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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-054-5
»Schau mal. Der da drüben!« Désirée Norden, von Freunden und Familie nur Dési genannt, deutete auf den Spieler mit der Nummer 7 auf dem Trikot, der seinen Rollstuhl gerade mit einem Griff ans rechte Rad herumriss. Durch die schnelle Drehung stand das Sportgerät schräg vom Boden ab. Dési schlug die Hand vor den Mund. Gleich würde er umfallen! Aber nein! Den Bruchteil einer Sekunde später stand er wieder sicher auf zwei Rädern. »Der ist ja süß.« Dési musste laut rufen, um den Lärm in der Halle zu übertönen. Das Krachen von Metall auf Metall, die Rufe der Spieler, das Quietschen der Reifen, alles hallte kunterbunt durcheinander.
Ihre Eltern hatten ihr nicht zu viel versprochen, als sie, überschäumend vor Begeisterung, von dieser Sportart berichtet hatten. Inzwischen war auch Dési glühender Fan. Denn wer diesen Sport einmal live gesehen hatte, kam meist wieder. Zu beeindruckend waren die Dynamik, die Härte, mit der die Spieler – behinderte wie nichtbehinderte – agierten. Bei einem der ersten Spiele hatte sie Julie kennengelernt, die Schwester eines rollstuhlfahrenden Basketballers. Seitdem hatten sie schon viele Spiele gemeinsam besucht. Diesen schnuckeligen Spieler, dem immer wieder eine blonde Locke ins Gesicht fiel, sah sie allerdings zum ersten Mal.
Julie wusste, auf wen ihre Freundin ein Auge geworfen hatte.
»Du meinst Fabian Tondok?«
»Was gibt es denn da zu lachen?«
»Ach, nichts.« Julie winkte ab. »Mach dir keine Hoffnungen. Der verschwendet sich nicht an Fußvolk, wie wir es sind. Fabian wartet auf eine Prinzessin.«
»Das werden wir ja sehen.« Désis Worte ertranken in einem Meer aus Jubel und Applaus.
Fabians Mannschaft hatte einen Korb geworfen. Arme flogen in die Luft, der Lärm in der Halle war unbeschreiblich. Sekunden später war das Spiel schon wieder in vollem Gang. Mit zu Fäusten geballten Händen starrte Dési auf das Spielfeld. Sie konnte kaum atmen vor Anspannung. Der Ball segelte über die Köpfe der Spieler hinweg. Fabian streckte sich und fing das Geschoss ab. Alle stürzten sich auf ihn. Metall klirrte. Schreie hallten durch die Luft. Die Spieler verwandelten sich in ein blitzendes Knäuel. Der Pulk stob wieder auseinander, jagte dem Ball hinterher. Nur einer blieb zurück. Festgeschnallt in seinem Rollstuhl lag er auf dem Boden und bewegte sich nicht. Nur das Rad drehte sich langsam in der Luft.
Dési schlug die Hand vor den Mund.
»Oh Gott!« Sie packte Julie am Arm.
»Er blutet!«
Tatsächlich. Neben Fabians Kopf bildete sich eine rote Lache. Dési zögerte nicht. Sie zog das Handy aus der Tasche und wählte die Nummer der Behnisch-Klinik. Während sie telefonierte, stolperte sie hinter Julie her aufs Spielfeld.
Inzwischen hatte sich eine Traube aus Rollstühlen und Fußgängern um Fabian gebildet. Der Trainer Kai Schiefer kniete neben seinem Schützling.
»Hey, Fabi, kannst du mich hören.« Er öffnete den Gurt. Fabians Körper rollte heraus. Er war einer der Fußgänger in der Mannschaft. Laufen konnte er trotzdem nicht. »Hallo? Hörst du mich?«
Fabian drehte den Kopf hin und her. Blinzelte ins grelle Licht der Hallenlampen. Seine Brust hob und senkte sich.
»… Wo bin ich … Oh Mann, alles dreht sich … Hört doch mal auf …«
»Verdammt!«, entfuhr es Kai. Er richtete sich auf und starrte in die Runde. »Was glotzt ihr denn so? Ruft einen Arzt. Schnell!«
»Schon erledigt!«, meldete sich Dési zu Wort. »Mein Dad informiert die Rettungsleitstelle. Er hat versprochen, dass in ein paar Minuten Hilfe kommt.«
*
Dieter Fuchs, Verwaltungschef der Behnisch-Klinik, saß am Schreibtisch. Lautlos bewegten sich seine Lippen, während sein Zeigefinger an den Zahlenkolonnen entlangfuhr. Immer wieder unterbrach er seine Arbeit, um den Rotstift anzusetzen.
»Diese Verschwendung macht mich noch verrückt«, murmelte er. »Na wartet! Euch zeige ich es!«
Derart in seine Arbeit vertieft, bemerkte er nicht, dass er beobachtet wurde. Seine Assistentin Regina Kampe stand in der Tür. Bei seinem Anblick fühlte sie sich jedes Mal aufs Neue an Ebenezer Scrooge erinnert. Jenen raffgierigen Geschäftsmann aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte, der Weihnachten schon aus dem Grund hasste, da er dann Teilen der Belegschaft einen halben Tag frei geben und dem Rest einen Feiertagszuschlag bezahlen musste.
Bis Weihnachten würde noch viel Zeit ins Land gehen. Trotzdem fröstelte Regina bei seinem Anblick, genau so, als umwehte sie ein eisiger Luftzug.
Umso mehr, als sie ihm einen unangenehmen Besuch ankündigen musste. Sie seufzte leise.
Fuchs hob den Kopf.
»Ich kann mich nicht erinnern, Sie fürs Herumstehen zu bezahlen.«
»Draußen wartet Besuch für Sie.«
»Besuch?« Dieter Fuchs schielte hinüber auf den Tischkalender. »Ich habe heute keinen Termin mehr.«
»Die Dame hat sich nicht angekündigt.«
»Dann soll sie sich einen Termin geben lassen und ein andermal wiederkommen. Da könnte ja jeder kommen …«
Regina knetete die Hände.
»Sie sagt, sie sei Ihre Tochter.«
Schweigen. Mit einem Schlag war es so ruhig im Zimmer, dass man die Staubkörner durch die Luft tanzen hörte.
»Meine Tochter?«, wiederholte Fuchs nach einer gefühlten Ewigkeit. »Aber ich habe keine Tochter.«
Bis vor einer Stunde hätte Regina Kampe diese Aussage ohne Zögern unterschrieben.
»Sie sieht Ihnen wirklich ähnlich.«
Der Verwaltungsdirektor legte den Rotstift an seinen Platz in der Schale. Er schob die Zettelbox einen Zentimeter nach rechts. Rückte das Telefon gerade. Hob den Hörer, blies unsichtbaren Staub weg und legte ihn wieder auf. Er griff nach dem Brillenputztuch und wischte die Abdrücke fort, die seine Finger auf dem schwarzen Plastik hinterlassen hatten. Regina Kampe dachte schon, dass er sie vergessen hatte, als er den Kopf wieder hob.
»Sie soll hereinkommen«, teilte er ihr seine Entscheidung mit. »Aber ich habe nicht viel Zeit.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als sich eine Frau an Regina vorbei drängte.
»Keine Sorge. Ich auch nicht.«
Dieter starrte die Fremde an, als ob er nie zuvor ein weibliches Wesen zu Gesicht bekommen hätte. Schon gar keines, das ganz offensichtlich und sehr schwanger war.
»Sie … du …«
»Elsa Blume.« Sie machte keine Anstalten, ihm die Hand zu reichen. Stattdessen musterte sie ihn mit unverhohlener Neugier. »Sigrid hatte schon immer einen ausgesprochen schlechten Männergeschmack. Falls es dich tröstet: Das ist bis heute nicht besser geworden.«
Sigrid? Es hatte tatsächlich einmal eine Sigrid in seinem Leben gegeben. Von Haus aus waren Dieter Fuchs’ Lippen so schmal, als ob die Natur dort den Rotstift angesetzt hätte.
Bei diesen Worten verschwanden sie ganz.
»Ich habe dich nicht gebeten zu kommen.« Ein eisiger Lufthauch begleitete seine Worte.
»Keine Sorge. Ich war auch nicht scharf darauf, dich kennenzulernen.«
Dieter Fuchs atmete auf. Das klang nicht so, als ob diese fremde Frau Geld von ihm erwartete.
»Dann hätten wir das ja geklärt.« Er sah auf die große Uhr über der Tür, die nicht nur Stunden, Minuten und Sekunden, sondern auch Zehntelsekunden anzeigte. »Wenn du mich jetzt entschuldigst. Ich muss weitermachen.« Er griff nach dem Rotstift, zog die Mappe wieder zu sich und wollte sich erneut in die Zahlenkolonne vertiefen. Manchmal half es, ein Problem einfach zu ignorieren, um es verschwinden zu lassen. Leider klappte das nicht immer.
»Sigrid schickt mich. Sie meinte, du könntest dich wenigstens ein Mal nützlich machen, wenn du dich schon die ganze Zeit nicht um mich gekümmert hast.«
»Ich wusste bis eben noch nicht einmal etwas von deiner Existenz.«
»Ach.« Elsa zog eine Augenbraue hoch. »Was ist mit den Briefen, die sie dir geschrieben hat?«
»Welche Briefe?« Dieter wusste genau, was Elsa meinte. Er beugte sich tiefer über die Unterlagen. »Ich weiß nichts von Briefen.«
»Sigrid hat recht. Du bist ein schlechter Lügner.« Elsa kam näher. »Du scheinst dich nicht verändert zu haben. Darf ich?« Sie deutete auf den Stuhl. »In diesem Zustand ist Stehen nicht mehr so bequem.«
Erst jetzt erinnerte sich der Verwaltungsdirektor wieder an den Bauch.
»Sechster Monat?«
»Achter. Man merkt, dass du kein Arzt bist«, erwiderte Elsa. »Aber zum Glück wirst du das Kind ja nicht auf die Welt bringen. Dieses Krankenhaus hat bestimmt Gynäkologen.«
Wie immer, wenn er sich aufregte, zuckte Dieters rechtes Augenlid.
»Du willst in der Behnisch-Klinik entbinden?«
»Was hast du denn gedacht, warum ich den weiten Weg aus Aachen auf mich genommen habe? Um endlich meinen Erzeuger kennenzulernen?« Elsa lachte, als hätte sie einen guten Witz gemacht. »Ich leide an Lupus erythematodes, falls dir das etwas sagt.«
»Rheuma?«, fragte der Verwaltungsdirektor.
»Gar nicht mal so schlecht.« Wenigstens etwas! »Deshalb und wegen den Medikamenten ist eine Entbindung nicht ohne Risiko. Jetzt kennst du den Grund, warum Sigrid mich hierher geschickt hat. Die Klinik genießt einen ausgezeichneten Ruf. Bestimmt bin ich hier in den letzten Wochen gut aufgehoben.« Elsa lehnte sich zurück. Ihre Haltung drückte aus, was ihr Vater befürchtete: Ganz offensichtlich hatte sie nicht vor, so schnell wieder zu verschwinden.
Wieder fiel Dieters Blick auf die Uhr. Kostbare elf Minuten und dreizehn Sekunden hatte ihn diese sinnlose Unterhaltung gekostet. Fieberhaft suchte er nach einem Weg, um Elsa loszuwerden. Zumindest für den Moment.
»Dann willst du dich doch bestimmt zuerst untersuchen lassen«, wagte er einen Vorstoß.
»Wenn das möglich ist.« Elsa kramte in der großen, grauen Canvastasche. »Den Mutterpass habe ich vorsichtshalber mitgebracht.« Sie schwenkte das gelbe Heft wie eine Trophäe durch die Luft.
Die Falten auf Fuchs’ Stirn glätteten sich. Nomen est Omen. Was war er doch für ein Fuchs! Er griff nach dem Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Herr Norden, hier spricht Fuchs. Hätten Sie kurz Zeit für eine Untersuchung bei einer Patien … «, Elsas strafender Blick traf Dieter. Er räusperte sich. » … bei meiner Tochter. Sie ist schwanger und eine Risikopatientin.« Wohlweislich überhörte er Daniel Nordens ungläubige Nachfrage. »Haben Sie oder haben Sie nicht? Gut, danke.« Er legte den Hörer wieder auf. »Eine Schwester holt dich gleich hier ab und bringt dich zum Klinikchef«, teilte Dieter seiner Tochter mit.
»Oh, welche Ehre. Gleich der Chef!« Elsa lachte zufrieden. »Ich muss schon sagen: Das war wirklich ein guter Tipp von Sigrid.«
*
Der Notarztwagen bog in die Einfahrt zur Behnisch-Klinik ein.