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Für meinen Mann

Störungen systemisch behandeln

Band 13

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Helke Bruchhaus Steinert

Sexualstörungen

2019

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 13

hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Reihendesign: Uwe Göbel

Umschlag und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0307-3 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8196-5 (ePUB)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort

1Einleitung

2Klinische Erscheinungsbilder sexueller Störungen

2.1Phänomene im Zeitgeist

2.2Anlässe für eine Sexualtherapie

2.3Sexuelle Störungen in der ICD-10

2.4Neuerungen in der ICD-11 und dem DSM-5

2.5Differenzialdiagnose

2.6Diagnostische Verfahren

2.7Epidemiologie

3Erklärungsmodelle sexueller Störungen

3.1Klassische Ansätze

3.1.1Das Modell von Masters und Johnson

3.1.2Der Ansatz von Helen Singer Kaplan

3.1.3Das Hamburger Modell

3.2Neue Ansätze

3.2.1Der Hannover-Ansatz

3.2.2Crucible Approach

3.2.3Sexocorporel

3.3Neurobiologische Modelle

3.4Das zirkuläre Modell nach Basson

4Grundannahmen systemischen Denkens

4.1Wirklichkeitskonstruktion

4.2Autopoiese

4.3Kontext

4.4Störungsrelevanz versus Störungsspezifität

4.5Symptom als Kompetenz

5Systemische Perspektiven auf die Sexualität

5.1Koevolution und Kollusion

5.2Vom Nichtkönnen zum So-nicht-Wollen

5.3Die Differenz der sexuellen Profile

5.4Bekanntes und Ungenanntes

5.5Der Unterschied zwischen Liebe und Sexualität

5.6Die Konstruktion des Unterschieds von Männern und Frauen

5.7Exkurs: Was ist großartiger Sex?

6Systemisches Störungsmodell

6.1Systemische Perspektive sexueller Störungen

6.2Die 9-Felder-Tafel als integratives Modell

6.3Störungen der männlichen sexuellen Funktion

6.4Störungen der weiblichen sexuellen Funktion

6.4.1Appetenzstörungen

6.4.2Dyspareunie und Vaginismus

7Systemische Therapie sexueller Störungen

7.1Bedeutung therapeutischer Haltung

7.1.1Kontext und Zirkularität

7.1.2Neutralität und Allparteilichkeit

7.1.3Auftragsklärung und Zielorientierung

7.1.4Umgang mit Scham und Verletzung

7.1.5Ambivalenzen

7.2Schwerpunkte bei sexuellen Funktionsstörungen

7.2.1Körpererleben

7.2.2Sexuelle Funktionsstörungen und somatische Faktoren

7.2.3Sexuelle Probleme und psychische Störungen

7.2.4Setting

7.2.5Sexuelle Identität versus sexuelle Performance

7.2.6Differenzierung der sexuellen Profile

7.2.7Begehren

7.3Interventionen

7.3.1Die Weisheit des Symptoms

7.3.2Externalisierung

7.3.3Neinsagen als Kompetenz

7.3.4Gute Fragen sind Interventionen

7.3.5Liebesbaum

7.3.6Sexuelle Beziehungsgeschichte

7.3.7Die gemeinsame erotische Geschichte

7.3.8Das ideale sexuelle Szenario – ISS

7.3.9Liebesdiener-Übung

7.3.10Imagination ins Land der Erotik

7.3.11Interaktive Grafik als Visualisierungshilfe innerer Prozesse

7.3.12Aufstellung mit Figuren

7.3.13Das 4-Säulen-Modell einer Paarbeziehung

7.3.14Der Einbezug von Körperübungen

8Homosexualität

9Sexualität im Alter

10Ausführliches Fallbeispiel

11Stand der Forschung

Onlinematerial

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Literatur

Über die Autorin

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

Vorwort

»Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern
bekommen: Wurzeln und Flügel.«

J. W. von Goethe

Dieses Zitat von Goethe fiel mir in die Hände, als ich begann, meine Ideen für dieses Buch über die systemische Therapie von Sexualstörungen zu sammeln. Wurzeln lassen uns fest auf dem Boden stehen. Aus Wurzeln ziehen wir unsere Kraft zum Wachsen. Mit Flügeln schwingen wir uns in luftige Höhen hinauf, fühlen uns leicht und unbeschwert und können alles Vertraute einmal von oben kritisch betrachten.

Therapeutisch verantwortlich heißt zum Wohle der Patienten handeln. Dazu braucht es Psychotherapeuten und Sexualtherapeuten, die beides haben: Bodenständigkeit und den Mut zum Wagnis. Wir müssen genau hinschauen, vordergründig Plausibles hinterfragen und uns nicht vorschnell mit Erklärungen zufriedengeben. Wir müssen wagemutig „gegen den Strich“ und „anders herum“ denken, auch wenn wir riskieren, in eine falsche Richtung zu laufen. Jedem Patienten gebührt der Respekt, ihm mit unserer ganzen Aufmerksamkeit in seiner einmaligen Geschichte zu begegnen. Es braucht einen reichhaltigen Fundus an gutem Fachwissen und therapeutischen Fertigkeiten, damit Patienten kompetent geholfen werden kann, und eine gesunde Portion Selbstkritik, damit eine gute Selbstfürsorge und die Wahrung der eigenen Grenzen gelingt.

Das Schreiben war für mich ein großes Wagnis. Meine „Wurzeln“ als Psychotherapeutin sind mir vertraut. Aber ich brauchte viel Mut, mir zuzutrauen, ein Buch über die systemische Therapie von Sexualstörungen zu schreiben. Dazu gehört mehr als klinische Erfahrung. Es braucht Disziplin, Konzentration und Zeit.

Diese Erfahrung machen zu dürfen, ist wunderbar. Für diese Möglichkeit bin ich einer Reihe von Menschen zutiefst dankbar. Allen voran danke ich den Herausgebern Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus, dass sie diese Reihe ins Leben gerufen haben. Hans Lieb bin ich zu großem Dank verpflichtet. Er war es, der auf mich zukam und mich fragte, ob ich ein Buch über die systemische Therapie von Sexualstörungen schreiben möchte. Die Idee hat mich nicht mehr losgelassen. Bei der Durchsicht des Manuskriptes hat er mir wertvolle Anregungen gegeben. Mein besonderer Dank gilt auch der Lektorin Veronika Licher für ihr präzises Gegenlesen.

Herzlich danken möchte ich meiner Kollegin Angelika Eck für die Begleitung des Projektes und ihr Mitdenken. Ihre kritischen wie ermutigenden Rückmeldungen haben mir sehr geholfen. Meinen Praxiskollegen Raphael Kurzawa, Susanne Pickert und Georg Hänny danke ich für die umsichtige Durchsicht des Manuskriptes und ihre hilfreichen Kommentare.

Der Illustratorin Janice Sidler danke ich für die grafische Gestaltung der Abbildungen und Skizzen. Sie hat die Ideen so wunderbar und verständlich in Bilder übersetzt. Der Fotografin Anja Müller danke ich für die Erlaubnis, ihr Fotografien verwenden zu dürfen.

Ein ganz besonderer Dank gilt den Patienten, die mir erlaubt haben, ihre Geschichten für die Fallbeispiele in diesem Buch zu verwenden. Alle Daten sind so anonymisiert, dass kein Rückschluss auf die Identität der Patienten möglich ist.

Meinen Mann Hans Steinert umarme ich für seine Geduld und große Unterstützung. Er übernahm als erster Leser die schwierige Aufgabe, mir zu vermitteln, was er gut und was er verbesserungswürdig fand.

Bei den Mitarbeitern des Carl-Auer Verlages bedanke ich mich für die gute und freundliche Zusammenarbeit.

Zürich, im Juli 2019
Helke Bruchhaus Steinert

1Einleitung

Von Sexualität wird heute fast selbstverständlich gesprochen. Was aber genau ist damit gemeint? Welche Bereiche umspannt die Sexualität? Auf der Internetseite der Weltgesundheitsorganisation WHO heißt es:

»Sexualität ist ein zentraler Aspekt des lebenslangen Menschseins. Sie umfasst Sex, geschlechtsspezifische Identitäten und Rollen, sexuelle Orientierung, Erotik, Vergnügen, Intimität und Fortpflanzung. Sexualität wird in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensweisen, Praktiken, Rollen und Beziehungen erlebt und ausgedrückt. Obwohl die Sexualität alle diese Dimensionen beinhalten kann, werden nicht alle von ihnen immer erlebt oder ausgedrückt. Sexualität wird durch das Zusammenspiel biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, kultureller, rechtlicher, historischer, religiöser und spiritueller Faktoren beeinflusst« (WHO | Defining sexual health 2006).

Das Zusammenspiel vielfältiger Bereiche wird betont.

Darüber hinaus wird sexuelle Gesundheit nicht nur als Abwesenheit von Krankheit oder Dysfunktionen verstanden, sondern beinhaltet eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen, die Möglichkeit, lustvolle und sichere sexuelle Erfahrungen machen zu können, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt (WHO | Defining sexual health 2006).1

Für Ahlers lassen sich drei Funktionen von Sexualität unterscheiden: die Funktion der Fortpflanzung, die Erregungsfunktion und die Funktion von Kommunikation (Ahlers 2015). Dabei erachtet er Sexualität als die intimste Form menschlicher Kommunikation. Über den intimen Körperkontakt in der sexuellen Interaktion werden für uns Menschen psychosoziale Grundbedürfnisse nach Zuwendung, Zugehörigkeit und Zuneigung körperlich und seelisch erfahrbar. In dieser Intensität und Unmittelbarkeit werden diese Grundbedürfnisse wie in kaum einem anderen Bereich menschlicher Kommunikation erlebbar.

Dieses Buch handelt von sexuellen Funktionsstörungen. Es wird um sexuelle Wünsche und deren Bedeutung für die Personen gehen. Dabei spielt die Einbettung der Sexualität in die Gestaltung der Beziehung eine wichtige Rolle. Zudem wird versucht, die Ängste und Schwierigkeiten, unter denen Menschen im Kontext ihrer Sexualität leiden, zu verstehen.

Die Anliegen der Patienten wirken bei der ersten Schilderung oft diffus. Es ist Aufgabe von uns Ärzten und Therapeuten, Orientierung, Struktur und Verständnis zu ermöglichen. Es lässt sich schwer sagen, ob immer mehr Menschen unter sexuellen Störungen leiden oder ob sie sich heute mehr mit ihren Leiden mitteilen und Hilfe suchen. Der Leidensdruck ist jedenfalls für die betroffene Person oft groß. Im Kontext sexueller Funktionsstörungen haben wir es häufig mit einem Paar oder Paarkonflikten zu tun. Deshalb ist es naheliegend, dass die Sexualtherapie in enger Verbindung zur Paartherapie steht. Manchmal will ein Partner eine Veränderung und der andere hat Angst davor, etwas zu verlieren. Manchmal wollen beide Partner etwas anderes, aber sie haben unterschiedliche Vorstellungen, wer was dazu beitragen soll. Meist ist es dann der andere, der etwas ändern soll.

Die systemische Psychotherapie bietet mit ihrem Fokus auf den Kontext eines Leidens, der Wirklichkeitskonstruktion um das Leiden, der Auftrags- und Lösungsorientierung für solche Probleme wertvolle Ansätze. Ihre zahlreichen Interventionen machen unterschiedliche Perspektiven sichtbar und bieten einen reichhaltigen Fundus für die Psychotherapie mit Menschen, die unter Störungen ihrer Sexualität leiden.

Die häufigsten Probleme drehen sich um folgende Themen: 1) Die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs. Der eine Partner wünscht sich öfter Sex mit dem anderen (nicht mit irgend jemandem). 2) Eine sexuelle Funktionsstörung, die ein unbeschwertes Erleben sexueller Interaktion für einen oder (meistens) beide Partner beeinträchtigt. 3) Eine Verletzung der intimen Exklusivität, wie sie durch eine Außenbeziehung oder Affäre, ein Chatten in expliziten Sexforen oder einem exzessiven Pornografiekonsum ausgelöst werden kann.

Die Begriffe Sex und Sexualität werden nicht immer scharf abgegrenzt verwendet. »Sex« meint im engeren Sinne nur »das Geschlecht«. Umgangssprachlich ist damit oft der sexuelle Akt gemeint, z. B. wenn es heißt »Sex haben« oder »Sex machen«, unabhängig davon, ob er als Masturbation oder als Interaktion stattfindet. Mit dem Begriff »Sexualität« ist meist das Erleben der Geschlechtlichkeit eines Individuums gemeint, in dem die Art und Weise, wie das Individuum seine Geschlechtlichkeit lebt oder leben möchte, mit einbezogen ist. In fachlichen Diskussionen wird bevorzugt der Begriff »Sexualität« verwendet

Was erwartet den Leser in diesem Buch? Es wird eine Gegenüberstellung der Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 geben. Auf die Neuerungen in der ICD-11 wird eingegangen. Es werden verschiedene Erklärungsmodelle sexueller Störungen vorgestellt, klassische wie aktuelle. Von der Autorin wird eine Gewichtung für die klinische Praxis vorgenommen. Hilfreiche systemische Grundannahmen in der Therapie werden ebenso vorgestellt wie relevante systemische Blickwinkel auf die Sexualität. Der größte Teil widmet sich der Therapie sexueller Störungen. Es werden zahlreiche Fallbeispiele aus der Praxis der Autorin vorgestellt, durch die die Interventionen nachvollziehbar werden. Die Darstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es werden die Interventionen vorgestellt, die sich in der täglichen Arbeit mit Patienten als hilfreich und umsetzbar bewährt haben. Ein Schwerpunkt der psychotherapeutischen Arbeit der Autorin liegt auf der Paartherapie, was die klinische Perspektive mitbestimmt: Viele Patienten kommen gerade wegen dieses Schwerpunkts.

Es ist wichtig, dass der Leser selbst prüft, was für ihn geeignet und stimmig ist und sich auch im jeweiligen klinischen Alltag realisieren lässt.

1https://www.who.int/reproductivehealth/topics/sexual_health/sh_definitions/en/ [07.01.2019]

2Klinische Erscheinungsbilder sexueller Störungen

2.1Phänomene im Zeitgeist

Mit der gesellschaftlichen Liberalisierung der letzten Jahrzehnte geht eine Enttabuisierung in vielen Bereichen der Sexualität einher. Sie ist Befreiung und neue Norm zugleich. Die Möglichkeiten, seine individuelle Sexualität ohne Angst und Repressionen leben zu können, sind so vielfältig wie noch nie. Aber damit geht auch der Druck einher, lustvoll sexuell aktiv zu sein. Gerade aber die sexuelle Lustlosigkeit gilt heute als eines der häufigsten Probleme.

Trotz der zunehmenden Vielfalt finden die häufigsten sexuellen Begegnungen nach wie vor in festen Partnerschaften statt (Schmidt et al. 2006). Zudem ist die sexuelle Aktivität in hohem Maße kontextabhängig. Für die meisten Menschen ist Sex eng verknüpft mit ihrem Beziehungserleben. Die Sehnsucht nach einer verbindlichen, von Liebe getragenen Partnerschaft ist ungebrochen. Sexuelle Funktionsstörungen haben einen starken Einfluss auf Beziehungen und umgekehrt. Ein sexuelles Phänomen wird meistens sogar erst durch das Leiden, das es in der Beziehung verursacht, zur Störung. So erhält eine vorzeitige Ejakulation erst aus der Perspektive der sexuellen Beziehung zu einer anderen Person das Merkmal »vorzeitig«. Für sich genommen wäre sie höchstens eine schnelle Ejakulation nach Beginn der Stimulation.

Über sexuelle Funktionsstörungen nachzudenken, geht nicht, ohne den gesellschaftlichen Kontext von Liebesbeziehungen zu berücksichtigen. Trotz der Möglichkeit großer individueller Freiheit und Selbstbestimmung suchen die Menschen in einer verbindlichen Partnerschaft emotionale Sicherheit und Intimität ebenso wie Exklusivität und erfüllte Sexualität. Die Erwartungen, denen sich eine Liebesbeziehung heute stellen muss, sind immens hoch. Die Befreiung der Sexualität in den letzten Jahrzehnten hat die Gefahr neuer Leistungsnormen mit sich gebracht. Sexuelles Funktionieren und sexuelle Erfüllung sind zu einem »Muss« geworden. Das schlägt sich auch in der Diagnostik nieder: Das Verständnis sexueller Störungen beruht auf dem aktuellen gesellschaftlichen Verständnis von Sexualität.

In den beiden wichtigsten diagnostischen Klassifikationssystemen, der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD) und dem Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM), werden sexuelle Störungen eng verknüpft mit der sexuellen Beziehung zu einem anderen Menschen. In der ICD heißt es: »Sexuelle Funktionsstörungen verhindern die von der betroffenen Person gewünschte sexuelle Beziehung« (Dilling et al. 2000, S. 215). Im DSM-5 wird die weibliche Orgasmusstörung beschrieben als »Auftreten eines der nachfolgenden Symptome […], bei denen die Person mit einem Partner sexuell aktiv ist« (American Psychiatric Association 2015, S. 233).

Darüber hinaus wird die menschliche Sexualität von kulturellen Vorstellungen, Normen, Ängsten und Restriktionen beeinflusst. Was wir über Sexualität wissen und vor allem was wir als sexuell normal oder gestört ansehen, hat sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts immer wieder stark verändert. In der Revision der ICD-10, der kommenden ICD-11, wird eine Neuordnung sexueller und Gender-assoziierter Störungen mit maßgeblichen Veränderungen in den letzten 25 Jahren sowohl im Bereich der Forschung als auch in der Gesellschaft, der Politik bis hin zur Gesetzgebung begründet (Reed et al. 2016). Welches sexuelle Verhalten heute als normal oder abweichend beurteilt wird, ist stark vom Zeitgeist geprägt.

Die verschiedenen Lesarten der weiblichen Lustlosigkeit durch die Diagnosemanuale des DSM verdeutlichen das zeitgeschichtliche Verständnis eindrücklich. Lustlosigkeit wurde im DSM-3 als »gehemmtes sexuelles Verlangen« gesehen. Dem natürlichen sexuellen Verlangen stand ein hemmender Konflikt im Wege. Das DSM-4 beschrieb Lustlosigkeit als »zu geringes sexuelles Verlangen«. Die Lesart war hier: Ein bestimmtes Maß sexuellen Verlangens gilt als gesund (und somit wünschenswert). Im DSM-5 wird von »sexuellem Interesse« gesprochen. Ein Interesse kann vorhanden sein oder auch nicht, darin liegt noch keine Unterscheidung zwischen krank und gesund. Erst das subjektive Leiden unter dem Nichtinteresse wird bestimmend für die Lesart als Störung. Zudem ist die Vorstellung des sexuell-natürlichen Triebes verlassen worden (Clement 2014).

Im systemischen Denken gibt es keine Wirklichkeit ohne die Personen, die diese Wirklichkeit erleben und beschreiben. Das subjektive Erleben, das »Narrativ« aus der Sicht jedes Beteiligten wird stärker beachtet als eine objektive Diagnose eines Symptomträgers. Für den Blick auf sexuelle Funktionsstörungen bedeutet dies vor allem, den Beziehungskontext zu beachten, in dem eine »Störung« auftritt und welche Bedeutung sie darin erhält.

2.2Anlässe für eine Sexualtherapie

Sexuelle Probleme sind Beziehungsprobleme! Diese Verkürzung ist stark vereinfachend, deckt sich aber mit der Erfahrung aus der Praxis. Einzelpersonen und Paare suchen heute in den meisten Fällen therapeutische Hilfe im Zusammenhang mit sexuellen Problemen auf, wenn ihre Beziehung dadurch anhaltend belastet oder gefährdet ist. Ein anderer Grund ist das Leiden, wenn Menschen sich vor einer verbindlichen intimen Beziehung scheuen, sie aber gleichzeitig ersehnen.

Paare melden sich an, weil die sexuelle Lust des einen so weit entfernt von der des anderen ist, dass beide darunter leiden und die Beziehung anhaltend unter Spannung steht. Der Partner mit der größeren Lust fühlt sich ausgebremst. Er erlebt sich ständig als einer, der zu viel will. Die Folge ist oft ein emotionaler und kommunikativer Rückzug aus der Beziehung. Der Partner mit der geringeren Lust fühlt sich einerseits auf die Position des Lustfeindlicheren festgeschrieben, gegen die er sich wehrt. So beklagt er entweder die verlorene Intimität und begründet damit seinen Rückzug aus der Sexualität oder er beklagt das Drängen, weil er gar nicht mehr die Zeit erhält, die eigene Lust zu spüren. In dieser Dynamik entsteht der Konflikt erst durch das zirkuläre Muster der Positionen der Partner.

Auch Affären stellen einen häufigen Anlass zu einer Paartherapie dar, in der die Intimität und Sexualität des Paares bilanziert und neu verhandelt werden will. Eine sexuelle Außenbeziehung wird auch heute noch als eine der stärksten Erschütterungen des Vertrauens in den Partner erlebt. Dabei spielt meist der Umstand, dass die Außenbeziehung geheim gehalten wurde, emotional eine entscheidendere Rolle als der Umstand der sexuellen Untreue selbst (Bruchhaus Steinert 2012). Nicht selten wird die gemeinsame Sexualität nach einer Affäre belebter und intensiver. Jedoch kann auch ein stärkerer Rückzug die Folge sein. Therapeutische Hilfe wird dann gesucht, weil die Partner ihre Beziehung erhalten wollen.

Die Präsenz von Sex in den Medien und die Verfügbarkeit von Sex durchs Internet spielt eine zunehmend größere Rolle. Immer häufiger ist ein anhaltender Pornografiekonsum mit begleitender Masturbation Anlass für eine Sexualtherapie. Mit diesem Problem suchen weit mehr Männer als Frauen Hilfe. Zum Anlass für eine Paartherapie kommt es, wenn die Partnerinnen ein geringeres Interesse des Partners am gemeinsamen Sex und an ihnen beklagen oder es zu Erektionsstörungen im partnerschaftlichen Geschlechtsverkehr kommt. Dafür wird dann der Pornografiekonsum verantwortlich gemacht. Frauen erleben den Pornografiekonsum häufig als »Fremdgehen«, als Hinweis darauf, dass ihr Partner sie nicht genügend attraktiv findet.

2.3Sexuelle Störungen in der ICD-10

Die ICD-10 gliedert sich generell in Kapitel, Krankheitsgruppen, Kategorien und Subkategorien.

Störungen, die im Zusammenhang mit der Sexualität stehen, werden in der ICD-10 in zwei Krankheitsgruppen des Kapitels V der psychischen Störungen erfasst: in der Gruppe der Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren (F50–F59) und in der Gruppe der Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten (F60–F69) (Dilling et al. 2000).

In der Kategorie F52 sind die nichtorganischen sexuellen Funktionsstörungen (wie z. B. Mangel sexuellen Verlangens, Erregungs- und Orgasmusstörung) beschrieben. In der Gruppe der Persönlichkeitsund Verhaltensstörungen sind die Störungen der Geschlechtsidentität in der Kategorie F64, die Störungen der Sexualpräferenzen in der Kategorie F65 und die psychischen und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung in der Kategorie F66 erfasst.

Im vorliegenden Band wird der Fokus auf die in F52 aufgeführten sexuellen Funktionsstörungen gelegt, da sie in der allgemeinen psycho- und paartherapeutischen Praxis am häufigsten auftreten.

Transgender-Menschen, d. h. Menschen, die sich in ihrer Geschlechtsidentität dem anderen als ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen, werden heute nicht mehr als grundsätzlich psychisch krank angesehen. Ihnen wird zunehmend mit Toleranz begegnet. Sie setzen sich für Gleichstellung, Anerkennung und die Aufhebung von Restriktionen ein. Wenn sie therapeutische Hilfe aufsuchen, liegt der Grund selten in Schwierigkeiten mit ihrer Geschlechtsidentität an sich, sondern vielmehr in Problemen mit der sozialen Umgebung oder in der Partnerschaft. Störungen der Sexualpräferenz führen seltener zur Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe. Menschen mit einer pädophilen Sexualpräferenz kommen oft erst im Zusammenhang mit strafrechtlichen Maßnahmen (oder wenn sie diese befürchten) in eine Psychotherapie. Stattdessen suchen Menschen mit einer sexuellen Funktionsstörung immer häufiger sexualtherapeutische Hilfe, sei dies als Paar oder als Individuum.

Das Störungsverständnis in der ICD-10 impliziert, dass sexuelle Aktivität grundsätzlich als normal und wünschenswert gelten kann. Daraus ergibt sich ein gestörtes »Zuwenig« und ein gestörtes »Zuviel«. Verkürzt gesagt: Sex haben zu wollen und zu haben gilt als normal und gesund. Abweichungen von dieser Funktionsfähigkeit werden als Störung betrachtet. Diese Implikation wird insbesondere aus systemischer Perspektive immer wieder kritisch hinterfragt (Clement 2014; Eck 2016; Kleinplatz 2016). Im Weiteren wird unterschieden, ob für die Störung psychogene oder organische Faktoren verantwortlich sind, d. h. organische bzw. nichtorganische Ätiologien angenommen werden.

Die nichtorganischen sexuellen Funktionsstörungen lassen sich innerhalb der Kategorie inhaltlich in vier Bereiche einteilen, die im Folgenden, den jeweiligen Subkategorien der ICD-10 zugeordnet, näher beschrieben werden: 1) Störungen der sexuellen Lust (Appetenz), 2) Störungen der sexuellen Erregung, 3) Orgasmusstörungen und 4) Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen.

1.Lust- oder Appetenzstörungen:

F52.0 Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen: Der Mangel sexuellen Verlangens wird als das Hauptproblem angesehen. Sexuelle Aktivität wird selten oder gar nicht initiiert. Eine sexuelle Befriedigung oder Erregung ist aber möglich. Das Problem führt zum Leidensdruck in der Partnerschaft.

Die sexuelle Hypoaktivität wird für beide Geschlechter beschrieben, tritt aber häufiger bei Frauen auf als bei Männern (Beck 1995). Allerdings wird die Luststörung bei Männern unterschätzt. Die klinische Erfahrung zeigt einen Anstieg geringen sexuellen Verlangens bei Männern.

Im DSM-5 wird zwischen der Störung sexuellen Verlangens bei Mann und Frau unterschieden. Beim Mann wird eine Verminderung des sexuellen Verlangens als Hypoaktivität beschrieben, d. h. eine geringe Lust führt zu geringer Aktivität. Dem liegt ein lineares Verständnis sexueller Erregung beim Mann zugrunde (siehe auch Kap. 3). Die Beschreibung der Störung des Verlangens bei der Frau unterscheidet sexuelles Interesse und sexuelle, d. h. physiologische Erregung. Im DSM-5 heißt es: »Störung des sexuellen Interesses bzw. der Erregung bei der Frau«. Damit ist gemeint, dass sexuelles Interesse und die physiologische Reaktion der Erregung nicht in unmittelbarem linearem Zusammenhang stehen müssen. Mit dieser Unterscheidung wird neuen wissenschaftlichen Befunden Rechnung getragen, dass die subjektiv wahrgenommene Lust (sexuelles Interesse) und die physiologische Erregung bei Frauen voneinander getrennt ablaufen können (Basson 2000; Clement 2014). Das heißt, es kann ein geringes sexuelles Verlangen vorliegen, aber dennoch eine physiologische Reaktion auf Stimulation ablaufen. Oder anders ausgedrückt: Eine Frau kann körperlich mit Erregung, d. h. Lubrikation reagieren, ohne subjektiv sexuelle Lust zu empfinden. Darauf wird im Abschnitt 3.4 noch näher eingegangen.

F52.1 Sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung: Aus Angst vor der Vorstellung sexueller Aktivität mit einem Partner oder aufgrund zu starker negativer Gefühle wird jede sexuelle Handlung vermieden. Oder ein Orgasmus wird ohne jedes Lustgefühl erlebt.

F52.7 Gesteigertes sexuelles Verlangen: Die ICD-10 führt das gesteigerte sexuelle Verlangen noch als eigenständige Diagnose auf. Im DSM-5 (geplant auch in der ICD-11) wurde die Diagnose hypersexuelle Störung nicht aufgenommen. Begründet wurde der Entscheid damit, dass für eine hypersexuelle Störung als eigenständiges, abgrenzbares Krankheitsbild zu wenig Evidenz vorliege und die große Variabilität sexueller Verhaltensweisen nicht pathologisiert werden solle (Hartmann u. Hartmann 2017). In der sexualtherapeutischen Praxis melden sich aber immer häufiger Menschen, v. a. junge Männer, die unter ihrer Sexsucht und/oder den Belastungen, die ihr sexuelles Verhalten für ihre Beziehung darstellt, leiden. Allerdings weist eine klinische Stichprobe ein Verhältnis von Männern zu Frauen von 19:1 auf (Reid et al. 2012)Fifth Edition (DSM-5. Als Störungskriterien gelten »ein deutlich erhöhter Zeitbedarf für die Beschäftigung mit sexuellen Impulsen und Verhaltensweisen, der Einsatz exzessiven Sexualverhaltens als Reaktion auf negative Gefühle und belastende Lebensereignisse, erfolglose Versuche, das trotz negativer Konsequenzen fortgeführte Verhalten zu kontrollieren« (Hartmann u. Hartmann 2017, S. 61). »Sexsucht« (Selbstdiagnose der Betroffenen) ist häufig mit einem übermäßigen Pornografiekonsum verbunden und schädigt vor allem dadurch die Partnerschaft und die sozialen Kontakte. Experten fragen in diesem Zusammenhang auch, ob nicht »die Auswirkungen des Online-Pornografiekonsums bisher zu stark verharmlost wurden« (Hartmann u. Hartmann 2017, S. 60).

2.Erregungsstörungen:

F52.2 Versagen genitaler Reaktionen: Diese Kategorie gilt für beide Geschlechter. Beim Mann gilt die Erektionsstörung oder erektile Dysfunktion als die häufigste Störung. Bei der Frau kann der Mangel vaginaler Lubrikation psychogen oder Folge einer lokalen Infektion bzw. eines Östrogenmangels sein. Ein primärer Mangel an vaginaler Lubrikation ist selten, auβer wenn es sich um einen Östrogenmangel in der Postmenopause handelt.

3.Orgasmusstörungen:

F52.3 Orgasmusstörung: Eine Orgasmusstörung, auch als gehemmter Orgasmus oder psychogene Anorgasmie bezeichnet, kommt bei Frauen häufiger vor. Der Orgasmus tritt gar nicht oder nur stark verzögert ein. Tritt die Orgasmusstörung nur situativ auf, werden vor allem psychogene Faktoren angenommen, tritt sie immer auf, sollen auch körperliche und konstitutionelle Faktoren erwogen werden. In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts galten Orgasmus- und Erregungsstörungen als die häufigste Diagnose sexueller Störungen bei Frauen (Arentewicz u. Schmidt 1986).

F52.4 Ejaculatio praecox: Der vorzeitige Samenerguss wird als die »Unfähigkeit, die Ejakulation ausreichend zu kontrollieren, damit der Geschlechtsverkehr für beide Partner befriedigend ist« beschrieben (Dilling et al. 2000, S. 217). Die meisten Männer erleben ihre Masturbation als ungestört. Erst das Zusammenspiel mit einer Partnerin ist beeinträchtigt. Dieser Umstand untermauert eine psychogene Ätiologie. Ein Performancedruck, die Fokussierung auf die Befriedigung der Partnerin und die Angst, nicht zu genügen, werden als maßgebliche Faktoren angenommen. Es wurde wiederholt kritisiert, dass es für die Zeit zwischen Penetration und Ejakulation keine Werte gibt, die eine Ejaculatio praecox definieren. Dies ist im DSM-5 aufgegriffen worden. So wird von einer leichten Form gesprochen, wenn zwischen Penetration und Ejakulation 30–60 Sekunden vergehen, von einer mittleren, wenn die Ejakulation 15–30 Sekunden nach der Penetration erfolgt, und von einer schweren, wenn die Ejakulation vor der Penetration, unmittelbar danach oder innerhalb von 15 Sekunden erfolgt.

In der ICD-11 wird nicht mehr von »vorzeitiger«, sondern von »früher« Ejakulation gesprochen.

4.Störungen mit sexuell bedingten Schmerzen:

F52.5 nichtorganischer Vaginismus: Unter Vaginismus wird ein Spasmus der Beckenbodenmuskulatur verstanden, der eine Penetration unmöglich macht oder große Schmerzen verursacht. Wurde früher angenommen, dass es nur einen primären Vaginismus gebe, tritt heute in der klinischen Erfahrung ein sekundärer Vaginismus vermehrt auf. Von primärem Vaginismus wird gesprochen, wenn eine Penetration noch nie möglich war, und von sekundärem Vaginismus, wenn die Störung erst nach einer Zeit normaler sexueller Aktivität aufgetreten ist. Insbesondere beim sekundären Vaginismus muss eine lokale somatische Ätiologie der Schmerzen (z. B. eine Infektion) ausgeschlossen werden.

F52.6 Nichtorganische Dyspareunie: Von Schmerzen beim Geschlechtsverkehr können Frauen und Männer betroffen sein, wenngleich dies bei Männern sehr viel seltener vorkommt. Oft hat die Dyspareunie eine somatische Ursache (Infektion, Verletzung, Anatomie). Die Diagnose einer psychogenen Dyspareunie soll deshalb nur nach sorgfältigem Ausschluss somatischer Faktoren gestellt werden. Zudem müssen andere sexuellen Funktionsstörungen wie Vaginismus oder Mangel der Lubrikation ausgeschlossen werden.

F52.8 Sonstige nichtorganische sexuelle Funktionsstörung und F52.9 nicht näher bezeichnete nichtorganische sexuelle Funktionsstörung: Der Logik der ICD-10 folgend können diese Kategorien gewählt werden, wenn die sexuellen Symptome keiner der bisherigen Diagnosen zugeordnet werden können, aber entweder eine spezifische (F52.8) oder unspezifische sexuelle Störung für das Leiden verantwortlich ist.

2.4Neuerungen in der ICD-11 und dem DSM-5

Das DSM-5 ist die Klassifikation der American Psychiatric Association und erschien 2013. Es beschreibt ausschließlich psychische Erkrankungen. Im europäischen Raum wird es vor allem in der Forschung benutzt. Die ICD ist das Klassifikationssystem der WHO. Die ICD-11 wird demnächst erwartet. Sie findet in der Kommunikation der Fachpersonen im Gesundheitswesen breite Anwendung. Der Vorteil der ICD ist, dass sie ein umfassendes Klassifikationssystem aller Erkrankungen darstellt, somatischer wie psychischer. So werden Verbindungen zwischen psychischen und körperlichen Störungen möglich. In der ICD-11 wird bei den sexuellen Störungen auf die Unterscheidung »organisch« vs. »nichtorganisch« verzichtet, stattdessen werden ätiologische Faktoren (»etiological qualifiers«) vorgeschlagen. Zwei übergeordnete Kategorien sind vorgesehen:

ICD-10

ICD-11

DSM-5

F52.0 Mangel an oder Verlust von sexuellem Verlangen (bei Mann und Frau)

Störung mit verminderter sexueller Appetenz (bei Mann und Frau)

Störung mit verminderter sexueller Appetenz beim Mann

Störung des sexuellen Interesses bzw. der Erregung bei der Frau

F52.1 Sexuelle Aversion u. mangelnde sexuelle Befriedigung

entfällt

 

F52.2 Versagen genitaler Reaktionen (bei Mann und Frau)

Weibliche Erregungsstörung

Gehört zu: Störung des sexuellen Interesses bzw. der Erregung bei der Frau

Erektionsstörung

Erektionsstörung

F52.3 Orgasmusstörung (bei Mann und Frau)

Orgasmusstörung (für Mann und Frau; unterschieden wird beim Mann zw. subjektivem Erleben und Ejakulation)

Weibliche Orgasmusstörung

F52.4 Ejaculatio praecox

Frühe Ejakulation

Vorzeitige (frühe) Ejakulation

Verzögerte Ejakulation

F52.5 Vaginismus

Schmerz-Penetrationsstörung (Vaginismus)

Genito-pelvine Schmerz-Penetrationsstörung (Dyspareunie, Vaginismus)

F52.6 Dyspareunie

ist im Kapitel zu urogenitalen Störungen erfasst

F52.7 gesteigertes sexuelles Verlangen

entfällt

 

F52.8 sonstige nichtorganische sexuelle Funktionsstörung

Andere spezifische sexuelle Störung

Andere spezifische sexuelle Störung

F52.9 nicht näher bezeichnete nichtorganische sexuelle Funktionsstörung

Unspezifische sexuelle Störung

Unspezifische sexuelle Störung

Tab. 1: Vergleich sexueller Funktionsstörungen in ICD-10, ICD-11 und DSM-5

»Störungen in Verbindung mit der sexuellen Gesundheit« und »Paraphile Störungen«. In ersterem werden zwei Unterkategorien vorgeschlagen: »Sexuelle Funktionsstörungen« und »Störungen der Geschlechtsidentität«. Luststörungen, d. h. »hypoactive sexual desire dysfunction«, werden weiterhin für Männer und Frauen gelten, im Gegensatz dazu führte das DSM-5 hier eine Geschlechtsunterscheidung ein (»Male hypoactive sexual desire disorder <> Female sexual interest/arousal disorder«). Die Orgasmusstörung wird zudem weiterhin für Männer und Frauen aufgeführt. Zusätzlich soll es die frühe und die verspätete Ejakulation geben. Die ICD-11 unterscheidet zwischen dem subjektiven Erleben des Orgasmus und der Ejakulation. Die Erregungsstörungen werden in eine weibliche sexuelle Erregungsstörung und die Erektionsstörung unterschieden. Vaginismus soll in einer eigenständigen Kategorie sexueller Schmerzstörung geführt werden (Reed et al. 2016). Die Dyspareunie soll nicht mehr unter den sexuellen Funktionsstörungen, sondern unter den Störungen des Urogenitalbereichs aufgeführt werden.

2.5Differenzialdiagnose

Die Diagnostik sexueller Störungen muss mögliche somatische Ursachen mitberücksichtigen. Eine Abklärung möglicher gynäkologischer, urologischer, endokrinologischer, neurologischer oder anderer somatischer Erkrankungen gehört zum sorgfältigen Vorgehen.

Psychische Störungen wie depressive Erkrankungen, Angststörungen, Zwangsstörungen oder Traumafolgestörungen, z. B. nach sexueller Traumatisierung, stellen ein hohes Risiko für das Auftreten einer lebenslangen sexuellen Störung dar (Burri a. Spector 2011). Ebenso sind zahlreiche somatische Probleme mit sexuellen Störungen assoziiert. Bei einer Luststörung ist an eine depressive Erkrankung zu denken. Ein Libidoverlust gilt als Symptom einer depressiven Störung. Ein übermäßiges und promiskuitives Verhalten kann bei einer Manie auftreten oder mit einem demenziellen Prozess assoziiert sein. Ebenso beeinträchtigen vaskuläre und endokrinologische Erkrankungen die sexuelle Funktionsfähigkeit. Allgemein bekannt ist der Einfluss von Diabetes und Bluthochdruck auf Störungen der sexuellen Funktion. Der Einfluss von Schilddrüsenerkrankungen auf die Sexualität dagegen ist wenig bekannt. Sowohl die Unter- wie die Überfunktion der Schilddrüse gehen mit sexuellen Funktionsstörungen bei mehr als 50 % der Patienten einher (Gabrielson, Sartor a. Hellstrom 2018).

Sexuelle Störungen können auch durch die Einnahme von Medikamenten bedingt sein. Antidepressiva vom Typ der SSRI (Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) und Neuroleptika gehen häufig mit Ejakulations-, Erektions- und Libidoproblemen einher. Erektionsstörungen können eine Nebenwirkung von Antihypertensiva und zahlreichen anderen Medikamenten sein.

Antiparkinsonmedikamente können zu einer Hypersexualität führen. Zu einer differenzierten Sexualanamnese gehört deshalb die Frage nach Medikamenten immer dazu.

Auch im Rahmen von Anpassungsstörungen kommt es zu sexuellen Störungen. Psychosozialer Stress allgemein beeinflusst das Sexualleben. Männer suchen unter Stress öfter Sex als eine Möglichkeit zur Ablenkung und Entspannung. Frauen hingegen reagieren eher mit verminderter Lust auf Stress.

Eine sexuelle Traumatisierung oder Grenzverletzungen in der persönlichen Geschichte können zu einer sexuellen Störung führen. Allerdings ist die Erfahrung einer sexuellen Grenzverletzung nicht per se eine ausreichende Erklärung für eine sexuelle Störung.

Zu einer sorgfältigen Diagnostik gehören die Erhebung der Sexualanamnese durch einen Arzt oder Psychotherapeuten und eine somatisch-medizinische Untersuchung. Der Einsatz von Fragebögen kann die Diagnostik ergänzen, wird aber eher in der Forschung eingesetzt. Das persönliche Gespräch ist nie zu ersetzen.

Im Erstgespräch steht für den systemischen Therapeuten der Aufbau einer tragfähigen Beziehung im Zentrum sowie die Erfassung der Anliegen der Patienten, d. h. ihrer Veränderungsziele, die Erfassung ihrer subjektiven Erklärungsmodelle, ihrer bisherigen Lösungsversuche und des Auftrags an den Therapeuten. Die oft postulierte Trennung von Abklärungs- und Therapiephase gibt es aus systemischer Sicht nicht.

1.Aktuelle Problematik:

Sexuelle Symptomatik (bei Paaren beider Partner)

Auslöser und aufrechterhaltende Faktoren

Aktuell gelebte Sexualität

Auswirkung der sexuellen Symptomatik

2.Partnerschaft:

Zufriedenheit beider Partner

Ressourcen

Gemeinsam Geschaffenes

Weitere Belastungen

3.Individuelle Situation jedes Partners:

Individuelle sexuelle Biografie bis zur jetzigen Partnerschaft

Sexuelle Neigungen und Abneigungen, sexuelle Fantasien

Sexuelle Identität

Psychische und somatische Gesundheit

Aktuelle Medikation

4.Subjektives Erklärungsmodell jedes Partners

5.Bisherige Lösungsversuche

6.Veränderungsmotivation:

Bereitschaft zu eigenem Einsatz

Befürchtungen

Erwartungen an Therapeuten

Tab. 2: Sexualanamnese mit Fokus auf Anliegen und Ziele des/der Patienten

Die Sexualanamnese dient der Erfassung und Gewichtung der relevanten Bereiche für das jeweilige Leiden des Patienten resp. des Paares. Sie ist nicht als abzuhandelnde Checkliste, sondern als Richtschnur relevanter Aspekte zu lesen. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Aspekte einer Sexualanamnese.

2.6Diagnostische Verfahren