Los Angeles – das ist vor allem Hollywood, die Welt der Reichen und Schönen. In Ellroys Erzählungen spielen jedoch vom Leben gezeichnete Figuren die Hauptrollen: Menschen am Abgrund, Außenseiter und Verlierertypen, kleine Gauner und kriminelle Größen, skrupellose Gangster und korrupte Cops, harte Männer und berechnende Frauen. Es sind getriebene Figuren, deren Träume im unbarmherzigen Licht der Glitzerwelt längst verblasst sind. Trotzdem versuchen sie, immer wieder auszubrechen, und sie sind bereit, den Preis für ihr Scheitern zu zahlen.
Erzählungen
Aus dem Amerikanischen
von
Thomas Mohr
Ullstein
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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Oktober 2019
© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Copyright © 1994, James Ellroy
All rights reserved
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Hollywood Nocturnes (Dell Publishing, New York)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © Ulf Andersen / Kontributor / getty iamges
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ISBN 978-3-8437-2199-8
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Für Alan Marks
Ein Irrwisch mit Akkordeon – der Mann knautscht seine »Quetschkommode« nach allen Regeln der Kunst.
Mein Vater zeigt zum Fernseher. »Der Bursche taugt nichts. Der ist ein Drückeberger.«
Der Akkordeonspieler in einem billigen Schundfilm: im Clinch mit der Blondine aus der Mark-C.-Bloome-Reifenreklame.
Halb verschüttete Erinnerungen kommen wieder hoch. Sie haben alle denselben Ursprung: L.A., wo ich in den 50er Jahren aufwuchs. Die meisten sind nur synaptische Schnappschüsse, die schon im nächsten Augenblick verblassen. Ein paar werden auf wundersame Weise zu Literatur: Ich erkenne ihr dramatisches Potenzial und schlachte es in meinen Romanen aus, verwandle Erinnerung im Handumdrehen in Erfindung.
Das Gedächtnis: wo persönliche Reminiszenzen mit der Geschichte kollidieren.
Erinnerung: eine symbiotische Verschmelzung von GESTERN und HEUTE. Für mich der Zündpunkt quälender Neugier.
Der Akkordeonspieler heißt Dick Contino.
Von wegen »Drückeberger« – er hat tapfer im Koreakrieg gekämpft.
Der billige Schundfilm schimpft sich Daddy-O – ein hundsmiserabler Streifen der Marke »Mädels, Musik und heiße Öfen«.
Das Gedächtnis knüpft Zusammenhänge: verbindet große Ereignisse mit ebenso winzigen wie lebhaften Details.
Im Juni 1958 wurde meine Mutter ermordet. Die Suche nach dem Täter blieb erfolglos; ich zog zu meinem Vater. Ich sah, wie Dick Contino in der Glotze den »Bumble Boogie« dudelte, nahm zur Kenntnis, was mein Vater von ihm hielt, und ging ein Jahr später ins Admiral Theatre, um mir Daddy-O anzuschauen. Meine Synapsen glühten, sprühten, schlugen Funken; eine Erinnerung nahm Gestalt an, und es ergab sich ein Zusammenhang. Alles fügte sich zu einem düsteren Bild: Frauen wurden erwürgt und blieben auf ewig ungerächt.
Damals war ich zehn, elf Jahre alt, und in mir regte sich erste Lust auf Literatur. Meine Neugier konzentrierte sich auf Mord und Totschlag: Mich interessierte das WARUM? hinter dem grausigen Geschehen. Nach einer Weile langweilten mich aktuelle Verbrechen – die blutigen 60er und 70er Jahre rauschten wie im Traum an mir vorbei. Meine Fantasie machte eine Zeitreise in das Jahrzehnt davor, mit dem dazugehörigen Soundtrack: Golden Oldies und Dick Contino, der in der Ed Sullivan Show sein Akkordeon traktierte.
1965 flog ich von der Highschool und meldete mich freiwillig zum Militär. Bei der Army ging mir der Arsch auf Grundeis – ich türkte einen Nervenzusammenbruch, hatte Glück und wurde als untauglich entlassen.
1980 schrieb ich Heimlich – eine notdürftig kaschierte, zeitlich versetzte Nacherzählung des Mordes an meiner Mutter. Der Roman spielt 1951; der Held ist ein junger Cop – und Drückeberger –, der von der Kommunistenhatz aus der Bahn geworfen wird. 1987 schrieb ich Blutschatten. Das Buch spielt 1950 und befasst sich mit der Hexenjagd in der Unterhaltungsbranche.
1990 schrieb ich White Jazz. In einer Nebenhandlung geht es um einen billigen Schundfilm, der in Griffith Park gedreht wird, an denselben Schauplätzen wie Daddy-O.
Jung schrieb: »Was uns nicht zum Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal über uns.«
Ich hätte Dick Contino schon vor Ewigkeiten kommen sehen müssen.
Fehlanzeige. Das Schicksal funkte mir dazwischen, per Foto und Videokassette.
Das Foto besorgte mir ein Freund. Irre: ich, mit zehn, am 22. Juni 1958. Ein Fotograf der L.A. Times knipste das Bild, fünf Minuten nachdem ein Detective mir eröffnet hatte, dass meine Mutter ermordet worden sei. Ich habe einen mittelschweren Schock: Meine Augen sind weit aufgerissen, doch mein Blick ist ausdruckslos und leer. Mein Hosenladen steht auf halbmast; meine Hände scheinen zu zittern. Es war ein heißer Tag: Die schmelzende Pomade in meinem Haar reflektiert das Blitzlicht.
Das Foto ließ mich nicht mehr los: Es war stärker als meine zahllosen Versuche, meine Vergangenheit zu Geld zu machen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht: Meine Trauer war, selbst in diesem Augenblick, ambivalent. Schon wäge ich Vor- und Nachteile gegeneinander ab, spiele sämtliche Möglichkeiten durch, während die übereifrigen Beamten vor dem scheinbaren Schmerz eines kleinen Jungen kapitulieren.
Ich ließ das Foto rahmen und starrte es immer wieder an. Initialzündung: Erinnerungen an die späten 50er Jahre explodierten. Ich entdeckte Daddy-O in einem Versandkatalog und bestellte den Film. Er kam eine Woche später mit der Post; ich schob ihn in den Videorekorder.
Zeitmaschine mit Raketenantrieb …
Die Geschichte dreht sich um den Trucker/Rennfahrer/ Sänger Phil »Daddy-O« Sandifer, der den Mord an seinem besten Freund aufzuklären versucht, was dadurch erschwert wird, dass man ihm den Führerschein entzogen hat. Phils Kumpels »Peg« und »Duke« wollen ihm helfen, sind dazu aber viel zu benebelt, weil sie sich die Nächte im Rainbow Gardens um die Ohren schlagen, einem Halbstarkentreff, wo Phil gratis und auf Zuruf Doo-Wop-Schnulzen schmettert. Egal: Daddy-O lernt die aufreizende Jana Ryan kennen, ein Mädchen aus gutem Hause mit gültigem Führerschein und einem 57er T-Bird-Cabrio. Aus gegenseitiger Abneigung wird sexuelle Anziehung; Phil und Jana tun sich zusammen und verdingen sich zum Schein im Nachtklub des zwielichtigen Fettsacks Sidney Chillis. Der Sänger Daddy-O und das Zigarettenmädchen Jana, ein ebenso attraktives wie schlagkräftiges Duo. Sie kommen schnell dahinter, dass Chillis Big »H« verdealt, stellen ihm eine Falle und kaufen sich den Dickwanst wegen des Mordes an Phils bestem Freund. Das Ganze gipfelt in einer wilden Verfolgungsjagd; bleibt die brennende Frage: Wird Daddy-O als Lohn für seinen Wagemut den Führerschein zurückbekommen? Wer weiß?
Was soll’s?
Ich musste mir den Streifen ohnehin dreimal ansehen, um den Inhalt halbwegs korrekt wiedergeben zu können.
Weil Dick Contino mich in seinen Bann schlug.
Weil ich – instinktiv – wusste, dass er die entscheidenden Antworten parat hatte.
Weil mir klar wurde, dass er wie ein unsichtbarer Geist über meinem »Quartett« von L.A.-Romanen schwebte, ein Phantom, das endlich sprechen wollte.
Weil ich spürte, dass er mir tonnenweise Hintergrundmaterial liefern, meine Erinnerungslücken schließen und auf diese Weise ein gestochen scharfes Bild der Stadt Los Angeles in den späten 50ern zeichnen konnte.
Weil ich zu erkennen glaubte, dass sich Rolle und Privatperson von 1957 in weiten Teilen deckten, ein Gemisch, das in den vergangenen fast fünfunddreißig Jahren an Sprengkraft vermutlich noch gewonnen hatte.
Contino auf der Leinwand: ein hübscher Italiener Ende zwanzig mit strammem Bizeps, entweder vom Hanteltraining oder dem Liebesspiel mit seinem Akkordeon. Ein Bilderbuch-Mädchenschwarm: strahlend weiße Zähne, dunkle Locken, sympathisches Lächeln. Trotzdem leidet er unter den modischen Verirrungen der 50er: bis unter die Achselhöhlen hochgezogene Röhrenhosen, quer gestreifte Ban-Lon-Hemden. Er sieht gut aus und kann singen; mit »Rock Candy Baby« hat er Schwierigkeiten – der Text ist beschissen, und swingende Uptemponummern wie diese liegen ihm ganz offensichtlich nicht –, aber bei dem Schubidu-Schmachtfetzen »Angel Act« – einem Song über den klassischen Loser, der einer »Noir«-Göttin verfallen ist, die sein Leben in Schutt und Asche legen wird – tropft ihm buchstäblich der Schmalz von den Stimmbändern, so sterbensschön lässt er seinen Bariton vibrieren.
Schauspielern kann er auch: Er ist offenkundig ein Naturtalent und fühlt sich vor der Kamera wohl. Irre: Wenn er den Mund aufmacht, werden aus schauderhaften immerhin mittelmäßige Dialoge.
Und er ist stolz darauf, in Daddy-O die Hauptrolle zu spielen – er schämt sich weder für das Drehbuch noch für seine Partner oder einen Text wie: »Rock Candy Baby, that’s what I call my chick! Rock Candy Baby, sweeter than a licorice stick!« –, obwohl er nach dem bisschen, was ich über ihn weiß, auf der Karriereleiter schon mal ein paar Sprossen höher stand.
Ich beschloss, Dick Contino ausfindig zu machen.
Ich hoffte inständig, dass er gesund und munter war.
Ich stöberte ein halbes Dutzend seiner Platten auf, hörte sie mir an und schwelgte in purem, lupenreinem Entertainment.
Live at the Fabulous Flamingo, Squeeze Me, Something for the Girls – alte Standards, aufpoliert zu schimmernden Juwelen des Akkordeonspiels. Ein Stakkato von Filmmelodien; von derart zeit- und hemmungsloser Sentimentalität, dass man damit jeden Meter Tiefsinnskitsch, den Hollywood je produziert hat, unterlegen könnte. Dick Contino, Virtuose auf Vinyl: Er turnt über die Tastatur, improvisiert Kadenzen, entlockt dem Balg ein regelrechtes Klanggewitter. Lässt seine Quetsche flüstern, ächzen, stöhnen, schreien – schneller, als ich denken kann: Was hat es mit dem Leben dieses Mannes auf sich, und was hat das mit mir zu tun?
Ich rief meinen Freund und Assistenten Alan Marks an. Und landete auf Anhieb einen Treffer. »Der Akkordeonspieler? Ist der nicht früher mal in Vegas aufgetreten?«
»Finde so viel wie möglich über ihn heraus. Finde heraus, ob er noch lebt, und wenn ja, besorg mir seine Adresse.«
»Wozu?«
»Hintergrundmaterial.«
Ich hätte sagen sollen: brauchbares Hintergrundmaterial – denn Dick Contino sollte ein naher Verwandter der Helden meiner anderen Bücher werden, ein rast- und ruheloser Bruchpilot, der wie ein Hund den Mond anbellte, ein Quasi-Psychopath, der hinter jedem Rock herlief. Ich hätte sagen sollen: »Bring mir etwas, das ich ausschlachten und weiterentwickeln kann.« Ich hätte sagen sollen: »Bring mir eine Biografie, die sich nahtlos in die düstere Welt meiner ersten zehn Romane fügt.«
»Was uns nicht zum Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal über uns.«
Ich hätte den echten Dick Contino kommen sehen müssen.
Eine Woche später rief Alan zurück. Er hatte Contino in Las Vegas aufgespürt – »und er ist bereit, mit dir zu sprechen«.
Bevor ich mich mit ihm in Verbindung setzte, zeichnete ich unser beider Lebensläufe nach. Allmählich bildete sich ein bestimmtes Muster heraus – ich wollte eine Novelle über Dick Contino und die Dreharbeiten zu Daddy-O schreiben –, doch irgendetwas hielt mich davon ab, die Initiative zu ergreifen, mir die nötigen Informationen zu beschaffen und mich an den Schreibtisch zu verfügen. Mir wurde klar, dass ich durch meine Ängste an diesen Mann gefesselt war: die berufsbedingte Angst zu scheitern, die sich durch harte Arbeit überwinden ließ, sowie die schreckliche Furcht, die zu klaustrophobischen Erstickungsanfällen führt und strahlende junge Männer dazu bringt, zu desertieren – die Angst, dass buchstäblich alles passieren könnte, passieren kann, passieren wird.
In Furcht vereint; im Kampf auf sich gestellt.
Ich ging zur Army, als der Vietnamkrieg langsam, aber sicher ins Rollen kam. Mein Vater lag im Sterben: Ich hatte keine Lust, ihm dabei zuzusehen. Die Army war das nackte Grauen – ich suchte nach möglichen Fluchtwegen. James Ellroy, siebzehn, Nachwuchsmime, zog eine irre Stotternummer ab, um seine Wehruntauglichkeit zu demonstrieren.
Ich bot eine glänzende Vorstellung, die mit sofortiger Entlassung und einer Rückfahrkarte nach L.A. belohnt wurde, wo ich endlich wieder meinen Leidenschaften frönen konnte: saufen, kiffen, Krimis lesen und in anderer Leute Häuser einbrechen, um Damenunterwäsche zu beschnüffeln.
Niemand nannte mich einen Feigling oder Drückeberger – der Vietnamkrieg hatte vom ersten Tag an keine besonders gute Presse, und sich aus seinen Klauen zu befreien galt als ehrenwert.
Ich war den Fängen der Army spielend entronnen – und hatte mir meine Angst natürlich nicht anmerken lassen. Ich war beileibe kein strahlender junger Mann, der sich mit Begeisterung zur Schlachtbank führen ließ.
Hinter mir liegt ein bewegtes Leben, das sich medial hervorragend verwerten lässt; ich betrachte es wie einen pikaresken Roman – eine List, dank der sich meine Suche nach einem tieferen Sinn ausschließlich auf meine Bücher beschränkt, die mir immer neue Kraft und Energie verleiht und mich obendrein davor bewahrt, in ein großes schwarzes Loch zu fallen. Dick Contino verfuhr nach einer anderen Methode: Er war Musiker, kein Schriftsteller, und bekannte sich von Anfang an zu seinen Ängsten. Und er machte weiter: Musikalisch sind seine nach der Drückeberger-Affäre aufgenommenen Platten den vor 1951 erschienenen Scheiben haushoch überlegen. Er machte weiter, und meines Wissens hat in all den Jahren lediglich das Publikumsinteresse etwas nachgelassen.
Ich rief Contino an und teilte ihm mit, dass ich über ihn schreiben wolle. Wir plauderten; er sagte: »Kommen Sie nach Vegas.«
Contino holte mich vom Flughafen ab. Er sah fantastisch aus: schlank und topfit, trotz seiner dreiundsechzig Jahre. Sein Daddy-O-Grinsen war unverändert; er bestätigte, dass sein Daddy-O-Bizeps vom Akkordeonspielen stamme.
Wir gingen in ein Restaurant und quatschten. Unser Gespräch verlief sehr sprunghaft – Dicks Erinnerungen schweiften immer wieder ab und führten nur auf Umwegen zu ihrem zumeist anekdotenhaften Ausgangspunkt zurück. Wir unterhielten uns über Las Vegas, die Mafia, Knasterfahrungen, Barmusik, Howard Hughes, Korea, Vietnam, Daddy-O, L.A. in den 50ern, Angst und das zähe Ringen um das Publikum.
Ich erklärte ihm, dass die besten Romane sich nicht unbedingt auch am besten verkauften, dass variantenreicher Stil und komplexe Geschichten viele Leser überforderten. Ich erklärte ihm, dass meine Bücher, obwohl sie sehr gut gingen, als zu düster, kompliziert und gewalttätig galten, um zum Bestseller zu taugen. Dick fragte mich, ob ich andere Bücher schreiben würde, um die Auflage zu steigern – ich sagte: »Nein.« Er fragte, ob ich andere Bücher schreiben würde, wenn ich das Gefühl hätte, eine Masche oder ein Thema ausgereizt zu haben – ich sagte: »Ja.« Er fragte, ob die historischen Figuren in meinen Romanen mich manchmal überraschen – ich sagte: »Nein, denn sie sind für mich nur Mittel zum Zweck.«
Ich sagte: »Die Arbeit ist die Hauptsache.« Er sagte ja, aber man dürfe sich nicht hinter seiner vermeintlichen Integrität verschanzen. Das Publikum habe ein Recht auf sein Vergnügen – und dazu brauche es nun mal ein gewisses Maß an Schmalz.
Ich fragte Dick, wie er das mache. Er sagte, seine alten Ängste hätten ihn gelehrt, sich seinen Mitmenschen zu öffnen. Er sagte, Angst lebe von Einsamkeit, und wenn es einem gelänge, die Mauer zwischen sich und dem Publikum niederzureißen, eröffneten sich gänzlich neue Perspektiven.
Ich fuhr in mein Hotel und ließ die Offenbarungen des Tages Revue passieren. Meine Welt war aus den Fugen, und ich betrachtete meine Vergangenheit zum ersten Mal mit anderen Augen. Ich sah mich vor einem riesigen Publikum stehen, gewappnet mit neuer literarischer Munition: der Gewissheit, dass Dick Contino der Held meines nächsten Romans sein würde.
Dick Continos Blues nahm mit einem Schlag Gestalt an, schien buchstäblich aus dem Nichts zu kommen.
Am nächsten Abend trafen Dick und ich uns zum Essen. Es war mein fünfundvierzigster Geburtstag; ich hatte das Gefühl, an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt zu sein.
Dick brachte mir ein Ständchen auf dem Akkordeon, eine Bebop-Version von »Happy Birthday«. Der alte Schwung war noch da – er umspielte das Thema in rasendem Tempo.
Wir gingen zu Fuß zum Restaurant. Ich fragte Dick, ob er etwas dagegen hätte, als Held in einer Novelle und meinem nächsten Roman aufzutreten.
Er sagte nein und fragte, worum es in den beiden Büchern gehen solle. Ich sagte: »Angst, Mut und teuer erkaufte Erlösung.«
Er sagte: »Gut, ich glaube, ich weiß, was du meinst.«
Es war eine kalte Nacht; die Sterne verblassten angesichts des Neongewitters von Las Vegas. Der Himmel tat sich auf, und ich fragte mich unwillkürlich, was das alles zu bedeuten hatte.