Über das Buch
Die eine ist ein Straßenkind. Die andere Erbin der mächtigsten Adelsfamilie der Stadt. Zusammen bilden sie als magiebegabte Falkin und magiebändigende Falknerin ein eingespieltes Duo. Deshalb werden Zaira und Amalia mit einem wichtigen Auftrag bedacht. Immer mehr Falken verschwinden an der Grenze zum Nachbarland Vaskander. Die beiden jungen Frauen sollen herausfinden, wer dahintersteckt, und die Falken wenn möglich befreien. Doch die Mission führt sie direkt in die Arme des Feindes …
Über die Autorin
Melissa Caruso bezeichnet sich selbst als Fantasyautorin, Teetrinkerin, Geek und Mutter – nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge. Sie studierte Kreatives Schreiben an der Brown University und bestand mit Auszeichnung. Danach schloss sie einen Master of Fine Arts an der University of Massachusetts an. Ihr Debütroman Flammenflug stand auf der Shortlist für den MORNINGSTAR AWARD 2017, den DAVID GEMMEL AWARD für das beste Debüt 2017. Melissa Caruso lebt mit ihrem Ehemann, einem Programmierer, und ihren beiden Töchtern in Massachusetts.
MELISSA CARUSO
STURMSCHWINGEN
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Frauke Meier
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Melissa Caruso
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Defiant Heir –
Book 2 of the Swords and Fire Trilogy«
Originalverlag: Orbit, Hachette Book Group, New York
This edition is published by arrangement with Orbit.
New York, New York, USA. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
Titelillustration: © Yolande de Kort/Trevillion Images
Umschlaggestaltung: Cover Design by Lisa Marie Pompilio;
Cover Art by Yolande de Kort/Trevillion Images;
Cover © 2018 Hachette Book Group, Inc
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-7830-6
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Ich kletterte zu den anderen auf die niedrige Felsenkuppe
hinauf und erkannte, was sie betrachtet hatten.
Etwas dümpelte an den Felsen, gefangen von der steigenden Flut. Schwarzes Wasser plätscherte über leuchtend scharlachrote Wolle. Ich erhaschte noch einen Blick auf dunkles Haar, das sich wie Seegras auf dem Meer ausbreitete, auf aufgedunsene weiße Finger und den Schimmer goldener Bordüren an einer allzu vertrauten Uniformjacke. Dann musste ich mich abwenden, und ich presste die Arme auf meinen rebellierenden Magen.
»Grazie der Barmherzigkeit«, flüsterte ich.
»Das ist einer von uns«, sagte Marcello erbittert. »Ein Falkner.«
Für Jesse,
weil du meinen Traum immer unterstützt hast –
und weil du mich ertragen hast,
während ich dieses Buch geschrieben habe.
Es war ein Jammer, solch einen grünen Ort niederzubrennen.
Die winzige Insel lag inmitten der vorherrschenden Strömung, die allerlei Abfälle aus der Erlauchten Stadt anschwemmte, die sich an der dem Festland zugewandten geschwungenen Küste sammelten. Im Grunde war sie nur ein Haufen Sand und Steine, ein navigatorisches Hindernis, das nicht einmal einen Namen hatte. Aber das Ufer, an dem wir standen, wurde von blühenden Sträuchern gesäumt, die bald einem Hain aus jungen Bäumen und Büschen weiter landeinwärts Platz machten, dessen bloße Existenz einem Wunder nahekam. Eine salzige Brise, die von der Lagune herbeiwehte, entlockte dem Laub, das sich der umgreifenden Gelbfärbung des Herbstes bisher hatte entziehen können, ein leises Seufzen.
Der ganze Ort wirkte viel zu leicht entflammbar. Nicht, dass das besonders wichtig wäre, wenn es um Schadfeuer ging.
Ich berechnete die Winkel und ging drei Schritte weit über den Sand. Es konnte nicht schaden, auf der Windseite zu bleiben. Dies war zwar nur eine Übung, dennoch mochte sie uns alle umbringen, sollte etwas schiefgehen.
Unter ihrem windzerzausten Durcheinander aus dunklen Locken runzelte Zaira die Stirn. »Bist du jetzt lange genug um uns herumgetanzt? Wir sind nicht hier, um ein Menuett einzustudieren.«
Ich schätzte den Abstand zwischen ihr und mir ab. Drei Fuß vielleicht. Nicht annähernd genug, dass ich mich in Sicherheit bringen konnte, sollte sie die Kontrolle verlieren. Andererseits wären dreißig Fuß dafür womöglich immer noch nicht ausreichend.
Ich nickte, und mein Herz schlug schneller. »In Ordnung.«
»Ich setze dich schon nicht in Brand«, versprach Zaira. »Nicht dieses Mal.«
»Ich vertraue dir.« Ich verzichtete darauf, hinzuzufügen: Solange du du selbst bist. Dem Wesen, zu dem sie wurde, wenn die Flammen sie überwältigten, brachte ich hingegen nicht das geringste Vertrauen entgegen.
Sie drehte sich zu Marcello um, der ungefähr fünfzig Fuß von uns entfernt auf dem grauen Sandstreifen wartete. Er wirkte entspannt. Schwarze Locken fielen auf den Kragen seiner in Scharlachrot und Gold gehaltenen Uniform. Weit hinter ihm erhoben sich auf der anderen Seite der Lagune die Stallungen und blickten ihm wachsam über die Schulter. Aber seine Hand, die er so lässig in den Gürtel gehakt hatte, berührte den Griff seiner Pistole.
Nicht, dass ihm das viel helfen würde. Das Einzige, was Zairas Feuer aufhalten konnte, war das Wort, das nur aus meinem Mund die Macht besaß, es zu löschen. Wie auch immer, bei dieser Übung sollte ich dieses Wort nicht aussprechen. Zaira trainierte ihre Beherrschung. Was auch hieß, sollte mein Urteilsvermögen mich trügen, sollte ich nur eine Sekunde zu lange warten, so würden Menschen sterben.
Die Tage an der Universität waren mir bedeutend lieber. Wenn ich dort bei einer Praxislektion versagte, musste ich mit nichts Schlimmerem als einem gestrengen Vortrag meines Professors rechnen.
»Seid ihr bereit?«, rief Zaira.
Marcello nickte.
Zaira reckte mir eine Hand entgegen, die Handfläche nach oben gewandt, als würde sie von mir erwarten, dass ich etwas hineinlegte. Das Geschüh an ihrem klapperdürren Handgelenk funkelte golden.
Mein Mund fühlte sich so trocken an wie Flugsand. »Bist du sicher, dass du das tun willst?«
»Nein, ich bin eigentlich wegen eines Picknicks hergekommen. Natürlich will ich. Gib mich frei.«
Tief atmete ich die feuchte Seeluft ein, und als ich sie wieder ausatmete, formte ich mit ihr das schauerlichste Wort, das ich kannte.
»Exsolvo.«
Zaira schloss die Hand. Als sie sie dann wieder öffnete, loderten von ihren Fingern blaue Flammen auf.
Es war nur ein kleines Ding, vorerst, aber so bösartig wie ein Hakenmesser. Mit gierigem Verlangen fraß es sich in die Luft. Schadfeuer.
Die kleine Flammenspirale bog sich in meine Richtung, gegen den Wind. Ich wich einen Schritt zurück.
»Halten Sie stand, Dama Amalia.« Das war Balos’ Stimme, tief und fest. Er hatte gegenüber von Marcello, etwa zwanzig Fuß den Strand hinunter, mit Jerith, seinem Falken und Ehemann, Position bezogen. »Sie müssen sich daran gewöhnen. In einem Notfall dürfen Sie nicht davor zurückschrecken.«
»Es ist schwer, nicht vor etwas zurückzuschrecken, das einen umbringen will«, murrte ich.
»Ist nicht persönlich gemeint.« Zaira grinste, aber die Art, wie sich die Haut um ihre Augen straffte, gab ihre Anspannung preis. Sie fürchtete sich ebenfalls. »Es will jeden umbringen.«
»Jetzt steck etwas in Brand«, rief Jerith. Irgendwie hörte er sich eher an wie ein Kind, das einen Schulkameraden verleiten wollte, Unsinn zu machen, weniger wie ein älterer Hexer, der einen jüngeren anzuleiten gedachte.
Mit einer knappen Bewegung aus dem Handgelenk richtete Zaira die Finger auf einen gedrungenen Busch mit glänzenden, runden Blättern. Ein Funke sprang aus ihrer Hand, brannte sich einen leuchtenden Pfad durch die Luft und landete in dem Gestrüpp. Blau-weiße Flammen loderten in der Mitte des Strauchs auf, krochen hungrig an seinen schwarz werdenden Zweigen empor und verwandelten sämtliches Laub in Asche.
»Halt es im Zaum«, wies Jarith sie an. Das Magiermal in seinen Augen schimmerte silbern, während er Zairas Gesicht beobachtete. »Lass nicht zu, dass es sich ausbreitet.«
»Ich weiß, was ich tue«, fauchte Zaira. Schweiß glänzte auf ihren Schläfen.
»So? Und was ist dann das?« Jarith machte eine abrupte Kopfbewegung und deutete mit dem Kinn auf das Feuer.
Von dem Gebüsch war nur ein ausladender, verkohlter Zweig übrig, aber die Flammen loderten höher denn je, reckten sich den Ästen der Bäume über ihnen entgegen. Dünne Flammenfäden mäanderten hinaus und folgten den Wurzeln des Strauches unter der Erdoberfläche.
Einer davon schlüpfte am Rand des sandigen Bereichs – dünn, machtvoll und so schnell wie eine Schlange – direkt auf Marcello zu. Die Erinnerung an Gestalten, die sich unter Qualen in dem blauen Feuer wanden, und an den Geruch von verkohltem Menschenfleisch versengten mein Bewusstsein. Ich holte Luft, hielt das Wort der Versiegelung aber doch noch zurück, obwohl es bereits gegen meine Zähne drängte.
Ich musste darauf vertrauen, dass sie es in der Hand hatte. Das war die Hälfte, die ich zum Erfolg dieser Übung beizutragen hatte.
Zaira streckte die Hand nach der rasenden Feuerlinie aus, als wollte sie sie zurückziehen, doch die Flammen loderten nur noch höher auf. Ein schwacher blauer Schimmer leuchtete in ihren Augen. Marcello wich hastig zurück, doch das Feuer war schneller und würde ihn binnen Sekunden erreichen. Ich klappte den Mund auf, um das Wort hinauszuschreien, das ihn retten konnte.
»Zaira!«, rief da Jerith in scharfem Ton.
Zaira zerschnitt die Luft mit einer raschen, ausholenden Bewegung ihrer Hand. Das Schadfeuer erlosch und ließ nur einen rauchenden schwarzen Fleck am Boden zurück.
»Seht ihr? Bestens.« Sie warf ihre dunkle Lockenmähne zurück. »Komplett unter Kontrolle.«
Aber ihre Hände zitterten ein wenig, und sie schob sie rasch in die Taschen ihres Rocks.
»Revincio«, hauchte ich seufzend und versiegelte ihre Macht. Meine Knie fühlten sich an, als könnten sie vor Erleichterung jeden Moment nachgeben.
Jerith schüttelte den Kopf. Ein Diamant funkelte an seinem Ohrläppchen. »Die Kontrolle zu wahren wird erheblich schwerer werden, wenn du es mit vaskandrischen Musketieren zu tun bekommst, oder sollte einmal die Schoßchimäre eines Hexenlords mit ihren giftigen Klauen auf dich losgehen.«
Ich scharrte unbehaglich mit den Füßen. »Wir befinden uns nicht im Krieg mit Vaskandar.«
Jerith lachte. »Nur nicht so schüchtern, gnädige Frau. Die Geheimnisse Ihres Rats sind bei mir sicher. Und jeder, der von den Truppenbewegungen gehört hat, weiß, dass die sich auf eine Invasion vorbereiten. Da ist es doch nur angemessen, wenn wir ihnen im Gegenzug die gleiche Achtung erweisen.« Mit einem Finger zeigte er auf Zaira. »Und das bedeutet, wir müssen deine Fähigkeiten, deine Macht zu kontrollieren, so weit verbessern, dass Dama Amalia dich entsiegeln kann, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, dass du sie zusammen mit dem Feind abfackeln könntest.«
Zairas Augen blitzten vor Zorn. »Damit mich das Imperium als Waffe benutzen kann.«
»Nein. Damit du niemanden umbringst, den du nicht töten willst.« Jeriths Lächeln wirkte erbittert. »Das Imperium wird versuchen, dich als Waffe zu benutzen, ganz gleich, wie gut oder schlecht du deine Macht unter Kontrolle hast.«
Balos schlang einen muskulösen Arm um die schmalen Schultern des Sturmhexers, und ich fragte mich, ob Jerith aus Erfahrung gesprochen hatte.
Marcello näherte sich uns. Tiefe Falten verunzierten seine Stirn. Ich kam nicht umhin, zu bemerken, wie sehr der Schnitt seines Uniformwamses ihm schmeichelte. Da half es wenig, dass ich mich während der letzten paar Wochen ständig ermahnt und mir immer wieder klargemacht hatte, dass wir nicht buhlten – nicht auf diese Weise umeinander werben konnten – jedenfalls nicht jetzt. Noch war ich nicht bereit, die Macht aufzugeben, die mit meinen politischen Rechten als Erbin der Contessa verbunden war.
»Das war besser«, sagte er.
Zaira warf einen kurzen Blick auf die verkohlten Überreste der Übung der letzten Woche. Da hatte ich ihr noch Einhalt gebieten müssen. »Verdammt richtig, das war es. Glaubt ihr etwa, ich würde auch nur einen von euch ertragen, würde das nicht hinhauen?«
»Wir sollten es noch einmal versuchen«, schlug Marcello vor. »Dieses Mal länger.«
Ich beäugte das Dickicht aus Sträuchern und überhängenden Zweigen rund um den geschwärzten Strunk, der von dem Busch übrig war, den Zaira niedergebrannt hatte. »Vielleicht sollten wir uns einen Ort suchen, an dem es sich nicht so leicht ausbreiten kann.«
Für einen Moment sah Marcello mich an. Lachfältchen an seinen Augenwinkeln kündeten von einer gewissen verschrobenen Belustigung. »Gute Idee. Ich kann nicht abstreiten, dass mein Herz am Ende auch einiges zu tun hatte.«
Ich erwiderte sein Lächeln, doch in meiner Brust regte sich ein vages Unbehagen. In den Wochen, seit wir aus Ardence zurückgekommen waren, hatte er sich mir gegenüber freundlich und zuvorkommend verhalten. Er war geradezu übertrieben professionell aufgetreten; es war, als hätte es diesen verzweifelten Kuss in dem Moment, den ich für ein letztes Lebewohl gehalten hatte, nie gegeben. Inzwischen war ich nicht mehr sicher, ob sich hinter seinem Lächeln womöglich ein heimlicher Schmerz verbarg.
Sein Blick entfernte sich und wanderte über den Strand. »Wie wäre es dort drüben?«
Er zeigte auf eine Reihe muschelverkrusteter Steine, die an einem Ende der sichelförmigen Insel, nicht weit von uns entfernt, eine Nehrung bildeten. Schadfeuer kann auch auf Fels brennen – oder, da wir gerade dabei sind, auf Wasser – aber dort draußen bestand zumindest nicht die Gefahr, dass eine überraschende Böe den Ast eines Baums in die Flammen drückte.
Zaira tat ihre Gleichgültigkeit mit einem Achselzucken kund, also gingen wir auf die Nehrung zu. Sie schien es nicht eilig zu haben, und ich hatte zwar eine Hose angezogen, kam mit meinen Stadtstiefeln aber in dem schlüpfrigen, weichen Sand nicht gut voran; bald fielen wir hinter den anderen zurück.
Mir sollte es recht sein. Ich musste sie etwas fragen, mich einem bohrenden Unbehagen stellen.
»Jerith hat recht«, sagte ich leise. »Dieses Mal ist es keine Finte. Vaskandar bereitet sich auf einen Krieg vor. Und du weißt, was der Rat von dir verlangen wird.«
»Ja, hab ich gehört. Musketiere. Chimären.« Sacht zupfte sie an dem Geschüh an ihrem Handgelenk, als wollte sie ausprobieren, ob es vielleicht doch endlich abging. »Dürfte sogar einfacher sein, als irgendeinen dürren Busch abzubrennen. Je kleiner desto schwieriger.«
»Bist du …« Ich suchte die richtigen Worte, um meine Frage zu formulieren. »Wie fühlst du dich dabei?«
»Warum fragt mich jedermann nach meinen Gefühlen? Bei den Titten der Grazien, du und Terika …« Sie klappte den Mund zu und presste die Lippen zusammen.
»Vielleicht sorgen wir uns um dich.«
Zaira schnaubte verächtlich. »Muss nett sein, wenn man den Luxus hat, sich Sorgen über so einen Unsinn zu machen. In den Unschlitten lernt man schnell, dass Gefühle wertlos sind. Die sind das, was die Säufer am Morgen danach in den Rinnstein pissen.«
Über manche Dinge lohnte es, mit Zaira zu diskutieren – und über manche nicht. »Ich würde es nicht gern sehen, wenn du in eine Lage gerietest, in der du gezwungen wärst, dein Feuer zum Töten zu benutzen.«
»Statt was zu tun? Fleischspieße auf dem Markt zu rösten? Es gibt nicht so viele andere Dinge, für die das zu gebrauchen ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast Jerith doch gehört. Für das Imperium bin ich ein Werkzeug, eine tödliche Waffe, weiter nichts. Und so falsch liegen sie da nicht. Wenn ich bei den Falken bleibe, dann werde ich eine Spur aus Asche durch Vaskandar ziehen. Deine süßen Skrupel und Nettigkeiten werden daran nichts ändern.«
Dieses Wenn grenzte an Hochverrat. Die Gesetze des Imperiums ließen jenen, die das Magiermal trugen, keine Wahl, auch wenn sie sie mit Reichtümern und üppigen Annehmlichkeiten für ihren obligatorischen Dienst bei den Falken entschädigten. Aber ich zweifelte nicht daran, dass Zaira, wenn sie nur wollte, jederzeit davonlaufen konnte. Nur aufgrund der Tatsache, dass sie wusste, dass ihr dieser Ausweg offenstand, hatte sie sich damit abgefunden, zu bleiben. Vorerst.
»Ich wünschte, ich könnte meine Falken-Reform durchbringen, ehe ein Krieg ausbricht.« Ich trat gegen einen Stein, der ein Stück weit über den Sand glitt. »Dann könnte jeder Magier selbst entscheiden, ob er Soldat wird. Aber meine Mutter sagt, solange die vaskandrischen Streitkräfte an unserer Grenze lauern, hätte ich keine Chance, in der Versammlung Gehör zu finden.«
Zaira bedachte mich mit einem Seitenblick. »Immer noch diese Geschichte? Das geht nie durch.«
»Wenn die Bedrohung durch Vaskandar nachlässt, könnte es das aber«, beharrte ich. »Ich habe jetzt schon ein paar Dutzend Angehörige der Versammlung überzeugt, den Antrag zu unterstützen. Ich brauche nur mehr Zeit.«
»Ein paar Dutzend. Von Tausend. Verzeih, wenn ich nicht wie ein braves kleines Mädchen darauf warte, dass du uns befreist.« Zaira blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. »Du denkst doch nicht, dass das der Grund ist, warum ich noch hier bin, oder? Dass ich auf dein albernes Gesetz hoffe?«
»Nein«, erwiderte ich stirnrunzelnd. »Ich nehme an, du bist wegen Terika geblieben.«
»Ich mag Terika«, gab Zaira zu. »Aber wenn du denkst, ich würde mich von ihr an die Stallungen ketten lassen, dann kennst du mich schlecht.«
»Mag sein«, räumte ich seufzend ein.
»Ich bin nur aus einem Grund hier.« Sie zeigte mit dem Finger auf mich. »Um zu lernen, meine Macht gut genug zu beherrschen, dass ich niemanden verletze. Gut genug, um sie zu verbergen. Denn nun weiß die Welt von mir, und es gibt keinen Ort, an den ich mich flüchten könnte. Die werden mich nie in Ruhe lassen.«
»Aha.« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte; sie hatte ja recht.
»Die mögen dein Gesetz für Artefaktoren und Alchemisten bewilligen. Wegen Geräten und Tränken machen sich die Leute nicht so ins Höschen wie bei Schadfeuer. Vor den Hexern haben sie zu viel Angst.« Sie schüttelte den Kopf. »Kein zurechnungsfähiger Mensch kann wollen, dass jemand, der imstande ist, im Alleingang aus einer Laune heraus eine ganze Stadt zu vernichten, frei herumläuft. Der ganze Kontinent Eruvia will mich sicher in den Stallungen verwahrt wissen – oder noch besser tot.«
»Ich will dich weder verwahrt noch tot sehen«, protestierte ich.
»So?« Skeptisch zog Zaira eine Braue hoch. »Wenn ich beschließe, es einfach darauf ankommen zu lassen, davonzulaufen und mich zu verstecken, was würdest du dann tun?«
Das war eine unangenehme Frage, über die ich mir in den letzten paar Wochen häufig den Kopf zerbrochen hatte. Nicht zuletzt, weil es mir schwerfiel, mir eine Zukunft auszumalen, in der Zaira damit zufrieden wäre, lange Zeit in den Stallungen eingesperrt zu sein. »Ich versuche, eine Möglichkeit zu finden, dass du auf legale Art da rauskommst. Ich versuche, den Dogen und den Rat zu überzeugen, dich gehen zu lassen.«
»Die werden mich nie gehen lassen, und das weißt du auch.«
»Tja, dann werde ich eben meinen Einfluss nutzen und tun, was ich kann, um das Imperium daran zu hindern, sich deiner zu bemächtigen. Damit du in Sicherheit bist.« Mein Herz schlug schneller angesichts der inhärenten Rebellion in dieser Aussage; meine Pflicht als Falknerin würde von mir verlangen, dass ich half, sie wieder aufzuspüren.
Andererseits war ich mehr als nur eine Falknerin.
»In Sicherheit?« Zaira stieß ein bellendes Gelächter hervor. »Wo ich bin, gibt es keine Sicherheit. Ich bin Salz gewordene Gefahr – gib mich irgendwo dazu, und ich mache es erst richtig interessant.«
»Ich kann nicht bestreiten, dass das eine recht zutreffende Beurteilung sein dürfte. Aber falls du wegläufst, wo willst du dann hin? Was willst du tun?«
Zaira trat schweigend in den Sand und setzte eine finstere Miene auf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Wenn ich es wüsste, hätte ich es schon getan. Aber der erste Schritt ist ohnehin, mein Feuer unter Kontrolle zu bekommen. Danach kann ich mir dann überlegen, was ich als Nächstes tue.«
»Also wirst du nur so lange bei den Falken bleiben?« Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. Natürlich wollte ich auch, dass Zaira frei war, und mein Leben würde ohne sie zweifellos ruhiger verlaufen. Aber das wäre eine einsame Ruhe.
»Kommt darauf an.« Zaira senkte die Stimme. »Nach diesem Schwachsinn in Ardence habe ich mir ein Versprechen gegeben. Sollte der Doge mir befehlen, Leute zu verbrennen, die das nicht verdient haben, ist die Grenze erreicht. Dann bin ich weg.«
Ich nickte. »Ich verstehe. Aber was ist, wenn er dir befiehlt, gegen Vaskandar vorzugehen? Was dann?«
»Wenn die bei uns einmarschieren, ist das etwas anderes.« Sie gab sich der Vorstellung von einem Krieg zwischen dem Imperium und seinem mächtigsten Nachbarn gegenüber so gleichgültig, als handelte es sich lediglich um ein ärgerliches Insekt. »Ich habe von den runzligen alten Relikten in den Stallungen Geschichten über den Dreijährigen Krieg gehört. Großväter, die in ihren Betten von Brombeerranken erdrosselt wurden, Kinder, die man an Bären verfütterte – die Hexenlords kennen keine Gnade. Wenn die unsere Grenze übertreten, dann werde ich ihnen zeigen, dass sie nicht die einzigen Dämonen in den Neun Höllen sind!«
Vor uns blieb Marcello auf der felsigen Erhebung auf der Nehrung stehen, als hätte ihm der Wind ein Tor vor der Nase zugeschlagen.
»Was ist das da im Wasser?« Furcht raubte seiner Stimme die Farbe.
Jerith und Balos sprangen neben ihm hinauf und blickten zu der anderen Seite des Felsens hinab. Balos schlug eine Hand vor den Mund; Jerith fluchte.
Zaira und ich wechselten einen kurzen Blick und rannten los, um zu den anderen aufzuschließen.
Zaira hatte den Felsen zuerst erklommen, und ihre Röcke peitschten hinter ihr durch die Luft. Sie schaute nur kurz zum Wasser hinab und nickte dann entschieden, ganz so, als hätte sich ein längst gehegter Verdacht bestätigt.
»Tot«, sagte sie.
Ich kletterte zu den anderen auf die niedrige Felsenkuppe hinauf und erkannte, was sie betrachtet hatten.
Etwas dümpelte an den Felsen, gefangen von der steigenden Flut. Schwarzes Wasser plätscherte über leuchtend scharlachrote Wolle. Ich erhaschte noch einen Blick auf dunkles Haar, das sich wie Seegras auf dem Meer ausbreitete, auf aufgedunsene weiße Finger und den Schimmer der goldenen Bordüren an einer allzu vertrauten Uniformjacke. Dann musste ich mich abwenden, und ich presste die Arme auf meinen rebellierenden Magen.
»Grazie der Barmherzigkeit«, flüsterte ich.
»Das ist einer von uns«, sagte Marcello erbittert. »Ein Falkner.«
*
Ich brachte es nicht über mich, Marcello, Zaira und Balos zu helfen, den Leichnam aus dem Wasser zu ziehen. Als Zaira mich als verweichlicht bezeichnete, nickte ich nur mit fest zusammengepressten Lippen und wandte den Blick ab.
Wenigstens behielt ich mein Abendessen bei mir. Als Jerith aus dem Wald zurückstolperte, wischte er sich den Mund ab und sah noch blasser aus als sonst.
»Ach, dieser arme Kerl«, krächzte er.
»Wer ist er?«, fragte ich und sah mich nervös zu der Stelle um, an der sich die anderen über die Leiche beugten. »Haben Sie ihn erkannt?«
»Nein. Dafür ist er zu zernagt gewesen. Aber sein Name sollte auf seiner Uniform stehen.« Jerith sank in den Sand und legte die Stirn auf seine Knie. »Ich habe kein Problem mit Toten. Hab schon Dutzende gesehen. Blut, furchtbare Verbrennungen, das macht mir nichts aus. Aber eine Wasserleiche, die tagelang im Meer gelegen hat, das ist etwas anderes.«
Ich nickte mitfühlend. Den Grazien sei Dank, dass mir der Wind ins Gesicht blies und die todesgeschwängerte Luft davontrug.
Die anderen richteten sich wieder auf. Balos blieb mit gesenktem Kopf bei dem toten Mann stehen. Marcello ging an uns vorbei zum Wasser und wusch sich die Hände in der sauberen, salzigen Lagune. Sein Gesicht sah abgespannt und gequält aus. Der Schmerz, der an seinen attraktiven Zügen zerrte, bohrte sich wie ein Messer in mein Inneres. Ich ging auf ihn zu.
Zaira stapfte herbei und wischte sich die Handflächen an ihren Röcken ab.
»Tja«, sagte sie, »das nenne ich aufgedunsen. Der hat schon mindestens eine Woche im Wasser gelegen.«
Jerith hob den Kopf und fluchte. »Eine Woche?«, fragte er. »Verdi!«
Marcello drückte den Rücken durch. »Ich weiß. Das ist zu lang. Sein Falke muss auch bereits tot sein.«
»Alle Höllen!« Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wenn Falkner starben, blieben ihren Falken nur ein paar Tage, um sich ein neues Geschüh zu verschaffen, oder die scheinbar harmlosen, hübschen goldenen Armreifen trieben ihre tödliche Magie in die Adern ihrer Träger und bescherten ihnen einen langsamen Tod.
So etwas sollte im Grunde niemals passieren. Zumindest glaubte Marcello, dass das lediglich eine Vorsichtsmaßnahme war, um Verbrechern oder fremden Mächten den Ansporn zu nehmen, Falkner zu töten. Ich jedoch hegte den Verdacht, dass der Doge es vorzog, den Tod eines Falken in Kauf zu nehmen, ehe er in feindliche Hände geraten konnte.
»Wer war das?«, fragte Jerith mit brüchiger Stimme.
»Anthon. Er wurde ein Jahr nach mir zum Falkner.« Marcello starrte über die Lagune zu den Stallungen hinüber. »Sein Falke war Namira, eine Artefaktorin aus Osta. Sie hatten sich beurlauben lassen, um ihre Familie zu besuchen, aber anscheinend haben sie es nie auf ihr Schiff geschafft.«
»Was ist passiert?« Ich sah mich zu Balos um, der immer noch still und ehrwürdig bei dem Toten stand; das klägliche, scharlachrote Bündel lag jenseits der Felsen und außerhalb meines Blickfelds. »Ist er ertrunken?«
»Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten«, sagte Marcello knapp. »Er wurde ermordet.«