Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. 1. Kapitel
  7. 2. Kapitel
  8. 3. Kapitel
  9. 4. Kapitel
  10. 5. Kapitel
  11. 6. Kapitel
  12. 7. Kapitel
  13. 8. Kapitel
  14. 9. Kapitel
  15. 10. Kapitel
  16. 11. Kapitel
  17. 12. Kapitel
  18. 13. Kapitel
  19. 14. Kapitel
  20. 15. Kapitel
  21. 16. Kapitel
  22. 17. Kapitel
  23. 18. Kapitel
  24. 19. Kapitel
  25. 20. Kapitel
  26. 21. Kapitel
  27. 22. Kapitel
  28. 23. Kapitel
  29. 24. Kapitel
  30. 25. Kapitel
  31. 26. Kapitel
  32. 27. Kapitel
  33. 28. Kapitel
  34. 29. Kapitel
  35. 30. Kapitel
  36. 31. Kapitel
  37. 32. Kapitel
  38. 33. Kapitel
  39. 34. Kapitel
  40. 35. Kapitel
  41. 36. Kapitel
  42. 37. Kapitel
  43. 38. Kapitel
  44. Epilog

Über das Buch

Die alleinerziehende Constanze zieht mit ihren Kindern nach Rügen. Nach dem Tod ihres Mannes vor vier Jahren will sie hier nicht nur bei der Arbeit einen Neuanfang wagen. Während die idyllische Ostseeinsel Constanze immer mehr verzaubert, versucht sie ihr Glück mit Online-Dating und taumelt von einem Katastrophen-Date zum nächsten. Doch schließlich ist Conny sicher, ihren Traummann übers Internet gefunden zu haben. Alles scheint perfekt – bis ihr neuer Nachbar dazwischenfunkt …

Über die Autorin

Marie Merburg ist im Süden Deutschlands aufgewachsen und lebt auch heute noch mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Für ihren Roman »Wellenglitzern« hat sie sich aber die deutsche Ostseeküste als Setting ausgesucht. Sie lässt ihre Heldin von der beeindruckend schönen Landschaft Rügens bezaubern und ihr bei einem Segelkurs salzige Meerluft um die Nase wehen. Ein weiterer Roman ist bereits in Vorbereitung.

Unter dem Namen Janine Wilk schreibt die Autorin auch erfolgreich Kinder- und Jugendbücher.

Marie Merburg

Ostseeträume

Roman


1. Kapitel

»Juhu, Constanze!«, rief meine Freundin Monika quer durchs Restaurant und kam zu mir an den Tisch gerauscht. »Sieh mal, wen ich zum Essen mitgebracht habe!«

Ich blickte von meinem Handy auf, mit dem ich mir die Wartezeit vertrieben hatte. Monika kam ständig zu spät, aber daran hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Meine Freundin stach in dem voll besetzten Restaurant aus der Menge heraus wie eine Mohnblüte aus dem Weizenfeld. Heute trug sie ein bodenlanges Kleid mit orientalischem Blütenmuster und ein goldenes Haarband, das ihre hennaroten Locken im Zaum hielt. Wie immer umarmten wir uns zur Begrüßung, und Monikas Patschuli-Duft umhüllte mich.

Beim Blick über ihre Schulter entdeckte ich hinter ihr einen mir unbekannten Mann um die vierzig. Er sah auffallend gut aus. Ein bisschen wie der Fußballspieler Mats Hummels. War das vielleicht ein Bekannter von Monika? Oder ihr neuer Freund? Zwar hatte sie nichts dergleichen erwähnt, aber sie war immer für eine Überraschung gut. Allerdings passte der Typ mit seinem grauen Hemd und der schwarzen Jeans kein bisschen zu Monika. Das lag selbstverständlich nicht an seinem ansprechenden Äußeren, sondern vielmehr an seiner sichtlich gelangweilten Ausstrahlung. Seinen Augen fehlte das Funkeln, und er versprühte so viel Lebensfreude wie eine Betonmauer.

»Darf ich vorstellen? Das ist Dirk.« Strahlend deutete Monika auf mich. »Dirk, das ist meine Freundin Constanze, von der ich dir erzählt habe. Ich habe nicht zu viel versprochen, oder? Sie ist Journalistin, Mitte dreißig, wunderhübsch und Single. Außerdem hat sie zwei ganz bezaubernde Kinder.«

Okay, offenbar war Dirk nicht Monikas neuer Freund! Ich starrte meine Freundin mit geöffnetem Mund an. Sie wollte mich mit dem Mats-Hummels–Double verkuppeln? Wobei … mit so einer Aktion hätte ich wohl rechnen müssen. Vor ein paar Monaten hatte ich Monika gegenüber nämlich die Bemerkung fallen lassen, dass ich so langsam wieder bereit war, über eine neue Beziehung nachzudenken. Der Tod meines Mannes Frank lag nun schon vier Jahre zurück, und die permanente Einsamkeit setzte mir ziemlich zu. Nicht nur auf seelischer, sondern auch auf körperlicher Ebene. Ich empfand ein solch qualvolles Streicheldefizit, dass ich mir kürzlich einen elektrischen Massagearm gekauft hatte, mit dem man sich selbst den Rücken krabbeln konnte. Traurig, oder? Seither drängte Monika mich dazu, endlich mit der Partnersuche anzufangen. Sie meinte, nach so langer Zeit wäre das erste Date am schwierigsten und ich solle es endlich hinter mich bringen – egal, mit welchem Typen. Offenbar hatte Monika die Geduld mit mir verloren und die Sache selbst in die Hand genommen.

»Sieh dir mal Connys lange schlanke Beine an«, fuhr sie fort, mich anzupreisen, wie ein Verkäufer auf dem Viehmarkt seinen Gaul. »Auf die bin ich besonders neidisch. Aber sie hat auch so edel geschnittene Gesichtszüge. Ein bisschen wie Nofretete, findest du nicht auch?«

Mir entfuhr ein Schnauben. Kein Mensch hatte mich je zuvor mit Nofretete verglichen. Abwartend blickte ich Monika an. War sie jetzt fertig, oder sollte ich zum Abschluss noch meine Zähne präsentieren? Die waren gepflegt und in 1A-Zustand. Da würde dieser Dirk wirklich nicht meckern können.

Er streckte mir die Hand hin. »Hallo!«

»Schön, dich kennenzulernen, Dirk!« Ich lächelte etwas gezwungen und ergriff seine Hand.

Wir setzten uns, während ich Monika unauffällig mit wütenden Blicken bombardierte. Wie konnte sie mir so etwas nur antun? Meine Freundin lächelte entschuldigend. Kaum hörbar raunte sie mir zu: »Nur zur Übung, Süße!«

Der Kellner eilte herbei. Heute bediente uns Luigi, der Neffe des Besitzers. Monika und ich trafen uns mindestens zwei Mal im Monat bei unserem Lieblingsitaliener in Heringsdorf, um zu quatschen, Sorgen zu teilen und zum Nachtisch das beste Tiramisu auf Usedom zu verputzen. Außerdem hatte man von unserem Stammplatz am Fenster einen wunderbaren Blick auf den Strand und die Ostsee. Einige Segelschiffe und die letzten Fähren des Tages bevölkerten das Meer. Durch die geöffneten Fenster wehte eine laue Brise ins Restaurant, die den frischen salzhaltigen Duft der Ostsee zu uns trug. Das allgegenwärtige Krächzen der Möwen vervollständigte die maritime Kulisse.

Nachdem wir die Getränke bestellt hatten, erklärte Monika: »Dirk war heute mein letzter Gast im Café und hat mir von seiner gescheiterten Beziehung erzählt. Er ist neuerdings nämlich wieder Single. Da ich zu unserem Treffen musste und das Gespräch nicht abrupt abbrechen wollte, habe ich Dirk einfach gefragt, ob er mitkommen möchte.«

Monika besaß in Krummin ein gemütliches und ziemlich extravagantes Gartencafé, in das sich die unterschiedlichsten Leute verirrten. Im Grunde fand ich es rührend, dass sich meine Freundin um mein Liebesleben sorgte. Ich selbst hätte an meiner Verzögerungstaktik wahrscheinlich noch monatelang festgehalten. Es war nicht einfach, als Witwe und alleinerziehende Mutter wieder auf Partnersuche zu gehen. Vielleicht sollte ich mich auf das Experiment einfach einlassen? Ohne Frage sah Dirk ziemlich gut aus.

Leider hatte Monika offenbar nicht viel Ahnung von dem Mann, den sie zu meinem ersten Datingpartner auserkoren hatte. Das zeigte schon ihre nächste Frage: »Was machst du noch mal beruflich, Dirk?«

»Bürgerbüro«, gab er knapp zur Auskunft.

Dass Dirk Beamter war, erklärte seine fehlende Lebensfreude. Die kam wohl abhanden, wenn man tagtäglich mit der deutschen Bürokratie zu kämpfen hatte. Bestimmt litt Dirk unter nächtlichen Albträumen, in denen er von einer Flut aus Eilanträgen und Ausweisformularen mit hässlichen biometrischen Fotos überrollt wurde. Biometrische Fotos standen Leichenfotos aus der Pathologie in Aussehen und Wirkung schließlich in nichts nach.

»Im Bürgerbüro!«, wiederholte Monika übertrieben enthusiastisch. Sie war wirklich eine grottenschlechte Kupplerin. Subtilität ging ihr völlig ab. »Das ist doch ein großartiger Arbeitsplatz. Dein Job ist bestimmt wahnsinnig … äh … erfüllend. Constanze, du warst doch auch schon im Bürgerbüro, oder?«

Ernsthaft? Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ja, das ist korrekt«, bestätigte ich. Es gab Momente, da konnte ich meinen Sarkasmus einfach nicht unterdrücken. »An schlechten Tagen rufe ich mir diese freudvollen Besuche im Bürgerbüro gerne ins Gedächtnis zurück, um mich daran zu erinnern, wie schön das Leben doch sein kann.«

Zum Dank für meinen Kommentar erhielt ich von Monika unter dem Tisch einen Tritt. Dirk schien meine ironische Bemerkung glücklicherweise nicht mitbekommen zu haben, denn er studierte mit ungerührter Miene die Speisekarte.

Luigi kam an unseren Tisch zurück, um unsere Essensbestellung aufzunehmen. Als Monika an der Reihe war, schüttelte sie jedoch den Kopf und drückte ihm die Speisekarte in die Hand. »Ich bleibe heute nicht zum Essen, Luigi.« Sie zwinkerte Dirk und mir verschwörerisch zu. »Ihr beiden könnt euch bestimmt besser kennenlernen, wenn ihr unter euch seid, meine Süßen!«

»Aber … aber … aber…«, stammelte ich wenig geistreich. Fassungslos musste ich mit ansehen, wie Monika zügig ihr Wasserglas leerte und mir im Gehen zwei Euro zuschob.

Ich sah meiner Freundin hinterher wie ein verletztes Pferd, das man zum Sterben zurückgelassen hatte. Jedenfalls fühlte ich mich so. Wie konnte sie mir das nur antun? Monika dachte wohl, bei einem Date zu dritt wäre eine Person zu viel anwesend. Grundsätzlich eine korrekte Annahme, die ich aber im Moment nicht teilte.

Nun waren Dirk und ich also allein. Erst jetzt wurde mir die wahre Tragweite der Situation bewusst. Um Himmels willen, ich hatte gerade ein Date! Ich hatte ganz vergessen, wie unangenehm das sein konnte: Man stellte sich dem gnadenlosen Urteil seines Gegenübers, bemühte sich krampfhaft, ein gutes Bild abzugeben, und urteilte selbst gnadenlos über den anderen. Nicht zu vergessen das unbehagliche Schweigen, wenn man sich nichts zu sagen hatte. Wie zum Beispiel jetzt. Seit Monikas Abgang hatte sich dieses Schweigen wie eine Saugglocke über unseren Tisch gelegt. Dirk widmete seine Aufmerksamkeit dem Besteck und richtete es mit kleinen Stößen seines Zeigefingers akkurat im rechten Winkel zur Tischkante aus.

»Sooo …«, sagte ich, um die Stille zu durchbrechen. »Da sind wir also.«

»Ja, da sind wir«, bestätigte Dirk.

Erneutes Schweigen.

Ich trank einen Schluck Wasser. Dann blickte ich aus dem Fenster auf die Ostsee, die sich heute Abend bis zum Horizont in perfektes Azurblau gekleidet hatte. Ich trank noch einen Schluck Wasser. Meine Güte, wieso fiel mir denn kein Gesprächsthema ein? Mein Hirn war plötzlich wie leer gefegt.

Wohl oder übel musste ich zum schlimmsten Small talk-Thema überhaupt greifen: dem Wetter.

Doch ehe ich den Mund aufmachen konnte, fragte Dirk unvermittelt: »Magst du es, zu filzen? Das ist eines von Jennys Hobbys.«

Irritiert runzelte ich die Stirn. Ich konnte mich nicht erinnern, dass dieser Name schon gefallen war. »Wer ist Jenny?«

»Meine Ex.« Er rümpfte demonstrativ die Nase. »Vor fünf Wochen und drei Tagen haben wir uns getrennt. Jenny hat mich mit unserem Nachbarn betrogen. Er heißt Oli und ist Bananenbootfahrer am Sportstrand in Zinnowitz. Das ist doch ein Skandal, oder? Kann man sich so etwas vorstellen?«

Ich wusste nicht genau, was von beidem er so skandalös fand. Dass er betrogen worden war, oder dass Jenny einen Bananenbootfahrer ihm vorgezogen hatte? Ich ging auf Nummer sicher und nickte zustimmend. Damit konnte ich nichts falsch machen. »Ein Skandal«, bestätigte ich.

Nun kam plötzlich Leben in Dirk. »Als ich sie rausgeworfen habe, ist Jenny einfach gegenüber bei Oli eingezogen. Jedes Mal, wenn ich aus dem Haus gehe, sehe ich ihre doofen Filzblumen an seinem Fenster hängen«, stieß er säuerlich aus und ballte die Hände zu Fäuste. »Ich hasse diese Blumen. Ich hasse Filzen. Ich hasse Bananenboote.«

In mir keimte der Verdacht auf, dass Dirk die Trennung noch nicht gänzlich verarbeitet hatte.

»Jenny trifft sich einmal pro Woche mit ihren Freundinnen zum gemeinsamen Filzen«, fuhr er erbittert fort. »Kurz bevor sie mich verlassen hat, hat sie noch ihre zwei Katzen gefilzt. Ernie und Bert. Guck mal!« Er griff in seine Hosentasche und holte zwei schwarzweiße Filzklumpen hervor, die man nur mit viel Fantasie der Katzengattung zuordnen konnte. Ich hoffte jedenfalls, dass Ernie und Bert nicht in Wirklichkeit derart entstellt waren.

Ein gemeines Funkeln trat in Dirks Augen. »Jenny will die Filzkatzen zurück, aber das kann sie vergessen! Sie wird sie nie wieder zu Gesicht bekommen.«

War es die Möglichkeit? Ein Sorgerechtsstreit um Filzkatzen. Ich enthielt mich lieber eines Kommentars, denn natürlich war mir klar, dass es in Wahrheit um Dirks verletzte Gefühle ging.

Er stieß die Luft aus. »Eigentlich kann ich froh sein, dass Jenny mit ihren haarigen Biestern ausgezogen ist. Ich hasse diese stinkigen Katzenklos. Ich hasse Katzen. Und ganz besonders hasse ich Ernie und Bert.«

»Aha.« Ich wollte zwar nicht vorschnell urteilen, aber mir kam es so vor, als zeichnete sich hier ein gewisses Muster ab.

»Besitzt du Katzen?«, fragte Dirk argwöhnisch.

Ich schüttelte den Kopf. »Unser einziges Haustier ist ein Goldfisch. Er gehört meinem Sohn Tom.«

»Aha.« Zu diesem Thema hatte Dirk offenbar nichts beizutragen. Wahrscheinlich hatte Jenny nicht viel mit Fischen zu tun gehabt.

Ich wollte ihn ein wenig von seinem Kummer ablenken. »Denk nicht so viel über Jenny nach, und konzentriere dich auf die positiven Dinge in deinem Leben!«, riet ich ihm und deutete zum Fenster. »Sieh mal, ist dieser Meerblick zum Beispiel nicht herrlich? Ich liebe es, der Ostsee so nah zu sein. Ich könnte den ganzen Tag hier sitzen und diese unglaubliche Weite genießen.«

»Jenny liebt die Ostsee ebenfalls«, kommentierte Dirk meinen Aufmunterungsversuch in bitterem Tonfall.

Ich konnte mir einen Seufzer nicht verkneifen. »Lass mich raten: Du hasst die Ostsee?«

Irritiert zog er die Augenbrauen in die Höhe. »Selbstverständlich nicht! Wie kann man denn die Ostsee hassen?«

In diesem Augenblick bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Sie stammte von meinem Sohn Tom, der gerade fünf Jahre alt geworden war. Er musste sich mein ausrangiertes Handy mit seiner älteren Schwester Hanna teilen. Allerdings benutzte Tom es nicht zum Telefonieren. Er verschickte ausschließlich WhatsApp-Nachrichten, obwohl er noch nicht schreiben konnte. Mein Kleiner war ein wahrer Meister der Emoji-Benutzung. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, dass er als Erwachsener der erste Autor sein würde, der einen kompletten Roman nur mit Emojis verfasste. Seine Nachricht an mich lautete:

Mal sehen … Ich nagte an meiner Unterlippe, während ich die Nachricht zu entschlüsseln versuchte. Der Junge stand für Tom, und er hatte wohl auf Hannas Klavier geklimpert. Das Mädchen in Kombination mit dem Teufelssymbol legte nahe, dass Hanna deshalb wütend geworden war und es zu einem Streit in nuklearem Ausmaß gekommen war. Die folgenden Emojis waren schwieriger zu deuten. Ich vermutete, dass Tom von Hanna irgendwo im Haus eingesperrt worden war und nun »dumm aus der Wäsche schaute«. Zuerst war mir die Bedeutung des Kothaufens unklar, doch schließlich kam ich darauf, dass Tom damit die Gästetoilette meinen musste. Es war in unserer Familie wegen der Geruchsbelästigung nämlich strengstens verboten, im Gemeinschaftsbadezimmer sein großes Geschäft zu erledigen.

Ich starrte grübelnd ins Leere. Tom war somit im Gästeklo eingesperrt. Die gute Nachricht: Er hatte fließend Wasser und konnte seine Notdurft verrichten. Davon abgesehen erfüllte mich das Verhalten meiner Kinder mit Sorge. In letzter Zeit stritten sich die beiden immer häufiger. Das hing wahrscheinlich mit unserem anstehenden Umzug von Usedom nach Rügen zusammen. Man musste kein Kinderpsychologe sein, um zu erkennen, dass Hanna und Tom verunsichert waren und ihren angestauten Gefühlen in exzessivem Geschwistermobbing Luft machten. Zum Glück hatte Tom das Handy in seiner Tasche gehabt!

»Einen Moment, bitte!«, sagte ich mit einem entschuldigenden Lächeln zu Dirk. »Es gibt da etwas Dringendes, das ich klären muss.«

Instinktiv wollte ich meinen Bruder David anrufen und ihn bitten, Tom zu befreien. Wir hatten vor einigen Jahren nämlich eine Familien-WG gegründet: Meine Mutter Astrid, mein Bruder David, Hanna, Tom und ich lebten alle unter einem Dach. Das konnte manchmal recht anstrengend sein, aber im Großen und Ganzen mochte ich unser volles Haus. Jetzt fiel mir allerdings ein, dass David überhaupt nicht daheim war, weil er noch bis morgen seine Freundin Ariane auf Rügen besuchte. Meine Mutter hütete heute Abend allein die Kinder. Das machte die Situation komplizierter, denn meine Mutter litt an Multipler Sklerose und saß im Rollstuhl. Wenn sie nicht gerade unter einem Schub litt, nahm sie trotz ihrer körperlichen Einschränkungen ganz normal am Familienleben teil und verteidigte ihre Selbstständigkeit wie eine Löwin. Wer es wagte, meine Mutter zu bemitleiden, bekam von ihr eins auf den Deckel. Ich hoffte, dass sie die Angelegenheit mit Tom auch ohne meine Hilfe regeln konnte, und rief sie an. Doch unser Festnetztelefon war permanent besetzt. Danach versuchte ich, Tom zu erreichen, doch er hatte wohl keinen Empfang mehr. Das kam nicht überraschend, denn wir wohnten außerhalb von Heringsdorf in einem winzigen Dorf. In unserem alten Bauernhaus gab es Stellen, an denen wir großartigen Handyempfang hatten, an anderen gar nicht und an manchen nur ab und zu. Die Gästetoilette zählte zu letzteren.

Unverrichteter Dinge ließ ich mein Handy sinken. »Entschuldige bitte«, murmelte ich in Dirks Richtung, obwohl ich in Gedanken immer noch bei meinen Kindern war. »Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei meiner Ex-Freundin Jenny«, platzte es sofort aus ihm heraus. »Weißt du, ich verstehe einfach nicht, wieso sie diesen Oli mir vorgezogen hat. Ich meine, ich sehe doch richtig gut aus, oder? Außerdem habe ich einen krisensicheren Job und ein gutes Einkommen. Oli dagegen ist ein Weiberheld und legt alle Frauen flach, die nicht schnell genug von seinem Bananenboot runterkommen. Denkt Jenny etwa, dieser Kerl wird ihr treu sein? Und außerdem ist das doch kein Beruf mit Zukunft, oder?«

Ich nickte zustimmend, was Dirk wohl als Aufforderung verstand, sich weiter über die zum Scheitern verurteilte Beziehung von Jenny und Oli auszulassen. Während er ohne Punkt und Komma redete, trommelte ich nervös mit den Fingern auf der Tischdecke herum. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass ich Toms Nachricht falsch interpretiert hatte. Aber was, wenn nicht? Dann saß mein armer Sohn jetzt mutterseelenallein auf der Gästetoilette fest. Ich hatte schon sein verzweifeltes Schluchzen im Ohr. Vielleicht erreichte ich daheim auch niemanden, weil es meiner Mutter schlechter ging? Ihre Krankheit war unberechenbar, und bei einem neuen Schub konnte sich ihr Zustand von einem Moment auf den anderen erheblich verschlechtern. Schreckensvisionen tauchten in meinem Kopf auf, in denen meine Mutter aus dem Rollstuhl gefallen war und sich vor Schmerzen krümmte, während meine Kinder panisch mit dem Rettungsdienst telefonierten.

»… aber ich will sie auf gar keinen Fall zurück, wenn sie am Ende wie ein Häufchen Elend bei mir angekrochen kommt«, erging sich Dirk in rachelüsternen Zukunftsvisionen. »Von mir aus kann Jenny sich draußen im Garten mit Ernie und Bert ein Zelt filzen, aber in meine Wohnung setzt sie keinen Fuß mehr. Ich bin doch kein Idiot, der sich von so einer treulosen Kuh verarschen lässt! Nein, für mich ist ein für alle Mal Schluss.«

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Luigi unseren Tisch mit den bestellten Pizzen ansteuerte. Mein Mutterinstinkt gewann die Oberhand, und ich fällte einen Entschluss. Mir war klar, dass es der Gipfel der Unhöflichkeit war, mein Date noch vor dem Essen sitzen zu lassen, aber ich hatte keine andere Wahl.

»Luigi, kannst du mir meine Pizza bitte zum Mitnehmen einpacken? Ich habe zu Hause einen Notfall.«

Entschuldigend sah ich zu Dirk. »Es tut mir wirklich leid, aber ich muss zu meinem Sohn. Er braucht dringend meine Hilfe.«

»Kein Problem!« entgegnete er schulterzuckend. »Allerdings sollte ich dir sagen, dass ein weiteres Date wenig sinnvoll wäre. Nicht böse sein, Conny, aber du bist nicht ganz mein Fall.«

Dirk war nicht gerade mein Traummann. Trotzdem war es schwer, eine derart deutliche Ablehnung nicht persönlich zu nehmen. Ich schluckte schwer. »Ah ja?«

»Ich stehe nicht auf Brünette. Und Kinder mag ich noch weniger als Katzen. Das verstehst du doch, oder? Aber wenn du Lust hast …«, er hielt kurz inne, und ein listiges Funkeln trat in seine Augen, »könnten wir noch etwas vor Olis und Jennys Wohnung auf der Straße rumknutschen? Wir hätten bestimmt Spaß. Danach kannst du gleich zu deinem Sohn weiterfahren.«

»Auf gar keinen Fall.« Zwar sehnte ich mich nach menschlicher Nähe, aber so tief gesunken war ich noch lange nicht. Wenn Dirk seine Ex eifersüchtig machen wollte, musste er sich dafür eine andere suchen!

Luigi brachte mir meinen Pizzakarton, ich bezahlte und flüchtete regelrecht aus dem Restaurant. Damit endete mein erstes Date seit Jahren recht abrupt und als Fehlschlag auf der ganzen Linie. Beim nächsten Mal konnte es eigentlich nur noch besser werden, oder?

2. Kapitel

Im Eilschritt verließ ich den Innenstadtbereich Heringsdorfs und lief in Richtung Parkhaus. Eine frische Meeresbrise wehte mir um die Nase. Obwohl es schon Anfang Juli war, hatte sich der Sommer auf Usedom bisher eher wechselhaft gezeigt. Heute war einer der ersten richtig warmen Tage gewesen, aber jetzt am Abend kühlte die Luft wieder deutlich ab. Auf dem Parkdeck musste ich nicht lange nach meinem Auto Ausschau halten, denn der bullige Pick-up in Kanariengelb stach sowohl wegen seiner Größe als auch der Farbe aus der Menge heraus. Eine seltsame Hassliebe verband mich mit diesem Auto. Der Pick-up hatte einen enormen Benzinverbrauch, und das Einparken war der reinste Albtraum. Die riesige Ladefläche hatte ich in all der Zeit auch nur ein oder zwei Mal benötigt. Doch es war das Auto meines verstorbenen Mannes, und ich brachte es einfach nicht über mich, es zu verscherbeln. Mein Bruder David, der selbst einen Oldtimer fuhr und in seiner Freizeit gerne an Autos herumbastelte, hatte meinen Pick-up immer wieder repariert und am Laufen gehalten. Doch kürzlich hatte er mir eröffnet, dass weitere Reparaturkosten den Marktwert überschreiten würden und ich mich nach etwas Neuem umsehen musste. Genau hier lag das Problem. Ich war nun mal nicht besonders offen für Neues. Mein Unterbewusstsein sträubte sich dagegen wie eine Katze gegen ein Vollbad. Für mich war es schon eine Katastrophe, wenn ich im Supermarkt nicht meine übliche Kaffeesorte bekam. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich die Sache mit der Partnersuche noch nicht offensiv in die Hand genommen hatte. Dieser doofe Umzug nach Rügen belastete mein Nervenkostüm ohnehin schon bis aufs Äußerste. Wenn ich die Wahl gehabt hätte, wäre ich lieber hiergeblieben. Da konnte Ariane, die Freundin meines Bruders, noch so lange behaupten, dass Usedom und Rügen sich unglaublich ähnlich wären. Angeblich würde ich überhaupt keinen Unterschied bemerken, wenn ich morgens nach dem Aufstehen aus dem Fenster blickte. So ein Blödsinn!

Ich drehte den Schlüssel im Zündschloss und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Doch der Motor tat mir trotzdem nicht den Gefallen anzuspringen.

»Komm schon!«, feuerte ich ihn an. »Komm schon, alter Junge!«

Die Geräusche, die das Auto von sich gab, waren erbärmlich.

Beim dritten Versuch klappte es endlich, der Motor schnurrte, und ich atmete auf. Jetzt konnte ich meinem gefangenen Sohn zu Hilfe eilen! Ich parkte aus, drückte das Gaspedal durch und raste mit quietschenden Reifen los.

Zum Glück lebten wir nicht weit von Heringsdorf entfernt in einem Dorf direkt am Gothensee. Der Ort grenzte an einen verwunschen wirkenden Wald. Er war von grünen Koppeln umgeben, auf denen Pferde und Schafe weideten. Hierher verirrten sich kaum Touristen. Im Morgengrauen schwebte der Frühnebel über den Wiesen, und abends zeigte sich am Firmament ein wahres Sternenmeer. Man hätte meinen können, wir würden weitab jeglicher Zivilisation wohnen und nicht in direkter Nähe des berühmten Kaiserbads. In Heringsdorf fand man exklusive Restaurants, gemütliche Bars, kulturelle Veranstaltungen und natürlich einen herrlichen Sandstrand. Ich liebte es, in der Abenddämmerung über die Strandpromenade zu flanieren und mich beim Betrachten der prachtvoll restaurierten Villen in die Gründerzeit des Ostseebads zu träumen. Unseren Wohnort fand ich perfekt, denn meine Kinder wuchsen in der geschützten Umgebung eines Dorfs auf. Sie konnten im Freien herumtoben und in der friedlichen Landidylle eine sorgenfreie Kindheit erleben. Jedenfalls gefiel mir dieser Gedanke, auch wenn ich wusste, dass die sorgenfreie Kindheit eher eine Wunschvorstellung war. Tom und Hanna hatten schon schlimme Zeiten erlebt, denn Schicksalsschläge machten auch vor Menschen in idyllischen Dörfern nicht halt.

In Rekordzeit kam ich zu Hause an, parkte den Pick-up quer vor dem Bauernhof und stürmte wie ein Sondereinsatzkommando durch die Haustür.

»Tom? Mama? Wo seid ihr? Alles in Ordnung?«

Ich fand meine Mutter und meine Kinder in holder Eintracht im Wohnzimmer auf dem Sofa. Sie hatten sich zu dritt unter eine Decke gekuschelt und sahen fern. Mutters Rollstuhl stand an der Seite. Hanna balancierte auf ihrem Schoß eine riesige Schüssel Popcorn, und im Fernseher lief gerade eine Aufzeichnung ihrer Lieblingssendung Phineas und Ferb. Niemand war gegen seinen Willen eingesperrt worden, keiner lag mit schmerzverzerrter Miene auf dem Boden, und ich musste meine Familie auch nicht aus den Fängen eines Schwerverbrechers retten. Alles war in bester Ordnung. Nachdem ich wie eine Irre hierhergehetzt war und sogar einige Verkehrsregeln gebrochen hatte, war das fast ein wenig enttäuschend.

»Du bist schon da?«, fragte meine Mutter überrascht. »Wir haben erst später mit dir gerechnet.«

Auch Tom und Hanna zogen einen Flunsch. Wahrscheinlich ahnten sie, dass der gemütliche Fernsehabend durch mein plötzliches Auftauchen im Nu ein Ende finden würde.

Pflichtgemäß deutete ich in Richtung der antiken Uhr auf dem Kaminsims. »Wisst ihr überhaupt, wie spät es ist? Ihr müsstet schon längst im Bett liegen. Noch sind keine Sommerferien, ihr Mäuse!«

»Aber es sind nur noch ein paar Schultage, und wir machen überhaupt nichts Wichtiges mehr«, beschwerte sich Hanna. Für ihre neun Jahre war sie schon äußerst selbstbewusst. Sie warf ihre glänzenden braunen Haare über die Schulter und blickte mich herausfordernd an.

»Und im Kindergarten auch nicht«, meinte Tom heftig nickend.

»Im Kindergarten macht ihr doch sowieso immer nur unwichtige Babysachen«, gab Hanna zurück.

»Gar nicht!« Tom verschränkte schmollend die Arme vor der Brust.

Ich lächelte meinen Jüngsten an und fuhr ihm über seinen hellbraunen Lockenkopf. »Nächstes Jahr gehst du auch in die Schule!«, tröstete ich ihn.

Ich erinnerte mich an meine eigene Schulzeit zurück. Die Tage vor den Sommerferien waren mir ebenfalls unnötig erschienen. Sowohl Schüler als auch Lehrer waren damit beschäftigt gewesen, die Uhr im Klassenzimmer anzustarren und das langsame Vergehen der Zeit zu beobachten. Deshalb ließ ich es mit dem Zubettgehen fürs Erste auf sich beruhen und fragte stattdessen: »Was war bei euch vorhin eigentlich los?«

Irritiert runzelte meine Mutter die Stirn. »Bei uns? Was meinst du damit?«

Ich zückte mein Handy und zeigte ihr Toms Nachricht. Da meine Mutter wegen ihrer Erkrankung auch Probleme mit den Augen hatte, vergrößerte ich die Symbole, damit sie sie besser entziffern konnte. Sie lachte auf. »Ach, ich verstehe! Und kaum hast du Toms kryptische Nachricht gesehen, ist das besorgte Muttertier in dir erwacht und du bist mal wieder mit fliegenden Fahnen zu einer deiner Rettungsmissionen aufgebrochen.«

»Gar nicht!« Grummelnd ließ ich mich aufs Sofa plumpsen. Okay, es war ein paar Mal vorgekommen, dass ich nach Hause gehetzt war, weil ich mir Sorgen um die Kinder gemacht hatte. Aber so oft auch wieder nicht. Nach Franks Unfall war mein Vertrauen in Gott und das Schicksal nun mal erschüttert.

Immerhin erfuhr ich nun von Tom, dass ich seine Emoji-Nachricht richtig entschlüsselt und Hanna ihn tatsächlich auf der Gästetoilette eingesperrt hatte. Allerdings hatte meine Mutter seine Hilferufe sofort gehört und Hanna gezwungen, ihn wieder freizulassen. Danach hatte meine Mutter mit Oma Trudi telefoniert, und Tom hatte das Handy nach seiner Rettung auf dem Gästeklo vergessen. Kein Wunder, dass ich niemanden erreicht hatte! Bis auf eine Sache hatte sich damit alles aufgeklärt.

»Wieso hast du ihn überhaupt eingesperrt?«, verlangte ich von Hanna zu wissen.

»Ich wollte ihm nur helfen«, verteidigte sich meine Tochter. »Ich habe gelesen, dass Leuchtkäfer eigentlich total hässlich aussehen. Erst im Dunkeln merkt man, wie schön sie sind. Und Tom ist ja auch unglaublich hässlich. Deshalb habe ich ihn ins Gästeklo gesperrt und das Licht ausgemacht. Vielleicht wäre er im Dunkeln auch schöner geworden?«

Ich verdrehte die Augen. Natürlich fand ich meinen Jüngsten ganz und gar nicht hässlich, im Gegenteil. Mit seinen Locken und den Pausbäckchen war Tom zum Abknutschen süß, aber Hanna sah das natürlich anders. Offenbar hatte ich auch mit meiner Theorie falschgelegen, dass die Kinder wegen des Umzugs nach Rügen angespannt und deshalb in Streit geraten waren.

Ich seufzte. »Lass mich raten: Die Fakten über die Leuchtkäfer hast du aus dem Buch, das Onkel David dir geschenkt hat, oder?«

Sie hatte von meinem Bruder kürzlich ein Sachbuch über das Liebesleben der Tiere bekommen. Selbstverständlich war sie damit schon durch. Hanna las alles, was ihr zwischen die Finger kam. Sie wollte später einmal Astronautin werden, und angesichts ihrer Intelligenz traute ich ihr das durchaus zu.

»Du sperrst deinen Bruder nirgendwo mehr ein, ist das klar?«, sagte ich streng.

Sie schob ihre pinkfarbene Brille, die sie seit ein paar Monaten trug, nach oben und nickte gehorsam. »Ist gut, Mama.«

Damit war meine mütterliche Pflicht erfüllt. Jetzt konnte ich mich nur noch der Hoffnung hingeben, dass meine Tochter ihr Versprechen hielt.

Ich nahm mir eine Handvoll Popcorn, obwohl ich eigentlich kein Popcorn-Fan war: Man kaute kurz, schluckte und war die nächste halbe Stunde damit beschäftigt, sich die Überreste unauffällig aus dem Zahnfleisch zu pulen. Meine Pizza hatte ich leider draußen im Auto vergessen, doch ich war zu faul, sie zu holen. Die Zeichentrickserie flimmerte über den Bildschirm, und wir lachten alle gemeinsam, als das kleine Schnabeltier mal wieder den Bösewicht besiegt hatte.

Im Geiste dankte ich meinem Bruder dafür, dass er den Fernseher gekauft hatte. Nachdem unser altes Gerät letztes Jahr kaputtgegangen war, hatten wir nämlich probehalber einige Zeit ohne Flimmerkiste verbracht. Allerdings hatten wir nicht wie erhofft jeden Abend zusammen am prasselnden Kaminfeuer gesessen, in Leder gebundene Bücher gelesen oder Gedichte rezitiert. Ohne Fernseher war unser Familienleben quasi zum Erliegen gekommen, weil sich keiner mehr im Wohnzimmer aufgehalten hatte. Stattdessen hatten sich nach dem Abendessen alle in ihre Zimmer zurückgezogen, um im Internet zu surfen, Lego zu spielen oder Radio zu hören. Ich hatte in der Zeit ausgiebig meiner geheimen Schwäche gefrönt, dem Lesen romantischer Liebesromane. Das war zwar kein Ersatz für die reale Liebe, aber besser als nichts. Wenn ich an das völlig missglückte Date mit Dirk dachte, musste ich mir wohl dringend neuen Lesestoff besorgen. Bei meinem chaotischen Leben konnte es noch ewig dauern, bis ich eine neue Liebe fand.

*

Am nächsten Morgen schaltete sich der Radiowecker Punkt sechs Uhr ein. Geschlagene zehn Minuten später hatte mein Verstand meinen Körper endlich dazu gebracht, aufzustehen und die Kinder aus dem Bett zu holen. Sie kommentierten meinen Weckruf mit einem gequälten Stöhnen.

Ich schlurfte weiter ins Badezimmer, wobei ich im Halbschlaf fast über einen Umzugskarton stolperte. Gestern Abend hatte ich mich noch gegen halb zwölf Uhr an den Schreibtisch gesetzt, um einen Artikel über eine Dorfversammlung, die ich am späten Nachmittag besucht hatte, zu schreiben. Es war um die permanenten Staus auf der B111 gegangen. Mit jedem Sommer, in dem mehr Touristen auf Usedom strömten, nahm das Verkehrschaos zu. Doch leider hatte auch auf der Dorfversammlung niemand eine geniale Lösung parat gehabt.

Da ich mich heute Morgen ganz besonders erschlagen fühlte, wagte ich den Versuch, mich zur Abwechslung mal kalt zu duschen. Das sollte schließlich den Kreislauf ankurbeln, oder? Wagemutig drehte ich die Temperatur herunter und trat unters Wasser. Prompt blieb mir die Luft weg, und meine Kopfhaut zog sich vor Schreck zusammen. Ich kreischte auf und tastete hastig nach dem Regler, um das Wasser abzustellen. Okay, ich war wach! Dieser morgendliche Schockmoment bestärkte mich in meiner Überzeugung, dass Veränderungen nichts Gutes verhießen.

Nachdem ich mich fertig gemacht hatte, fiel mir die verdächtige Ruhe im Haus auf. Meine beiden Mäuse lagen immer noch in ihren Betten. Ich seufzte. Wahrscheinlich hätte ich gestern doch darauf bestehen sollen, den Fernsehabend früher abzubrechen. Okay, jetzt würde die Zeit knapp werden!

Wie ein Tornado fegte ich durch die beiden Kinderzimmer, zog Bettdecken weg, riss Klamotten aus den Kleiderschränken und trieb meine Kinder vehement zur Eile an. Aus pädagogischer Sicht ein großer Fehler, denn selbstverständlich erreichte ich damit das genaue Gegenteil. Mit knirschenden Zähnen sah ich dabei zu, wie Hanna sich im Zeitlupentempo ihre Socken anzog. Währenddessen beschwerte sich Tom in seinem Zimmer lautstark, dass jemand den Reißverschluss seiner Hose geklaut hätte. Das war natürlich nicht der Fall, er hatte seine Jeans lediglich verkehrt herum angezogen. Kurzerhand warf ich meinen Jüngsten aufs Bett, zog ihm mit einem Ruck die Hose aus und wieder richtig herum an. Dann schickte ich ihn in resolutem Tonfall ins Badezimmer und hastete die Treppe nach unten zum Zimmer meiner Mutter.

Vorsichtig klopfte ich an. »Mama, bist du wach?«

Normalerweise kümmerte sich mein Bruder morgens um meine Mutter. Doch da David bei seiner Freundin Ariane auf Rügen übernachtete, musste ich seinen Part übernehmen.

»Ja, Schatz«, drang ihre schwache Stimme durch die Tür.

Ich öffnete und trat ein. Selbst im fahlen Morgenlicht, das durch die Vorhänge hereinfiel, konnte ich erkennen, dass es ihr nicht gut ging. Die Nächte waren am schlimmsten.

Multiple Sklerose hatte eine Vielzahl unterschiedlicher Symptome und verlief bei jedem Betroffenen anders. Sie wurde auch »die Krankheit mit den tausend Gesichtern« genannt. MS war eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems und führte auf Dauer zu Verhärtungen und Vernarbungen im Nervengewebe. Schon vor Jahrzehnten hatte meine Mutter die Diagnose erhalten, doch erst in den letzten Jahren war es richtig schlimm und der Rollstuhl unausweichlich geworden. Sie verlor zunehmend die Kontrolle über ihren Körper. Für kurze Momente konnte sie sich wenigstens noch auf den Beinen halten, sodass sie selbst auf die Toilette gehen oder sich aufs Sofa setzen konnte. Diese Selbstständigkeit war meiner Mutter ungeheuer wichtig.

Ich schob die Vorhänge zurück und kippte das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. »Ich bringe dir gleich deinen Tee, Mama«, versprach ich.

Benommen sah sie mich an. »Was hast du gesagt?«

Normalerweise waren David und ich voll und ganz mit Mutters Pflege und unserem Alltag beschäftigt, sodass zum Nachdenken meist keine Zeit blieb. Doch es gab Augenblicke, in denen mich die Realität wie ein Schlag ins Gesicht traf und der Zustand meiner Mutter mir schier das Herz brach. Jetzt war einer dieser Momente. Besonders weil ich wusste, wie sehr die Krankheit sie in ihrem Tun und Denken einschränkte. In ihr steckte eigentlich eine unbeugsame Rebellin, die noch nie etwas auf gesellschaftliche Konventionen gegeben hatte. Sie war als junge Frau mit ihrem zukünftigen Mann, meinem Vater, nach Prag durchgebrannt und hatte mit ihm in einer Art Künstlerkommune gelebt. Dort waren David und ich auch geboren worden und aufgewachsen. Leider war die Ehe meiner Eltern nicht besonders glücklich verlaufen. Mein Vater war nun mal leider ein elender Mistkerl. Er war auch der Grund dafür gewesen, dass meine Mutter sich damals mit meiner Großmutter auf Rügen zerstritten hatte.

Ich beugte mich über meine Mutter und strich ihr zärtlich eine braungrau melierte Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Körper wirkte zwischen dem Bettzeug so unglaublich dünn und zerbrechlich. »Ich habe gesagt, dass ich dir gleich deinen Tee bringe. Die Wärme wird dir guttun! Jetzt gebe ich dir aber erst einmal deine Medikamente.«

Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, und sie tätschelte meine Hand. »Danke, Liebes! Du weißt doch, dass ich morgens meine Anlaufschwierigkeiten habe. In einer Stunde bin ich fit. Mach dir um mich keine Sorgen!«

Anscheinend hatte ich meine Mimik nicht so gut unter Kontrolle, wie ich gedacht hatte. Ich reichte meiner Mutter die Schmerzmittel und ein Glas Wasser.

»Solltest du nicht nach den kleinen Rabauken sehen?« Sie deutete auf die Uhr auf ihrem Nachttisch. »Ihr seid spät dran.«

Ich folgte ihrem Blick und sog scharf die Luft ein. »Ach, du lieber Himmel, ich muss schnell Frühstück machen!«

Ich sprintete in Richtung Küche. Automatisch griff ich nach zwei Schüsseln und der Müslipackung, ehe mir klar wurde, dass dafür die Zeit nicht reichen würde. Schließlich musste ich Mutter auch noch beim Aufstehen helfen. Nachdem ich den Wasserkocher für ihren Tee eingeschaltet hatte, schmierte ich im Rekordtempo zwei Brote mit Birnen-Sanddorn-Marmelade und steckte sie in eine Box. Dann mussten die Kinder eben im Auto frühstücken! Wieder einmal fühlte ich mich wie eine Rabenmutter. Gemäß meiner Idealvorstellung hätte solch ein Morgen komplett anders ablaufen müssen: Ich wäre schon vor über einer Stunde gut gelaunt aus dem Bett gehüpft, um Hanna und Tom Obstsalat zu schnippeln und Dinkelwaffeln mit Bio-Honig zuzubereiten, um dann meine Engelchen mit einem Küsschen aus dem Reich der Träume zu holen. Ich seufzte. Davon war ich meilenweit entfernt. Ob es anderen alleinerziehenden Müttern genauso ging?

3. Kapitel

An diesem Morgen kam ich leider fünf Minuten zu spät zur Redaktionssitzung. Obwohl es mein letzter Arbeitstag war und nach der Sitzung zu meinem Abschied ein Sektfrühstück stattfinden sollte, ließ es sich mein Chef Karl-Heinz nicht nehmen, mich mit einem finalen Anschiss zu verabschieden.

»Ich bin fast eingeschlafen, als ich deinen Artikel über die Dorfversammlung redigiert habe«, rügte er mich.

»Was soll ich denn machen, wenn dort nichts Interessantes passiert ist?«, verteidigte ich mich.

»Du hättest dich als Vertreterin der Presse ein bisschen einbringen und einen Streit anzetteln können«, schlug Karl-Heinz vor. »Zum Beispiel hättest du auf die Gefahren für Fußgänger durch den Verkehr hinweisen können. Um dann die Verantwortlichen zu fragen, ob sie durch ihre Tatenlosigkeit den Tod eines Kindes verschulden wollen. Da wäre ruckzuck Leben in die Bude gekommen.«

So weit kam es noch! Auch wenn ich nur für eine Regionalzeitung schrieb, sah ich mich als integre Journalistin. Immerhin hatte ich das Studium als eine der Besten meines Jahrgangs abgeschlossen.

»Als ich damals für eine Zeitung in Berlin gearbeitet habe«, fuhr mein Chef fort, »hätte ich mir niemals erlauben dürfen, so einen faden Artikel zu schreiben. Ich habe stets alles getan, um …«

Damit war Karl-Heinz bei seinem Lieblingsthema angelangt. Im Normalfall dauerten die Monologe über seine großen Tage als Hauptstadtjournalist zehn Minuten oder länger. Mein Kollege Matze und ich sahen uns an und verdrehten gleichzeitig die Augen.

Am Ende der Redaktionssitzung bekam ich den Auftrag, im Laufe des Tages noch zwei Ortstermine zu absolvieren. Das war durchaus machbar, also beschwerte ich mich nicht. Beim anschließenden Sektfrühstück hielt mein Kollege Matze eine bewegende Abschiedsrede. Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, tapfer zu sein, aber schließlich kamen mir doch die Tränen und ich fiel allen schniefend um den Hals – sogar Karl-Heinz.

*

Später am Tag fuhr ich in Richtung Krummin. Die Straße war zu beiden Seiten von Bäumen eingerahmt, und goldene Sonnenflecken brachen durch das dichte Blätterdach. Gerade kam ich von einer kleinen Bootswerft, die in einer feierlichen Zeremonie ein Nebengebäude eingeweiht hatte. Es war mein offiziell letzter Job für die Ostsee Nachrichten – Regionalteil Usedom gewesen. Da ich schon mal in der Nähe war, wollte ich meiner besten Freundin Monika einen Besuch abstatten. Ich fuhr an blühenden Wiesen und sprießenden Weizenfeldern vorbei, der Fahrtwind wirbelte meine Haare umher, und ich atmete genüsslich die frische Luft ein. Es roch nach Gras, Erde und Meer. Herrlich! Viel zu schnell erreichte ich das verschlafene Dörfchen Krummin. Seit ein Kamerateam für eine Reisereportage hier in der kleinen Kirche aus dem 13. Jahrhundert gedreht hatte, hatten sich die Besucherzahlen des Dorfes vervielfacht. Davon profitierte nicht zuletzt meine Freundin Monika, die direkt neben der Kirche ihr Gartencafé betrieb. Mein Pick-up hoppelte über das uralte Kopfsteinpflaster, während eine getigerte Katze in aller Ruhe vor mir über die Straße lief und im Vorgarten eines Reetdachhauses verschwand.

Wenn man in Monikas Gartencafé kam, schien man eine andere Welt zu betreten. Ohne erkennbare Ordnung verteilten sich auf der Rasenfläche bunt blühende Blumenbeete, Obstbäume und Büsche. Sogar an den Ästen der Bäume hingen Blumenkübel, und im Gras fanden sich farbenfrohe Gießkannen, Schilder mit Sinnsprüchen und Kunstwerke aus Ton oder Metall. Gerade plauderte Monika mit drei Gästen, die den Usedomer Kochkuchen probierten. Ich winkte meiner Freundin und setzte mich auf meinen Stammplatz – einen der beiden knallroten Sessel an der Gartenmauer.

Monika kam zu mir. »Wie schön, dass du hier bist! Ich hatte schon befürchtet, du redest nicht mehr mit mir. Wegen Dirk.«

»Das Date war die reinste Katastrophe, Monika!« Ich bemühte mich um einen möglichst vorwurfsvollen Blick. »Er hat nur von seiner Ex geredet. Was hast du dir bloß dabei gedacht?«

Sie kratzte sich verlegen am Hals. »Offen gestanden nicht viel. Ich wollte dir nur einen Stoß in die richtige Richtung geben. Nach so langer Zeit ist das erste Date wie eine unsichtbare Hürde.«

Ich seufzte. »Wahrscheinlich hast du recht.«

»Ganz bestimmt sogar! Was Dates betrifft, habe ich jede Menge Erfahrung.« Sie seufzte leidgeprüft auf. »Die Suche nach dem richtigen Mann ist langwierig, anstrengend und mit jeder Menge Enttäuschungen verbunden. Manchmal zweifle ich, ob ich überhaupt jemals fündig werde. Stell dir vor, ich habe mich vor ein paar Tagen sogar bei so einer Singlebörse im Internet angemeldet!« Sie lachte auf und verdrehte die Augen.

Ehe ich einen Kommentar dazu abgeben konnte, beugte sie sich zu mir und legte mir mit entschuldigender Miene die Hand auf den Arm. »Darf ich dir als Entschädigung für das schreckliche Date einen Milchkaffee bringen? Und deine Lieblingskekse?«

Ich nickte grinsend, und sie eilte davon. Nur wenige Minuten später kam sie zurück. Während ich einen Keks in meinen Milchkaffee tunkte, ließ sie sich mir gegenüber in den Sessel sinken. Ihr hennaroter Haarschopf leuchtete im Sonnenschein wie Feuer. »Und wie läuft es mit dem Umzug?«

Ich stöhnte. »Stressig. Unglaublich, wie viel Zeug sich über die Jahre hinweg ansammelt! David ist heute von Rügen zurückgekommen und hat zusammen mit den Kindern schon die Betten abgebaut. Hanna und Tom finden es richtig cool, mit den Matratzen auf dem Boden zu schlafen. Ich schätze, für sie ist das alles ein Abenteuer.«

Meine Freundin musterte mich eingehend. »Aber du findest den Umzug immer noch ätzend, oder?« Das war weniger eine Frage als eine Feststellung.

David und meine Mutter hatten mich quasi zum Umzug gezwungen. Beide wollten unbedingt nach Rügen ziehen, und ich war einfach überstimmt worden. Und wer war daran schuld? Davids Freundin! Ursprünglich hatte ich Ariane gemocht, doch dieses ganze Chaos hatte ich im Grunde nur ihr zu verdanken. Denn sie hatte die Versöhnung zwischen meiner Mutter und Großmutter Trudi eingefädelt. Meine Mutter war auf Rügen aufgewachsen. Aber trotz ihres Heimwehs hätte sie bis vor einem Jahr nicht einmal einen Fuß auf die Insel gesetzt, weil sie mit ihrer eigenen Mutter derart zerstritten gewesen war. Über dreißig Jahre hatten die beiden kein Wort miteinander gewechselt. Aber dann war Ariane letztes Jahr auf der Bildfläche erschienen und hatte die zwei zusammengebracht. Seither waren Mama und Oma Trudi unzertrennlich und wünschten sich, den Rest ihrer Tage gemeinsam unter einem Dach zu verbringen. Natürlich hatte ich überlegt, alleine mit Hanna und Tom auf Usedom zu bleiben. Aber David war inzwischen eine Art Ersatzvater für die Kinder. Tom blickte zu seinem Onkel auf, und Hanna weinte sich an seiner Schulter aus, wenn sie sich von mir unverstanden fühlte. Auch meine Mutter war für die beiden eine wichtige Bezugsperson. Ich war nicht egoistisch genug, meinen Kindern all das wegzunehmen. Außerdem brauchte mich meine Mutter, genau wie David.

Ich stieß geräuschvoll den Atem aus. »Ich dachte, dass sich irgendwann eine Art Vorfreude auf Rügen einstellen würde. Stattdessen reißt der Umzug alte Wunden auf. Beim Ausräumen der Schränke finde ich immer wieder Sachen von Frank. Die meisten Dinge habe ich ja schon vor Jahren weggegeben. Trotzdem stoße ich jetzt immer wieder auf Kleinigkeiten. Und jedes Mal tut es weh.«