespannten Darmsaiten. Sie liebkoste ihr Instrument, als wollte sie es besänftigen. Das war ihr Ritual, um zur Ruhe zu kommen. Nur wenn sie vollständig in der Musik aufging, konnte sie die richtigen Töne treffen und das erreichen, was allein sie vermochte. Fein wie Perlenschauer ließ Elena eine erste Melodie erklingen. Dann erhob sie ihre Stimme. Der Kopf des Kranken ruckte, er keuchte. Die Dame starrte sie an. War sie die Gräfin? Egal. Unbeirrt sang Elena weiter.

Ihre Pferde galoppierten querfeldein. Thonis sah sich nach seinem Lehrmeister um. Magister Wilhelm war zwar zurückgefallen, hielt aber das Tempo. Vor drei Tagen hatte die Nachricht sie erreicht. Seitdem waren sie über Handelswege geprescht, hatten Berge überquert und Flüsse gekreuzt. Eigentlich war der Chirurg mit Anfang fünfzig zu alt für eine derartige Strapaze, aber die Zeit drängte, das hatten die Vertrauten des Königs ihnen deutlich zu verstehen gegeben. Es galt, eine Seele zu retten, damit endlich Frieden einkehren konnte.

Noch einmal drückte Thonis seinem Pferd die Unterschenkel in die Seiten. Weißer Schaum flog aus den Nüstern seines Rosses. Auch seine eigene Haut war schweißbedeckt. Die Luft flimmerte, als endlich die Kirchtürme von Toulouse am Horizont auftauchten. Schon einmal hatte Thonis diesen Weg bereist. So viel war seitdem geschehen. Es kam ihm vor, als wäre er damals – war es wirklich erst vier Jahre her? – ein anderer Mensch gewesen. Was würde ihn heute erwarten?

Wenig später wurden sie in das Steinhaus in der Nähe der Basilika geführt. Zu Thonis’ Erstaunen drang aus dem Obergeschoss eine betörende Musik zu ihnen. Prompt stellten seine Nackenhaare sich auf. Sein Lehrmeister und er tauschten Blicke. Sie konnten nicht herausfinden, was es damit auf sich hatte, denn sie wurden zunächst in einen Saal geführt. Gleich darauf kam die Gräfin herein. Gegen die beiden groß gewachsenen Männer wirkte sie besonders zierlich. Als Eleonore von Aragón den dunklen Spitzenschleier hob, sah man, dass sie geweint hatte. In heftiger Atembewegung funkelte auf ihrer Brust ein Goldkreuz. Sie überflog den versiegelten Brief, den ihr Neffe, der König von Aragón, den Chirurgen ausgestellt hatte.

»Oh, Magister, Ihr seid unsere letzte Hoffnung!«, stieß die Edeldame hervor. »In diesem Haus gibt es niemanden, dem ich vertrauen kann. Jeder verfolgt nur seine eigenen Interessen, selbst bei meinem Stiefsohn kann ich nicht sicher sein, was ihn wirklich umtreibt. Von Anfang an war ich als fünfte Ehefrau meines Gatten von Missgunst umgeben. Aber jetzt geht es darum, die unsterbliche Seele dieses großen Sünders zu retten, mit dem der Allmächtige mich zusammengeführt hat.«

Tatsächlich kannte auch Thonis das Gerücht, dass Graf Raymond den ketzerischen Katharern angehörte, weshalb er vom Papst aus der Gemeinschaft der Gläubigen ausgestoßen worden war. Warum sonst sollte der Graf diese Ketzer in seinen Landen dulden, sogar fördern? Andere hielten sein Verhalten für religiöse Toleranz oder einfach Gleichgültigkeit. Graf Raymond schien scheinheilig und schwach zu sein.

»Die Exkommunikation ist eine schreckliche Strafe, dennoch betrachte ich es als meine Pflicht, einem Kranken zu helfen. Ich hörte von einer Schädelverletzung. Was ist dem Grafen zugestoßen?«, fragte der Magister.

Nervös drehte die Edeldame einen Rosenkranz aus Korallen zwischen den Fingern. »Mein Gatte war schon seit Wochen nicht gut zuwege. Bei einem Übungskampf stürzte er unvermittelt und schlug sich den Schädel auf. Die meiste Zeit ist er bewusstlos. Wenn er die Augen öffnet, kann er nicht sprechen. Keinen Ton bekommt er heraus. Sogleich wurden der Infirmarius der Hospitaliter und später ein Medicus gerufen, doch ihre Heiltränke und Salben waren nutzlos.« Eleonore von Aragón neigte sich dem Chirurgen zu. »Ich muss gestehen, dass ich den anderen Heilkundigen der Stadt nicht traue. Es geht um zu viel!«

»Heiltränke werden gegen einen geborstenen Schädel nicht viel ausrichten. Lasst uns zu dem Kranken gehen, dann können mein Gehilfe und ich uns an die Arbeit machen.«

Die Gräfin legte die Hand auf den Arm des Chirurgen. Ihre Augen hatten einen flehenden Zug angenommen. »Für mich zählt nur eins: seine Seele zu retten. Mein Gatte muss jeglichem Ketzertum abschwören und sich zum wahren Glauben bekennen. Das Haus Barcelona und das Königshaus von Aragón dürfen nicht dauerhaft von dem Frevel meines Gatten beschmutzt werden. Wie sehr ich dafür bete, dass der Allmächtige und die heilige Mutter Maria uns vergeben!« Innig presste sie die Lippen auf das Goldkreuz.

Im Saal fiel Thonis’ Blick auf die junge Frau, die von den Männern abgesondert auf einem Schemel saß, auf einer Laute spielte und sang. Sogleich schoss ihm die Hitze ins Gesicht, und er wandte sich ab. Hatte auch sie ihn gesehen? Zumindest hatte ihre Stimme kurz gezittert – oder hatte er sich das eingebildet? Die Geistlichen ignorierten sie missbilligend, doch die Augen der Bürger sowie eines Ritters ruhten wohlgefällig auf der Spielfrau. Der junge Mann war in einen bestickten Waffenrock gehüllt, an der Seite trug er ein kostbares Schwert.

Noch ehe der Magister die Anwesenden begrüßen konnte, schoss dieser Ritter auf sie zu. »Das ist also der Chirurgicus, den du zu Hilfe gerufen hast, Stiefmutter? Wie heißt er?«, fragte er scharf. Das musste Erbgraf Raymond der Jüngere sein. Der Erstgeborene des Grafen war ein Heißsporn, wie Thonis wohl wusste.

»Magister Wilhelm von Congénies. Er ist der Beste seines Fachs. Mein Neffe, König Jaume, hat ihn empfohlen.«

Der junge Ritter überlegte kurz, dann ging er lauernd um Thonis und seinen Lehrmeister herum. »Congénies? Der Name sagt mir etwas. Standet Ihr nicht in den Diensten unseres Erzfeindes Simon de Montfort?«

»Das ist richtig«, gab der Chirurg zu.

Raymond schnaubte. »Dann wollt Ihr jetzt also vollenden, was Euer Geldgeber nicht fertiggebracht hat? Meinen Vater töten? Unser Haus vernichten?«

Der Chirurg ließ sich von den Vorwürfen nicht aus der Ruhe bringen. »Der König von Aragón und Eure verehrte Stiefmutter baten mich um Hilfe. Da ich mich ihnen verpflichtet fühle, komme ich ihren Wünschen nach. Und nun lasst uns bitte zu Werke schreiten. Oder wollt Ihr der Genesung Eures Vaters im Wege stehen?«

Nun mischte sich Eleonore von Aragón ein. »Bitte vertrau ihm und mir. Haben wir nicht das gleiche Ziel?«, flehte sie ihren Stiefsohn an.

Der Erbgraf wedelte drohend mit dem Finger vor dem markanten Gesicht des Chirurgen. »Ich werde Euch und Euren Gehilfen im Auge behalten, Magister. Sobald ich den Eindruck habe, dass Ihr meinem Vater schaden wollt, werde ich mich nicht länger zügeln.« Er legte in einer deutlichen Geste die Hand an seinen Schwertknauf.

Die Ritter und Kleriker gingen auf Abstand, als die Chirurgen ans Krankenbett traten. Auf die Bitte der beiden Fremden hin wurden weitere Kerzen entzündet. Sie zogen sich dünne Lederhandschuhe an. Mit einem Spatel öffnete Magister Wilhelm den Mund des Grafen. Thonis leuchtete mit einer Öllampe hinein. Deutlich war zu sehen, dass die Zunge blau verfärbt war.

»Die Dura Mater ist verletzt«, hielt Magister Wilhelm fest.

»Was bedeutet das?«, fragte der Erbgraf scharf.

»Das Gehirn ist von drei Häuten umgeben. Erstens die Dura Mater, die äußere Hirnhaut. Zweitens die Pia Mater, die innere Hirnhaut. Und drittens die Arachnoidea, die Spinnwebhaut. Wenn die Pia Mater verletzt ist, kann der Patient nicht genesen«, referierte Magister Wilhelm, als stünde er vor seinen Studenten.

»So ein Urteil ist blanke Anmaßung. Ihr seid doch nicht Gott! Wie wollt Ihr wissen, wann jemand sterben wird!«, schimpfte der Mönch.

Der Erbgraf trat näher. Verwirrung und Ungeduld zeichneten sein Gesicht. »Aber diese Hirnhaut ist bei meinem Vater unversehrt, sagt Ihr.«

»So scheint es, ja.«

Behutsam nahm Thonis den Schleier vom Schädel des Grafen. Sie begannen mit der Untersuchung. Die Schwellung war gewaltig, der Verband unnütz. Auch die Bleisalbe und das Rosenöl, das Medicus oder Mönchsarzt aufgetragen hatten, damit sich die Schädelhaut zusammenzog und der Knochen wieder zusammenwuchs, würden nicht helfen. Sie würden schneiden müssen. Thonis spürte, wie die Musik ihn trotz dieser komplizierten Aufgabe mit Zuversicht erfüllte.

»Schluss jetzt mit diesem Geklimper, diesem Hexenwerk!«, rief der Mönch hinter ihnen genervt.

Der Vorwurf der Hexerei wog schwer. Thonis erwartete, dass der Gefährte der Spielfrau sich äußern würde, aber der Mann schwieg. Was für ein Feigling! »Lasst sie ruhig weiterspielen«, sagte Thonis schließlich. »Uns stört es nicht, und dem Kranken kann es nur nützen.«

»Unsinn!«

»Mit Verlaub: Nichts Übernatürliches haftet dieser Medizin an. Im Gegenteil, die Musik ist erprobte Heilkunst. Schon seit Jahrhunderten verordnen erfahrene Ärzte den Kranken die nützlichen Tonarten«, erklärte Thonis. »Das Saitenspiel der Musica hilft, verlorene Gesundheit zurückzubringen, das ist bekannt und wird an jeder hohen Schule gelehrt.«

Er breitete die Messer und Skalpelle auf einem Tischchen aus und legte den Schlafschwamm parat. Mit einem Kreuzschnitt trennte der Magister die Kopfschwarte auf. Als der Verletzte sich regte und stöhnte, hielt Thonis ihm den Schwamm unter die Nase. Die Mischung aus Mohnsaft, Alraune, geflecktem Schierling und anderen Kräutern tat schnell ihre Wirkung. Die Anwesenden beobachteten die Chirurgen argwöhnisch.

»Das Cranium ist zerbrochen. Die Knochensplitter des Schädels müssen entfernt werden, sonst wird die Wunde nicht heilen«, verkündete der Magister.

»Wird mein Gatte seine Stimme wiedererlangen, um sein Glaubensbekenntnis abzulegen? Die Exkommunikation muss aufgehoben werden!«, sagte die Gräfin aus einiger Entfernung mit zittriger Stimme.

»Das vorherzusagen wäre wahrlich Hexerei«, sagte der Magister. Mit einem Schaber kratzte er die verletzte Haut vom Schädel. Während der Prozedur hörten sie ein Seufzen, dann ein Poltern; die Gräfin war in Ohnmacht gefallen. Sofort kümmerte man sich um sie. Unbeirrt ergriff Thonis eine kleine Zange.

»Moment! Warum macht Euer Gehilfe weiter? Nur der beste Chirurg ist für meinen Vater gut genug«, protestierte der Erbgraf.

»Seid unbesorgt, mein Gehilfe ist dieser Aufgabe mehr als gewachsen.«

Thonis pickte die Splitter aus dem Fleisch, wobei er darauf achtete, die Hirnhaut nicht zu verletzen. Behutsam schob er das Winkeleisen unter den eingesunkenen Knochen, um ihn wieder anzuheben. Anschließend entfernte Thonis mit einer Zange die scharfen Spitzen des Bruchs. Nach dem Eingriff bedeckten die Chirurgen die Wunde mit Leinen, das sie vorher in Eiklar getaucht hatten. Sie wandten sich den Umstehenden zu.

»Ein Goldschmied soll eine passende Metallplatte herstellen, um das Loch zu verschließen. Mein Gehilfe wird auf einer Wachstafel die Größe einritzen. Die Haut wird dieses Plättchen später einschließen, so Gott will«, sagte Magister Wilhelm. Thonis war nicht so zuversichtlich. Die Dura Mater war stark beschädigt, was die Heilungsaussichten erheblich verringerte. Auch dauerte die Bewusstlosigkeit des Grafen schon sehr lange an.

»Wenn mein Vater stirbt, werde ich es Euch zur Last legen«, drohte der Erbgraf feindselig. »Eure Leben sind mit dem des Grafen auf Gedeih oder Verderb verbunden.«

Elena wusste nicht, wie lange sie gesungen und gespielt hatte, als sich der Zustand des Grafen endlich besserte. Mehrere Tage war die Operation her. Tage voller Musik und Nächte, die sie mit ihrem Herrn in einer engen Kammer hatte verbringen müssen. Stunde um Stunde fanden sich mehr Menschen im Krankenzimmer ein. Stetig nahm die Anspannung zu. Der Zustand des Grafen hatte Bedeutung weit über die Grafschaft hinaus, das war jedem klar. Ihr Herr nutzte die Gelegenheit, um Kontakte zu knüpfen und Gespräche zu führen. Den Chirurgen war er geflissentlich aus dem Weg gegangen, um einen Eklat zu vermeiden. Dabei hatten die Sätze des jungen Chirurgen Elena gutgetan. Es waren dürre Worte für das, was sie mit ihrer Musik bewirken konnte, und doch war sie dankbar dafür.

Ein Chirurg schnitt das Fleisch und fügte es wieder zusammen, ein Medicus verabreichte Salben und Heiltränke, aber was sie tat, wirkte unsichtbar.

Plötzlich schlug der Graf die Augen auf und murmelte etwas. Seine Frau küsste ihn erleichtert, doch er wies sie ab. Unter Tränen wich die Gräfin zurück. Sogleich redeten die Männer auf den Kranken ein. Der Predigermönch forderte Elena auf, endlich zu verschwinden, doch die Gräfin bestand darauf, dass sie blieb, als wären die Kunst der Chirurgen und Elenas Musik das Einzige, das ihren Gatten noch am Leben hielt. Der Perfectus wollte dem Grafen unter Gebeten die Hand auflegen, doch der Mönch fiel ihm in den Arm. Streit brach aus. Es ging um Katholiken und Ketzer, um den wahren Glauben und um die einzig richtige Art zu leben und zu sterben.

Schließlich verschaffte sich der Mann auf dem Totenbett Gehör. Schleppend war seine Rede, aber er sprach.

Elena nahm nur Wortfetzen auf.

»… wollte nur … mein Land … und mein Volk … vor den Kreuzfahrern schützen … Katharer … auch gute Menschen …« Er bäumte sich auf. »… in den Schoß der … Kirche zurückkehren …« Inständig bat der Graf um die Vergebung seiner Sünden. Aus Furcht vor dem Jüngsten Gericht und für sein Seelenheil übergab er sich selbst dem Herrn Gott, der heiligen Jungfrau Maria, dem heiligen Johannes und dem zu seinen Ehren gegründeten Hospital zu Jerusalem.

Wie gebannt spielte sie weiter. Ihr Gesang folgte dem aschgrauen Pfad, der von dem Kranken ausging und sich durch das Zimmer zu schlängeln schien. Seine versiegende Lebenskraft …

Da, auf einmal verschwand der Pfad im Nichts. Die Saite, die sie gerade gezupft hatte, riss. Es war vorbei. Der Kranke hatte es nicht geschafft.

Elena schoss hoch, als hätte sie geschlafen. Sofort verlor sie das Gleichgewicht und fiel. Ihr Herr fing sie auf. Verwirrt sah sie sich um. Was war geschehen? Wie viel Zeit war vergangen? Sie fühlte sich ausgelaugt und kraftlos, wie so oft, wenn sie für einen Kranken gespielt hatte. Schon rangen die Männer über dem Bett des Verstorbenen miteinander, zerrten an dem Ordensmantel, der über dem Leichnam lag, und stritten erbittert. Gleichzeitig stimmte ein Geistlicher das De profundis an. Es war vorbei.

»Die Chirurgen sind schuld! Ihr blutiges Handwerk hat meinem Vater den Tod gebracht! Ich wusste es doch! Sagt: Hat Amaury de Montfort Euch für diese Schandtat bezahlt?«, brüllte der hitzige junge Ritter mit tränenüberströmtem Gesicht und bedrohte Magister Wilhelm und dessen Gehilfen mit dem Schwert.

Ihr Herr zerrte Elena hinaus. Als sie auf der Treppe waren, ertönte ein weiterer Schrei. Dieses Mal erklang die Stimme des Mönchs: »Das Wiedererwachen des Grafen war Zauberei! Haltet die Hexe auf!«

Elena umklammerte ihre Laute, als könnte sie sich daran festhalten. Doch da wurde sie schon gepackt. Das Instrument fiel zu Boden und splitterte krachend. Ihr war, als zerbräche ihr eigenes Leben. Sie war eine Sklavin, rechtlos. Nichts besaß sie als die Musik. Schon oft war die Musik ihr letzter Halt gewesen. Erinnerungen durchzuckten ihren Geist. Sie sah sich selbst als Kind, singend, zum letzten Mal unbeschwert. Sah sich bei der Arbeit in den Gesang der anderen einstimmend. Erinnerte sich, wie sie für ihre Mutter gesungen hatte, um ihr den Lebensmut zurückzugeben. Würde ihre Gabe, die schon so vielen Menschen geholfen hatte, sie nun selbst das Leben kosten?

1

Westlich von Ponsa, Mallorca, Herbst 1217, fünf Jahre zuvor

Der Wind hatte gedreht. Eine Brise trug Gesang und Blütenduft über die Küstenlinie. Diffus brach der Sonnenschein durch das Blätterdach der Aprikosen- und Mandelbäume. Wie selbstverständlich stimmte Elena in die Melodie ein. Ohne es zu sehen, wusste sie, was die anderen Sklaven gerade taten. Gesang begleitete jede ihrer Tätigkeiten, machte selbst die schwersten Arbeiten, wie das Ausheben der Bewässerungsgräben, leichter. Jetzt gerade wurden die Tücher unter den Olivenbäumen ausgebreitet und die Schilfrohrstangen verteilt, mit denen die reifen Früchte von den Ästen geklopft wurden. Vor ein paar Tagen war der erste Herbststurm über die Insel gefegt und hatte ihnen bereits einen Teil der Arbeit abgenommen; sie mussten sich eilen, damit die Oliven nicht verdarben.

Elena beschleunigte ihren Schritt. Im Takt des Gesangs setzte sie ihren Holzstab auf. Die Olivenernte war eine angenehme Arbeit, bei der alle Sklaven zusammenkamen. Es war einer der kostbaren Momente, die sie mit ihren Eltern verbringen konnte.

Nur noch einen Felssporn musste sie mit den Ziegen überwinden. Gedankenverloren sah sie auf – und erschrak. Das Zicklein zupfte an dem Dornbusch an der Abbruchkante. Wie war es denn so schnell dorthin gekommen?

»Halt! Nicht dahin!«, rief sie und spurtete los.

Da rutschte das Jungtier schon mit einem Huf ab. Im letzten Augenblick riss Elena es zurück. Die Dornen verfingen sich in ihrem Kittel, schnitten in ihre Wange und ihren Unterarm. Erleichert atmete sie auf trotz des Schmerzes. Das war gerade noch gut gegangen! Sie hätte Schläge bekommen, wenn sie ein Tier verloren hätte. Oder sie hätte diese Aufgabe verloren, was beinahe noch schlimmer wäre. Der Aufseher hatte schon oft gemeint, dass sie, groß und kräftig, wie sie war, besser für andere Aufgaben tauge. Aus aufgerissenen bernsteinfarbenen Augen sah das Zicklein sie an. Elena versenkte ihr Gesicht in das rötlich braune Fell.

»Du dummes Ding!«, murmelte sie und setzte es wieder ab. Sogleich wollte das Zicklein wieder die knospenden Blätter fressen, aber Elena trieb es vom Abhang weg.

Als sie es in Sicherheit wusste, sah sie sich noch einmal um. Vor ihr fiel das Land zum Meer hin ab. Links von ihr war die Hauptstadt mit dem Palast des Herrschers, ihren Minaretten, den trutzigen Stadtmauern und den dahinter verborgenen Souks, Gärten und Bädern zu sehen, von denen sie schon so viel gehört hatte. Eine Bewegung in der Bucht von Ponsa fing Elenas Blick. Ein Handelsschiff war vor Anker gegangen. Es tanzte auf den Wellen, und der Wind riss in den Segeln. Ruderboote näherten sich dem Ufer. Wer war das? Ein bunter Baldachin kam in ihr Blickfeld, von Dienern getragen. Das musste ein bedeutender Besucher sein, wenn ihr Herr ihn persönlich empfing. Yaqub Ibn Nasser war ein altgedienter Grundbesitzer und Kaufmann, der es angeblich nicht mehr nötig hatte, die Mühen der Handelsreisen auf sich zu nehmen.

Elena genoss noch einen Augenblick das Spiel von Sonne und Wolken über dem Mare Mediterraneum. Das Meeresblau kontrastierte wunderbar mit den Braun- und Ockertönen der Felsen und dem frisch sprießenden Grün. Der Winterfrühling war für sie die schönste Jahreszeit. Die ersten Regenfälle nach dem sonnendurchglühten Sommer erfrischten Himmel und Erde. Alles blühte auf. Selbst ihre Mutter schien Lebensfreude zurückzugewinnen.

Elena riss sich von der Aussicht los. Sie durfte nicht trödeln, ihre Eltern warteten sicher schon auf sie. Natürlich waren die Ziegen inzwischen in verschiedene Himmelsrichtungen ausgebüxt. Elena hatte Mühe, sie wieder zusammenzutreiben. Bald wurde der Gesang lauter und verlieh auch den Schritten des Mädchens noch mehr Schwung. Dann konnte sie den Olivenhain sehen. Silbergrün zitterten die Äste der knorrigen Olivenbäume unter den Schlägen der Sklaven. Teppiche aus Butterblumen leuchteten neben den Tüchern, die unter den zerfurchten Baumstämmen ausgebreitet waren. Die Oliven wirkten wie ein schwarzer Tröpfelregen. Frauen füllten die Früchte von den Tüchern in große Säcke, die anschließend auf Eselskarren zum Landhaus gebracht wurden. Elenas Mutter Loukia las danebengefallene Oliven in ihrem Kittel auf und scherzte mit Itys; Elenas Vater klopfte die Früchte aus dem Baum. Er war so hochgewachsen, dass er sich kaum strecken musste, um die höchsten Äste zu erreichen. Die unbeschwerten Stimmen ihrer Eltern weckten Erinnerungen in Elena, die ihr ins Herz schossen: ihr kleiner Bauernhof an der thrakischen Küste. Ihre Familie bei der gemeinsamen Feldarbeit. Der Übermut ihres kleinen Bruders, der in ihren Gesang alberne Wortspiele einflocht. Der jähe Schmerz nahm ihr für einen Augenblick den Atem. So war es früher gewesen. So sollte es sein. So wäre es auch heute noch, wenn ihr Dorf nicht überfallen und sie als Sklaven verschleppt worden wären. Resigniert atmete sie tief ein und aus. Ihr Schicksal hatte sich gewandelt. Es war sinnlos, sich dagegen aufzulehnen. Genau genommen hatten sie Glück gehabt, dass sie auf dem Sklavenmarkt nicht als Familie auseinandergerissen und an verschiedene Herren verkauft worden waren. So konnten sie sich fast jeden Tag sehen, wenn auch manchmal nur aus der Ferne.

In diesem Augenblick bemerkte Elena, dass sich jemand vor ihr aufbaute. Groß und muskelbepackt, mit einem harten Gesicht. Es war Cassim, der Aufseher.

»Da bist du ja endlich. Hast wohl wieder getrödelt? Vor dich hingeträumt, was?«, sagte er in einem Tonfall, der sie den Blick senken ließ. Mit Cassim war nicht zu spaßen. Stumm schüttelte sie den Kopf. Seine rauen Finger umfassten ihr Kinn und drehten ihren Kopf, sodass er die zerkratzte Wange begutachten konnte. »Wie siehst du überhaupt aus?«

»Ich habe … Ein Zicklein hatte sich in einem Dornenbusch verheddert«, log Elena und schob eine Haarsträhne wieder unter das Kopftuch. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass ihr Vater sie beobachtete. Itys hatte ein aufbrausendes Temperament. Er würde niemals zulassen, dass jemand ihr etwas antat. Aber der Preis für seinen Kampfgeist war hoch. Als er das letzte Mal gegen schlechte Behandlung protestiert hatte, war er beinahe totgeschlagen worden. Wann ließ Cassim sie endlich wieder los?

»Du solltest nicht mehr die Ziegen hüten, das habe ich dem Herrn schon gesagt. Ein so hübsches Mädchen und allein …« Cassim musterte sie so lange, dass ihr unbehaglich zumute wurde. Was meinte er damit? Elena fand sich nicht hübsch. Sie war zu groß, zu knochig, nur ihr Haar mochte sie, das dick und schwarz war wie das ihrer Mutter.

»Es wäre doch ein Jammer, wenn ein anderer das Vergnügen hätte«, setzte Cassim mit einer Stimme hinzu, die sie erschauern ließ.

»Elena, komm her! Die Frauen brauchen deine Hilfe!«, rief ihr Vater da.

Cassims Kiefer mahlten, sein Griff wurde grob. Elena versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. Endlich ließ er sie los. »Bring die Ziegen in den Pferch, nun mach schon«, meinte er grimmig.

Besorgt beobachtete Elena beim Weitergehen, dass Cassim direkt auf ihren Vater zusteuerte. Ein Wortwechsel. Die harschen Töne und der ängstliche Blick ihrer Mutter sagten ihr alles. Cassim riss ihrem Vater den Rechen aus der Hand.

»Nicht!«, schrie Elena noch.

Der Gesang der anderen Sklaven stockte, dann sangen sie halbherzig weiter, von Furcht getrieben, ebenfalls den Zorn des Aufsehers auf sich zu ziehen. Ihre Mutter warf sich Cassim zu Füßen. Einen Augenblick sah es so aus, als ob dieser Itys verprügeln würde, aber dann beließ er es bei einem einzelnen kräftigen Schlag und wandte sich ab. Elena fing den warnenden Blick des Vaters auf. Itys machte sich wieder an die Arbeit, als wäre nichts geschehen. Bebend trieb sie die Ziegenherde weiter; sie wusste, dass jeglicher Protest die Situation nur noch mehr zuspitzen würde.

Am Pferch traf sie auf den Sklaven Niko, der ebenfalls eine Ziegenherde gehütet hatte. Niko war etwa in ihrem Alter und wie sie aus Thrakien verschleppt worden. Er half ihr, die Ziegen hinter den Zaun zu scheuchen.

Niko musterte sie. »Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«

Elena wollte nicht darüber sprechen, sondern sah zu der Gesellschaft vor dem Landgut hinüber. Der Besuch wurde ins Haus geführt. Ihr Herr trug einen Edelstein an seinem Turban und einen fein besticken Kaftan. Er zeigte gern, wie reich er war, und unter den Sklaven gab es einige, die davon überzeugt waren, dass er in seinem Landhaus unvorstellbare Schätze verbarg. Der Gast hingegen war schlichter gekleidet und trug an seinem Gürtel mehrere Beutel. Nur sein wilder Bart fiel ins Auge.

»Ein Händler, märchenhaft reich und mächtig. Unser Herr hat angeblich ein großes Geschäft mit ihm vor«, wusste Niko. »Wenn du mich fragst, geht es um die Lieferung Tuche, die vor ein paar Tagen hier angelandet wurde. Still und heimlich nachts, damit niemand etwas davon mitbekommt und Zoll ford… «

»He, ihr da! Macht schneller!«, unterbrach Cassim sie laut. Elena und Niko eilten sich, seinem Befehl nachzukommen.

Der Singsang war wieder gleichmäßiger geworden. Abwechselnd sangen Frauen und Männer im Rhythmus ihrer Arbeit. Elena machte sich daran, mit ihrer Mutter die Oliven einzusammeln, und stimmte in den Gesang mit ein. Langsam beruhigte sie sich. Wenn sie alle miteinander arbeiteten, wenn das Geschwätz der Einzelnen verstummt war, das sie oft genug verwirrte, und wenn ihre Eltern bei ihr waren, dann war sie am glücklichsten.

Im Mittagshoch wurden Wassereimer und ein Kessel herbeigeschafft. Die Arbeiter setzten sich in den Schatten des Baumes, den sie zuletzt abgeerntet hatten. Zu Elena und ihrer Familie gesellten sich auch Elenas Freundinnen Ocsona und Zaza sowie die alte Jaquinta. Loukia füllte ihrem Mann und ihrer Tochter mit frischem Rosmarin gekochte Kichererbsen in Holzschalen ein. Itys berührte die Hände seiner Frau, als sie ihm die Schale reichte. Elena sah, dass er sich kaum beherrschen konnte, sie in die Arme zu schließen. Loukia lächelte tapfer. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, und Fältchen hatten sich neben das Muttermal auf ihrer Wange gegraben. Sie hatte nie den Verlust ihres Hofs, ihrer Freiheit und vor allem ihres kleinen Sohnes, der bei dem Überfall der Sklavenhändler umgekommen war, verwunden. Als Cassim zum Herrenhaus ging, legte Itys die Hand auf Elenas Schulter; kurz schmiegte sie sich an ihn. Ihr Vater war hager und verschwitzt, die harte Arbeit hatte seinen Körper gezeichnet.

»Bist du auch wirklich nicht verletzt?«, fragte Elena.

»Halbherzig hat er zugeschlagen, um sein Gesicht zu wahren. Kann es sich nicht leisten, einen tüchtigen Arbeiter zu verlieren. Du solltest ihm aber aus dem Weg gehen! Wenn ich sehe, wie er dich anstarrt, wird mir ganz übel!«, fügte er leise hinzu.

Loukia stocherte in ihrem Eintopf. »Wenn wir nur hier verschwinden könnten!«, sagte sie.

Itys sah sie liebevoll, aber auch ein wenig resigniert an. »Du weißt doch, dass das unmöglich ist. So oft schon habe ich die Fluchtwege ausgekundschaftet, aber die Mauer um das Landgut ist hoch und die Wächter sind zahlreich. Wohin sollten wir auch fliehen? Wir haben kein Geld, kein Schiff. Hier ist niemand, der uns helfen kann. Nicht umsonst lebt unser Herr so weit draußen. Hier kann er schalten und walten, wie er will.«

»Vielleicht ist das auch gut so. In Madina Mayurqa wurden erst kürzlich wieder christliche Sklaven gezwungen, sich zu Allah zu bekennen. Islam oder Tod, heißt es«, wusste die alte Jaquinta.

»So wird in al-Andalus schon lange mit den Dhimmis umgegangen. Wir konnten uns glücklich schätzen, dass hier bislang keine Verhältnisse wie auf dem Festland bestanden haben, was Ungläubige angeht«, meinte Itys bitter.

Über Mallorca herrschte ebenfalls die strenggläubige Dynastie der Almohaden, das hatte auch Elena gehört. Allerdings schien Abu Yahya, der Wali der Inselgruppe, wenig davon zu halten, die Bekehrung der christlichen Sklaven mit drakonischen Maßnahmen voranzutreiben. Auch auf diesem Hof gingen Christen und Mauren freundlich miteinander um. Sie waren alle Sklaven – warum sollten sie sich gegenseitig das Leben schwer machen? Ocsona glaubte ebenfalls an Allah, was ihrer Freundschaft keinen Abbruch tat.

Das Stimmengewirr lenkte Elena ab. Die Sklaven plauderten, scherzten, turtelten und stritten. So viele Gefühle waren im Spiel, dass es Elena Mühe kostete, sich auf ihre Eltern zu konzentrieren. Auch deshalb hütete sie gern die Ziegen. Es fiel ihr schwer, Menschen einzuschätzen. Oft genug sagten sie das eine und meinten das andere oder umgekehrt.

»Hast du mir zugehört?« Ihr Vater sah Elena an. Sie blinzelte. Was hatte Itys gesagt? »Halt dich von Cassim fern. Ich kann dich nicht immer schützen! Ich muss versuchen, mit dem Herrn zu reden. Vielleicht versetzt er dich ins Haus oder erteilt dir die Erlaubnis zu heiraten.«

»Tu das nicht! Sonst wird er noch selbst auf Elena aufmerksam!«, protestierte Loukia.

»Das wäre nicht das Schlechteste«, mischte sich Ocsona ein. Sie war eine pragmatische junge Frau, die über die Gabe verfügte, in allem das Beste zu sehen. »Wenn Allah, gepriesen sei sein Name, will, dass Elena schwanger wird, sorgt der Herr für das Kind und Elena bekommt bessere Aufgaben. Außerdem wird sie sich dann überlegen, ob sie sich zum wahren Glauben bekennen will. Also, ich hätte nichts dagegen«, sagte sie augenzwinkernd.

»Mit unserem Herrn das Lager teilen?! Wie kannst du das sagen? Er ist uralt! Arme Elena! Ich würde nie freiwillig …« Die feinsinnige Zaza schüttelte sich vor Ekel.

»Ich kann auf Elena aufpassen«, warf Niko nun grimmig ein.

Itys nahm dankbar das Angebot an. Loukia reichte ihrem Mann ihre Schüssel; sie hatte kaum einen Löffel gegessen. Elena hingegen war rot geworden. Es beschämte sie, wie über sie geredet wurde.

Schon kehrte Cassim zurück und trieb sie wieder zur Arbeit. Wenig später ritten ihr Herr und sein Besucher im Gefolge ihrer Diener herbei. Plaudernd sahen die Männer ihnen eine Weile bei der Arbeit zu. Anschließend trabten sie in Richtung des neu erschlossenen Landes mit seinen bepflanzten Terrassen, Bewässerungsgräben und Windmühlen davon.

Als die Sonne sich in das Meer senkte und die aufgezogene Wolkenschicht in einen veilchenfarbenen Vorhang verwandelte, kehrten die Sklaven müde und schmutzig zu ihren Quartieren zurück. Beim Abschied wollte Loukia noch einmal die Hand nach Itys ausstrecken, doch die Geste erstarb. Es hatte keinen Sinn, sie würden ohnehin getrennt werden.