INHALT

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Prolog
  7. 1. Kapitel
  8. 2. Kapitel
  9. 3. Kapitel
  10. 4. Kapitel
  11. 5. Kapitel
  12. 6. Kapitel
  13. 7. Kapitel
  14. 8. Kapitel
  15. 9. Kapitel
  16. 10. Kapitel
  17. 11. Kapitel
  18. 12. Kapitel
  19. 13. Kapitel
  20. 14. Kapitel
  21. 15. Kapitel
  22. 16. Kapitel
  23. 17. Kapitel
  24. 18. Kapitel
  25. 19. Kapitel
  26. 20. Kapitel
  27. 21. Kapitel
  28. 22. Kapitel
  29. 23. Kapitel
  30. 24. Kapitel
  31. 25. Kapitel
  32. 26. Kapitel
  33. 27. Kapitel
  34. 28. Kapitel
  35. 29. Kapitel
  36. Epilog
  37. Anhang
    1. Figuren
    2. Weitere Nebenfiguren
    3. Völker
    4. Länder und Orte
    5. Götter Maluns

ÜBER DIESES BUCH

Auf Ruann herrscht immer noch Krieg um die letzten Wasservorräte. Der Offizier Dorgen ist inzwischen zum Heerführer aufgestiegen. Er ist entsetzt, als ihm sein mächtiger Schwiegervater Walerius aufträgt, den letzten großen Wald abzubrennen, um die Feinde in die Knie zu zwingen. Aber kann Dorgen sich ihm widersetzen? Währenddessen versuchen die geflohene Sklavin Alia und der desertierte Soldat Tailin, den Lauf der Dinge aufzuhalten. Beide begeben sich in Lebensgefahr, um ihre Welt vor dem Untergang zu bewahren. Doch der Herrscher Sapions verfügt über zerstörerische Magie – und ihre grausame Macht wurzelt längst schon tief in den Seelen der Menschen.

ÜBER DIE AUTORIN

Daniela Winterfeld wurde 1978 in Rheda-Wiedenbrück in NRW geboren. Sie ist in Westfalen auf einem Bauernhof aufgewachsen, zwischen Natur und Tieren und in einem riesigen Haus, auf dessen Dachboden sich die Familiengeschichte von 500 Jahren finden ließ. So ist es kein Wunder, dass sie bereits in ihrer Jugend mit dem Schreiben begann. Später studierte sie Literaturwissenschaften mit den Nebenfächern Geschichte und Psychologie. Bis heute dienen ihr historische Begebenheiten, Märchen, Mythologie und die menschliche Psyche als liebste Inspiration für ihre Bücher. Inzwischen lebt die Autorin mit Mann und Kindern in Berlin.

Daniela Winterfeld

BLUT
SOHN

Die Quellen
von Malun

Roman

PROLOG

Östliches Südfarua, Wildnis

NUROK

Das Licht der Nachtsonne leuchtete orangefarben auf den trockenen Wiesen, heißer Wind fegte darüber hinweg und trieb dunkle Wellen durch das Meer aus Gräsern. Schon seit mehr als einem Tagesritt erstreckte sich dieses Gras über die weitläufigen Hügel, und je länger Nurok durch die faruanische Landschaft ritt, desto heftiger hämmerte die Angst in seiner Brust. Er war noch nicht oft als Bote geritten, und so allein in der Weite ängstigte ihn fast alles: dieses Rotlicht der Sonne, das entfernte Heulen der Vatus, die nur auf eine schwache Beute warteten, und nicht zuletzt die vereinzelten Bäume und Wäldchen, die im Nachtlicht wie geisterhafte Schatten aufragten.

Oder waren es nur seine Nerven, die nach zwei durchwachten Nächten überreagierten? Er musste ankommen. Endlich ankommen.

Andererseits – vielleicht doch eine Pause einlegen? Wenigstens jetzt? Weil es endlich still genug war, sodass er schlafen konnte?

Als hätten seine Gedanken es herbeigerufen, setzte das Kreischen des Säuglings wieder ein. Bestialisch und rau durchdrang es die Nacht. Das Pferd machte einen Satz zur Seite, buckelte nach vorn und beendete seine Panikattacke mit einem Stolpern. Nuroks Herzschlag hämmerte mit dem Trommeln der Hufe um die Wette. Dieser Säugling war ein Monster, eine Bestie, die Ursache dafür, dass sich jedes Haar an seinem Körper sträubte. Nur einen winzigen Blick hatte er auf das grausam entstellte Gesicht geworfen, ehe er das Tuch über sein Antlitz geworfen hatte. Es war gleichgültig, ob dieses Ding tot oder lebendig ankam, das hatten auch seine Kameraden gesagt. Aber keiner von ihnen war bereit gewesen, die Aufgabe an Nuroks Stelle zu übernehmen. Sie hatten ihm nur erklärt, wohin er das kreischende Bündel bringen sollte, und hatten sich dann eilig von ihm verabschiedet. Sogar ein fertig gesatteltes Pferd hatte ihm jemand gebracht, um ihn und das Biest möglichst schnell loszuwerden. Beim Proviant hingegen hatten sie gespart, ein weiterer Grund, warum er bald aus dem Sattel fallen würde.

Er musste ankommen. Endlich ankommen. Unerbittlich trieb er sein Pferd zum Galopp. Das Tier atmete keuchend, sein Hufschlag dröhnte schwerfällig auf der trockenen Erde. Dennoch durfte er nicht nachgeben, durfte nicht langsamer werden.

Das Kreischen des Säuglings steigerte sich, schrillte in seinen Ohren. Dieses Biest trieb ihn zum Wahnsinn. Es bekam seit Tagen nichts zu essen. Warum krepierte es nicht einfach? Dann hätte er es für die Vatus ins Gras werfen und umkehren können.

Anfangs hatte er nicht gewusst, wie er dieses Kind überhaupt auf dem Pferd transportieren sollte. Doch seine Kameraden hatten nur abgewunken. »Egal«, hatten sie gesagt. »Binde es irgendwo fest, die Dinger sind unverwüstlich. Hauptsache, du verlierst es nicht. Und Hauptsache, du bist schnell. Die Viecher sind keine Menschen. Nur Monster wachsen in dem Tempo. Du musst es wegbringen, ehe es laufen lernt.«

Die anderen wussten, wovon sie sprachen. So gut wie jeder aus Rabanus’ Garde hatte schon mal eins von den Säuglings-Monstern wegbringen müssen, und die Horrormärchen darüber beherrschten nicht nur die Abende am Lagerfeuer, sondern so gut wie jeden Albtraum, aus dem die Männer nachts aufschreckten.

Voller Grauen hatte Nurok das Ding mit dem Tuch zusammengewickelt und in eine seiner Satteltaschen gesteckt. Jetzt hörte er, wie sich das Leder dehnte und die ersten Nähte zerrissen. Seine letzte Rast hatte er nur gemacht, um zusätzlich Schnüre um die Satteltasche zu binden, damit sie nicht aufging und das Monster zu Boden fiel.

Pass auf, dass du es nicht verlierst.

Es wächst rasend schnell.

Bring es weg, bevor es laufen lernt.

Nurok wagte es nicht, nach hinten zu schauen. Er wollte nicht sehen, wie groß es schon war. Was, wenn es ihn von hinterücks anfiel und auffraß? Taten die Monster so etwas? Fraßen sie Menschen?

Milch tranken sie jedenfalls nicht. Wenn dieses Bündel ein Wesen mit normalen Bedürfnissen wäre, dann bräuchte es eine Mutter, die es mit Milch nährte. Kein neugeborenes Fohlen hätte so lange überlebt ohne seine Mutter. Doch dieses Ding schien nicht einmal an Kraft zu verlieren. Ganz im Gegenteil: Sein Kreischen wurde immer durchdringender.

Erst als Sapia am Ende der Nacht unterging und die kurze Dunkelheit über dem Land aufstieg, ließ Nurok sein Pferd in Schritt fallen. Auf jedem anderen Ritt hätte er in der Dunkelheit eine Rast eingelegt. Aber wie sollte er einschlafen, wenn dieses Ding jeden Moment die Satteltaschen sprengte und dann neben seinem schlafenden Körper im Gras landete?

Nurok schüttelte sich. »Halt durch«, murmelte er. »Halte durch, Nurok, du schaffst das.« Doch seine Augen fielen zu. Nur kurz ausruhen. Nur ein bisschen im Sattel die Augen schließen. Männer konnten auch beim Reiten schlafen. Er wusste das. Oft genug hatte er es getan.

Er bemerkte kaum, wie der Säugling verstummte. Ruhe, endlich Ruhe. Die schwankenden Schritte lullten ihn ein. Und dann Stille.

Harter Schmerz ließ ihn aufschrecken. Der Boden! Er lag auf dem Boden. Er war gefallen. Das Pferd stand neben ihm. Er musste aufstehen. Weiterreiten! Doch er konnte nicht. Der Erdboden hielt ihn fest.

Als er aufwachte, war es hell. Rabanus glühte über dem östlichen Ausläufer des Waldgürtels. Nurok schreckte hoch. Hatte er tatsächlich geschlafen? Und wo war das Monster? Warum schrie es nicht?

Das Pferd stand neben ihm. Es hatte ein Bein angestellt und döste mit gesenktem Kopf. Doch was war mit dem Kind? Von hier aus konnte Nurok das Bündel nicht sehen, er hatte es auf der anderen Seite angebracht.

Sein Körper war noch immer schwer von der Müdigkeit, schwer von der Anstrengung. Dennoch kam er auf die Beine, torkelte um das Pferd herum und warf einen Blick auf die Satteltaschen.

Sie waren weg! Das Kind war weg!

Panik überfiel ihn. Das Monster war entkommen. Es würde wachsen und laufen lernen – und dann würde es jagen und Menschen fressen.

Panisch sah er sich um.

Dann hörte er das Kreischen. Genau in diesem Moment setzte es ein, weiter hinten im Gras, irgendwo in der Richtung, aus der er gekommen war. Die Stimme der Kreatur war tiefer geworden, nicht mehr schrill und hoch wie von einem Säugling. Mehr wie ein … Tier in der Größe eines Vatus.

»Beim Blute der großen Göttin«, murmelte er. Was sollte er tun? Fliehen? Oder seiner Pflicht folgen und das Biest einfangen?

Wenn Rabanus herausfand, dass er seine Aufgabe nicht erfüllt hatte, würde er, Nurok, über dem Feuer enden. Rabanus bestrafte immer mit Feuer, egal, wie klein das Vergehen war, das seine Soldaten begingen. Dabei zu sterben, war die größere Gnade. Deutlich mehr Männer überlebten die Strafe ihres Herrn.

Nurok schluckte. Er durfte nicht versagen. Er musste das Ding wegbringen, auch wenn es sein Leben kostete.

Mit zusammengebissenen Zähnen griff er sein Pferd am Zügel, zog den widerwilligen Gaul hinter sich her und lief durch die Spur, die sie im hohen Gras hinterlassen hatten. Immer näher drang das Kreischen, immer tiefer schien die Stimme zu werden. Dann lag es vor ihm. Das Bündel war gewachsen! Wenn es gestern noch so winzig wie ein Feldhuhn gewesen war, strampelte es jetzt in der Größe eines halbwüchsigen Mastferkels. Doch sehen konnte er nicht viel. Das Leder der Satteltasche spannte sich um den kreischenden Körper.

Besser so! Er wollte nicht verletzt werden, wenn er das Biest einsammelte. Er holte weitere Seile aus der zweiten Satteltasche, band sie zu Schlaufen und trat auf das Monster zu. Soweit er die Form erkennen konnte, lag es auf dem Rücken und rollte sich hin und her wie ein Käfer, der versuchte, auf die Beine zu kommen.

Was, wenn es schon laufen konnte? Um keinen Preis durfte es aufstehen!

Nurok warf die erste Schlaufe als Lasso und fing das Ding an seinem oberen Ende. Mit einem Ruck zog er das Seil fest, stürzte sich ein paarmal nach vorn, um es um die zappelnden Gliedmaßen zu schlingen. Dann nahm er die zweite Schlaufe von seiner Schulter. Dieses Mal fesselte er das Ding an seinem anderen Ende, bis sämtliche zappelnden Teile eng an den Körper gebunden waren.

»So richtest du keinen Schaden mehr an!«, knurrte er.

Hoffentlich, wisperte die Furcht.

Mit gesträubten Nackenhaaren beugte er sich zu dem Bündel aus Stricken und Leder und hob es hoch. Das Ungetüm stank: nach versengter Haut und angeschmorten Haaren. Als wäre es im Feuer verbrannt.

Nurok wurde übel. Das hier war der Gestank der Feuerstrafen. Wenn diese Art von Rauch durch das Gardelager zog, wagte sich niemand aus dem Zelt, aus purer Angst, in Rabanus’ Blickfeld zu geraten – oder den Kameraden zu sehen, der im Feuer gefoltert wurde.

Ihm am nächsten Tag zu begegnen war schlimm genug. Wenn er entstellt und erblindet durch das Lager kroch. Wenn er um Nahrung und Wasser bettelte, oder einfach nur irgendwo lag, um zu sterben.

Fast immer blieben die Bestraften zurück, wenn sie das Lager auflösten und weiterritten. Nur wenige besaßen noch die Kraft, um ihrem Tross zu folgen oder gar ihren Dienst wieder anzutreten.

Er selbst würde so enden, wenn er seine Aufgabe nicht bewältigte!

Entschlossen packte er das Ding enger. Sein Pferd warf erschrocken den Kopf hoch, als er das Paket hinter dem Sattel auf die Kruppe warf. Noch einmal durfte er es nicht verlieren. Zum Glück waren noch einige Seile da. Mit unzähligen Schlaufen und zahlreichen Knoten wickelte er sie um das Bündel und schnürte es an den Sattel, band weitere Seile um den Bauch des Pferdes. Immer noch eins und noch eins und noch eins, bis der Gaul selbst so aussah wie ein verschnürtes Paket. Immer wieder trat sich das Pferd unter den Bauch. Die Stricke rieben am Fell, gruben sich in die Haut.

Doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Nur das Biest musste sicher ankommen. Besser heute als morgen.

Nurok saß wieder auf, trieb sein Pferd zum Galopp und preschte durch die goldwogende Wiese. Von hier aus gesehen schien der Waldgürtel im Norden bereits unendlich weit weg zu sein. Genauso, wie die Kameraden es ihm beschrieben hatten. Er musste sich vom Waldgürtel entfernen, um auf die westlichen Ausläufer des großen Gebirges zu treffen, das sich von Pamal aus über die Grenze nach Farua schob und dort eine Reihe von versteckten Gebirgstälern beherbergte.

Er musste das richtige Tal finden. Davon hing alles ab. Wenn er sich verirrte, würde es zu spät sein, um das Ding noch sicher abzuliefern.

Wieder fing das Monster an zu kreischen. Inzwischen war es ein rauer, urtümlicher Laut, der ganz und gar nicht mehr nach einem Baby klang. Kraftvoll und ungebrochen hielt das Kreischen an, den ganzen Tag lang, bis sich Rabanus am Abend wieder dem Horizont entgegenschob.

Ein weiteres Mal war Nurok so erschöpft, dass er sich kaum im Sattel halten konnte. Er musste endlich etwas essen. Wenigstens trinken. Doch den letzten Tropfen aus seinem Lederbeutel hatte er schon am Mittag verbraucht.

Wenn er heute nicht ankam, würde er verdursten. Und das Monster käme frei, um sich an den Menschen zu rächen.

Vielleicht wäre Letzteres nur gerecht. Ob das Wort Gerechtigkeit von Rache stammte?

»Halte dich nicht mit solchen Spitzfindigkeiten auf.« Die Stimme seines Ausbilders klang in seinen Ohren. »Du bist kein Akademiker. Aber du bist ein kluges Kerlchen. Vielleicht empfehle ich dich für die persönliche Garde unseres Herrschers.«

Hätte sein Ausbilder ihn doch besser nicht empfohlen …

Endlich erschienen die Ausläufer des Gebirges am Horizont. Nurok holte alles aus dem Wallach heraus, was das Pferd an Leistung bringen konnte.

Als das Dämmerlicht hinter den Bergen verebbte, erreichte er den Eingang eines Tales. Es schien der richtige Ort zu sein. Zumindest hatten seine Kameraden den einzeln stehenden Maruschkabaum am Zugang zu diesem Tal ebenso beschrieben wie das kleine Wäldchen, durch das er reiten musste.

Unter den Bäumen überfiel ihn die Dunkelheit mit voller Wucht. Doch der Pfad schien häufig benutzt zu werden. Er war frei von überhängenden Pflanzen, und zumindest im Schritt kam das Pferd sicher voran.

Kurz darauf öffnete sich das Tal. Am Himmel herrschte die Dunkelheit der beginnenden Nacht. Sie befanden sich noch in der Mitte der Nachtsonnenzeit, und es würde ein wenig dauern, ehe Sapia aufging. Doch der Pfad zeichnete sich wie eine hellere Schlange in dem Geröll der Berge ab.

Dann sah Nurok den Eingang der Höhle. Eine Reihe von Fackeln brannten davor, als wolle das Portal seine Besucher willkommen heißen. Zwei Wachen standen im Lichtschein und spähten ihm entgegen.

Als er vor dem Eingang absaß, klang das Kreischen des Bündels wie ein raues Krächzen. Nur ein paar Mal muckte es noch auf, ehe es unerwartet still wurde.

»Ich bin Nurok aus der Leibgarde Rabanus’«, stellte er sich vor. »Ich bringe eine der Kreaturen. Bin ich hier richtig?«

Der linke Wächter brummte nur. Er schaute gleichgültig aus zusammengekniffenen Augen und kaute auf etwas. Meljok. Das zuverlässigste Mittel, um sich in eine schwere Ruhe zu versetzen.

»Ja«, murmelte der zweite und blinzelte angeekelt auf das Bündel. »Wenn das da eins von den Biestern ist, gehört das wohl hierher.«

Ein letztes Mal atmete Nurok tief die frische Bergluft ein. Dann fing er an, das Bündel loszubinden. Doch die Stricke spannten sich. Jetzt, während das Pferd stillstand, stieß es mit jedem Atemzug ein schmerzerfülltes Stöhnen aus. Kein Wunder. Immerhin schnürten sich die Seile tief ins Fell. Und in das Leder des Bündels.

Das Monster war weiter gewachsen und hatte die Seile enger gezogen!

Nurok gelang es nicht, die Knoten zu lösen. Er musste die Stricke losschneiden.

Der Gaul zitterte. Mit jedem zu Boden fallenden Seil zeigte sich ein weiterer blutiger Striemen an seinem Bauch.

Als Nurok das Monster vom Rücken des Pferdes zog, war es so schwer wie ein neugeborenes Fohlen. Beinahe brach er unter dem Gewicht zusammen. Doch wenigstens blieb es still. Mit gepresstem Atem wandte er sich an die beiden Wachen und bemühte sich, höflich zu klingen. »Wohin soll ich es bringen?«

Der meljoksüchtige Wachsoldat zuckte mit den Schultern. »Einfach rein da. Da, wo die Fackeln sind.«

Nurok besaß keine Kraft, um nach einer genaueren Beschreibung zu fragen. Er musste weiter und dieses Ding loswerden. Angstvoll wichen die beiden Wachen zurück, als er das Riesenmonster an ihnen vorbeitrug.

Waren die Biester immer so groß, wenn die Soldaten sie hierher brachten? Oder hatte er besonders lange gebraucht?

Und wie viele von den Viechern waren schon geflohen und liefen frei umher?

Pass auf, dass es nicht laufen lernt, bevor du da bist.

Dieses hier war groß. Vermutlich könnte es längst laufen, wenn es nicht eingeschnürt wäre.

Das Biest blieb stumm, während er durch den fackelerleuchteten Tunnel hastete. Dies hier musste ein verlassenes Bergwerk sein. Oder etwas Ähnliches. Unendlich lang erstreckte sich der Fackelgang in die Erde. Nurok hörte seine Schritte von den Wänden zurückhallen. Immer hohler, immer leerer, als dehnte sich eine unendliche Weite in den Berg hinein.

Warum war das Biest so still? In der Ruhe lag etwas Unheimliches. Als würde es lauschen. Lauern. Jedoch nicht ängstlich. Mehr … erwartungsvoll?

Plötzlich lag eine Weggabelung vor ihm. Beide Gänge waren erleuchtet. Welchen Abzweig sollte er nehmen?

Willkürlich entschied er sich für den rechten Gang. Hinter der ersten Biegung stieß er auf eine Wache.

»Halt!« Der fremde Soldat hob seine Fackel und versperrte den Weg. »Wohin wollt Ihr?«

Nurok hätte ihm gern das Bündel entgegengehoben, um das Offensichtliche noch offensichtlicher zu machen. Aber er konnte das Ding kaum noch halten, geschweige denn höher heben. »Wohin kommt das hier?«

In diesem Moment setzte das Kreischen ein. Tiefer als je zuvor, und dennoch mit einem schrillen Oberton. Beinahe hätte Nurok das Bündel fallen gelassen.

»Den anderen Gang entlang!«, brüllte der Wachsoldat. »Ganz am Ende ist eine Falltür.«

Eine Falltür … Nurok schauderte. Doch egal, was es mit dieser Tür auf sich hatte. Er musste das Ding loswerden. Also kehrte er um und lief in den zweiten Gang.

Mit einem Schlag verstummte das Monster. Ob es ahnte, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte?

Am Ende des Ganges ist eine Falltür.

Wie tief würde es fallen? Ob es den Sturz überlebte?

Gleich darauf hörte er es: Unter den Felsen des Ganges war etwas. Zuerst nur ein tiefes Grummeln und Schnaufen. Es steigerte sich, je weiter er kam, bis sich ein schauerliches Gebrüll erhob.

Dort unten lebte etwas. Monster. Bestien. Weitaus größer als das Ding, das er trug.

Was waren das für Kreaturen? Und was geschah mit dem verschnürten Bündel, wenn er es hinunterwarf?

Vor ihm endete der Gang an einer Felswand. Auch an den Seiten ging es nicht weiter. Und dort im Boden …

Die Falltür war aus rostigem Metall. Mindestens zehn Riegel waren um sie herum in die Steine geschlagen.

Er würde das Bündel ablegen müssen, um die Riegel zu lösen.

Pass auf, dass es nicht wegläuft.

Die Monster brüllten lauter, der Boden begann zu wackeln. Als würden große, massige Körper von unten gegen die Felsen springen.

Er wollte das Teil ablegen, doch beim Hinunterbeugen rutschte es von seiner Schulter und schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Nur kurz stöhnte es auf, dann wurde es still. Warum schrie es nicht?

Weil es lauschte! Erwartungsvoll.

Hastig schob Nurok die schweren Riegel zurück. War es Absicht, dass sie so schwergängig waren? Oder saßen sie fest, weil sie so selten geöffnet wurden?

Unter seinen Füßen erhob sich ein Beben. Die Monster brüllten im Rhythmus, das Beben steigerte sich.

Endlich hatte er die Riegel geöffnet. Vorsichtig hob er die Klappe an. Nur nicht selbst hineinstürzen! Faulige Luft stieg durch die Luke nach oben. Grauenhaftes Toben drang von unten herauf.

Und was, wenn das Monster ihn ansprang und in das Loch stieß?

Hastig warf Nurok die Klappe nach vorn, sprang selbst zurück und wirbelte zu der Kreatur herum.

Das Bündel zappelte und wand sich in den Seilen. Knirschend lösten sich die Bänder, und mit einem Ratschen zerriss das Tuch über dem Kopf.

Nurok schrie auf. Das Gesicht vor ihm war nicht annähernd das eines Menschenkindes. Es war von Narben und tiefen Spalten durchfurcht. Farblose, eisige Augen stachen aus der wabernden Masse. Darunter gab es keine Nase, nur zwei kleine Löcher und einen schwarzen Schlund mit spitzen Zähnen.

Er konnte das Teil nicht mehr hochheben. Jeder Versuch, es in die Luke zu werfen, würde ihn nur selbst in die Tiefe reißen. Also sprang er hinter das Monster, trat abwechselnd darauf ein und warf sich mit den Armen dagegen, bis das Biest die Luke erreichte.

Ob die Monster es fressen würden?

Hoffentlich.

Mit einem letzten kräftigen Stoß trat er das Ding in die Tiefe.

Die Monster grölten in der Dunkelheit. Das schwere Bündel schlug unten auf, begleitet von dem hässlichen Knirschen brechender Knochen.

Es sollte sterben! Verenden! Zugrunde gehen!

Nurok warf die Klappe wieder zu, stürzte sich auf die Riegel und schob sie davor.

Von unten sprang etwas dagegen.

Wieder hörte er sich selbst schreien. Doch gleichzeitig warf er sich auf die Luke. Nur noch fünf Riegel fehlten. Vier. Drei. Zwei. Eins.

Wieder stieß etwas dagegen. Die Metalltür rührte sich nicht mehr.

Schweißgebadet sprang Nurok auf und wich zurück. Er musste weg von hier. Was auch immer dort unten hauste, er wollte es niemals außerhalb dieses Bergwerkes sehen.

Voller Grauen drehte er sich um und rannte los.