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Der Arzt vom Tegernsee
– 38 –

Angst um ihr Leben

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-558-8

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»So, jetzt sind wir bald zu Hause, Bonnie. Du wirst noch einen leckeren Hundekuchen bekommen und dann nichts wie ab ins Körbchen.« Elsbeth Konrad lachte leise auf. »Ich habe das Körbchen genauso nötig wie du, mein Liebling. Wenn man wie wir erst einmal in die Jahre gekommen ist…«

Bonnie wandte flüchtig den Kopf zu ihrer Herrin. Sie fühlte, daß es ihr nicht besonders gutging. Entschlossen strebte die alte Hündin dem Reihenhaus zu, in dem sie lebten.

Elsbeth Konrad tastete in ihrer Manteltasche nach dem Schlüssel. Obwohl sie ihn bisher noch nie vergessen hatte, lebte sie in der ständigen Furcht, einmal vor verschlossener Haustür zu stehen. Erleichtert atmete sie auf, als ihre Finger den Schlüsselbund umspannten.

Gisela Widmann, ihre unmittelbare Nachbarin, fegte trotz der späten Stunde noch die Außentreppe. Ohne Elsbeths Gruß zu erwidern, starrte sie die alte Frau auf ihren Besen gestützt an, dann ging sie ins Haus. Schallend flog die Tür hinter ihr zu.

»Leute gibt’s, Bonnie«, bemerkte Elsbeth Konrad, als sie mit ihrer Hündin das Haus betrat. Sie war froh, daß sie mit den Widmanns nicht unter einem Dach leben mußte, sondern nur Wand an Wand. Selbst das war schon eine Belastung. Bedauernd dachte sie an die Jahre zurück, in denen die Widmanns noch nicht neben ihr gewohnt hatten.

Bonnie bekam ihren Hundekuchen. Zufrieden zog sie sich damit in ihren Schlafkorb zurück, der neben dem Bett ihrer Herrin stand. Kaum hatte sie den Kuchen verspeist, schlief sie auch schon ein. Sie war vierzehn, und hinter ihr lag ein langes, schönes Hundeleben, in dem sie außer von den Widmanns nur selten ein böses Wort gehört hatte. Die Zeiten, in denen sie durch die Wiesen gejagt war, gehörten der Vergangenheit an, doch in ihren Träumen wurde sie wieder zu einem jungen Hund, der Gefallen an wilden Spielen und Balgereien unten am See fand.

Elsbeth Konrad nahm ihre Herzmedizin und legte sich zu Bett. Eigentlich hatte sie noch etwas lesen wollen, aber schon nach einer halben Seite fielen ihr die Augen zu. Sie schaffte es gerade noch, ihre Brille abzunehmen und das Licht zu löschen.

Kurz nach Mitternacht riß das schrille Läuten des Telefons die alte Frau aus dem Schlaf. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich soweit gefaßt hatte, daß sie den Lichtschalter ihrer Nachttischlampe fand. Ihre Hand tastete nach dem Telefonhörer. »Konrad«, meldete sie sich mit brüchiger Stimme, aber es antwortete ihr keiner. Sie hörte nur schweres Atmen. »Hallo, wer ist da?« fragte sie und spürte, wie eine entsetzliche Angst in ihr aufstieg.

»Das tut nichts zur Sache«, antwortete ein Mann mit verstellter Stimme. »Es sollte Ihnen genügen, daß ich ein Freund bin.«

»Ein Freund«, wiederholte die alte Frau atemlos und verkrampfte die Finger um den Hörer.

»Ja, ein Freund«, wiederholte der Unbekannte. »Es geht um Ihren Köter. Wenn…«

»Bonnie?« Elsbeth blickte zum Korb ihrer Hündin. Bonnie schlief so tief, daß nicht einmal das Läuten des Telefons sie geweckt hatte.

»Mir ist es gleich, wie Ihr Köter heißt, Frau Konrad, jedenfalls muß er weg. Wenn Sie nicht vernünftig sind, endlich den Hund abzugeben, werde ich dafür sorgen, daß er per Gesetz eingeschläfert wird.«

»Das können Sie nicht!« stieß Elsbeth entsetzt hervor. »Sie…«

Der Mann legte auf.

»Nein, das können Sie nicht«, schluchzte die alte Frau. Sie hielt noch immer den Hörer in der Hand. »Sie können mir nicht meine Bonnie wegnehmen. Bonnie…« Elsbeth versuchte, tief Luft zu holen. Es gelang ihr nicht. Alles in ihr war ein einziger Schmerz. Sie konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Ein heftiger Strudel schien sie mit sich in die Tiefe zu reißen. Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen.

Bonnie, dachte sie, Bonnie. Und plötzlich zerriß der Schleier, der sich um sie gebildet hatte. Sie brauchte einen Arzt. Sie brauchte Doktor Baumann. Welche Nummer mußte sie wählen? Sie fiel ihr nicht ein, nur die Nummer ihrer Nachbarin, Maren Steiner. Wie gut, daß sie Frau Steiner einen Schlüssel gegeben hatte. Mit letzter Kraft drückte sie die einzelnen Ziffern.

Maren schreckte aus dem Tiefschlaf auf, als das Telefon klingelte. »Steiner«, meldete sie sich verschlafen, war jedoch sofort hellwach, als sie die Stimme ihrer Nachbarin hörte. Es mußte etwas passiert sein, umsonst rief Frau Konrad sie nicht mitten in der Nacht an.

»Tut mir leid… Herzanfall… Dr. Baumann«, flüsterte Elsbeth. »Bonnie…«

»Ich rufe Dr. Baumann an und komme danach sofort zu Ihnen«, versprach Maren erschrocken. »Bleiben Sie bitte ganz ruhig liegen.« Ohne die Antwort ihrer Nachbarin abzuwarten, legte sie auf und wählte die Nummer des Arztes.

Wenige Minuten später verließ Maren im Jogging-Anzug das Schlafzimmer und ging leise, um ihre zehnjährige Tochter nicht zu wecken, zur Treppe.

»Mama, was ist denn passiert?« fragte Simone hinter ihr. »Wer hat angerufen?«

Maren drehte sich um. »Du hast wirklich Ohren wie ein Luchs, Liebes«, meinte sie bedauernd. »Frau Konrad braucht Hilfe. Geh rasch ins Bett zurück. Ich erzähle dir morgen alles.« Sie winkte ihr flüchtig zu und eilte die Treppe hinunter. Als sie aus dem Haus trat, sah sie, daß in der Küche der Widmanns Licht brannte. Sie achtete nicht weiter darauf, eilte über die Straße und betrat den Vorgarten des Reihenhauses.

Das Schlafzimmer der alten Frau war von ihrem Röcheln und Bonnies leisem Winseln erfüllt. »Ist ja schon gut, Bonnie, du mußt keine Angst haben«, sagte Maren automatisch. Sie wandte sich Frau Konrad zu. »Doktor Baumann wird in wenigen Minuten hier sein«, versprach sie und öffnete die obersten Knöpfe des geblümten Nachthemds, das ihre Nachbarin trug. »Ganz ruhig. Ganz ruhig.« Sie tupfte ihr den Schweiß von der Stirn.

»Man will mir Bonnie nehmen«, stieß Elsbeth Konrad abgehackt hervor. »Jemand hat angerufen. Gedroht. Sie…«

»Sie dürfen sich nicht so aufregen.« Maren drückte Elsbeths Hand. »Ich weiß, wie sehr Sie Bonnie lieben. Keiner wird Ihnen Bonnie nehmen.«

»Versprochen?«

»Ja, ich verspreche es Ihnen«, erwiderte die junge Frau. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Sie beugte sich zu Bonnie hinunter, die inzwischen aus ihrem Korb gekrabbelt war, und streichelte sie. Man konnte Bonnie keine Schönheit nennen, das Alter hatte ihr arg zugesetzt, doch ihr liebenswertes Wesen strahlte nach außen und nahm viele Menschen auf Anhieb für sie ein.

»Wer kann das nur gewesen sein?« fragte Elsbeth Konrad. Sie bekam noch immer schwer Luft, fühlte sich jedoch schon etwas besser.

»Ich weiß nicht«, antwortete Maren, dann erinnerte sie sich an das Licht, das sie in der Küche der Widmanns gesehen hatte. Ihnen traute sie eine derartige Gemeinheit auf Anhieb zu. Seit sie vor einigen Jahren in das Nachbarhaus gezogen waren, machten sie Elsbeth Konrad das Leben schwer. Einmal ging es um einen Baum, der ihnen angeblich die Sonne raubte, dann wieder um einen zu laut eingestellten Fernseher oder um Laub, das in ihren Garten fiel, aber meistens um Bonnie. Sie beschwerten sich über den Lärm, den die Hündin angeblich machte, klagten über Häufchen in ihrem Garten, obwohl Bonnie nicht über den Zaun springen konnte, und begannen, sie zu beschimpfen, kaum, daß sie sich auf der Terrasse zeigte. Einmal war sogar der Tierschutzinspektor bei Frau Konrad gewesen, weil man sie wegen Vernachlässigung ihrer Hündin angezeigt hatte. Auch wenn man es den Widmanns nicht nachweisen konnte, nur sie kamen in Frage.

»Ich glaube, Doktor Baumann kommt.« Maren hatte einen Wagen vorfahren gehört. Sie eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, um dem Arzt zu öffnen.

»Wie geht es Frau Konrad?« fragte Eric, als er Maren die Hand reichte.

»Sie hat sich etwas beruhigt, Doktor Baumann«, erwiderte die junge Frau. Sie erzählte von dem anonymen Anruf. »Ich vermute, daß ihre direkten Nachbarn dahinterstecken.«

»Könnte durchaus sein«, sagte Eric. Auch er kannte die Widmanns und war froh, daß sie nicht zu seinen Patienten gehörten. »Es wird schwer sein, es ihnen zu beweisen.«

»Wahrscheinlich unmöglich.«

Dr. Baumann stieg eilig die Treppe hinauf und betrat das Schlafzimmer der alten Frau. Auf den ersten Blick erkannte er, daß zwar keine Lebensgefahr bestand, Frau Konrad jedoch einen ziemlich schweren Herzanfall hatte. »Sie machen Sachen«, meinte er und schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln.

»Da war ein Anruf. Bonnie…«

»Frau Steiner hat es mir erzählt, Frau Konrad«, fiel er ihr ins Wort. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ihrer Bonnie wird nichts geschehen. Jeder weiß, wie gut Sie für sie sorgen und was für ein liebes Kerlchen sie ist.«

»Sie ist mein ein und alles. Ich habe doch nur noch die Bonnie.« Elsbeth begann zu schluchzen.

»Ganz ruhig«, sprach der Arzt leise auf sie ein, während er eine Spritze aufzog. »Gleich werden Sie richtig durchatmen können.« Vorsichtig injizierte er ihr das Medikament.

Elsbeth spürte, wie sie langsam ruhiger wurde. »Mir ist Ihre Nummer nicht eingefallen, Doktor Baumann«, sagte sie. »Deshalb habe ich Frau Steiner angerufen.« Sie seufzte tief auf. »Wie kann ein Mensch nur so gemein sein? Bonnie tut doch wirklich keinem etwas.«

»Jeder weiß, wie gut es Bonnie bei Ihnen hat, Frau Konrad«, versicherte Maren und trat jetzt ebenfalls wieder an das Bett der alten Frau. »Machen Sie sich keine Sorgen.« Sie tätschelte Elsbeths Arm. »Während der nächsten Tage werden meine Tochter und ich Bonnie ausführen, damit Sie sich richtig erholen können.«

»Was sollte ich nur ohne Sie und Simone machen?« Elsbeth schloß die Augen. »Ich bin so müde«, flüsterte sie. »So unendlich müde.«

»Soll ich heute nacht bei Ihnen bleiben?« fragte Maren.

»Nein, ich komme schon allein zurecht«, lehnte die Kranke ab. »Sie brauchen auch Ihren Schlaf.«

Maren warf dem Arzt einen fragenden Blick zu. Sie machte sich Sorgen um ihre Nachbarin. Elsbeth Konrad war zwar erst siebenundsechzig, jedoch seit Jahren herzkrank, und sie hatte wirklich viel in ihrem Leben mitmachen müssen.

»Ich schaue morgen wieder nach Ihnen, Frau Konrad«, versprach der Arzt und drückte ihre Hand.

»Wenn Sie mir sagen, um wieviel Uhr Sie kommen, werde ich da sein«, versprach Maren. »Wie Sie wissen, habe ich einen Haustürschlüssel.« Sie beugte sich über Bonnie, die es sich wieder in ihren Korb bequem gemacht hatte, und streichelte sie.

»Um zwei«, antwortete Dr. Baumann, als sie die Treppe hinunterstiegen. »Natürlich komme ich auch früher, falls etwas sein sollte. Sie werden ja vermutlich schon am Morgen nach Frau Konrad schauen.«

»Ja, ich werde gleich nach dem Aufstehen einen Spaziergang mit Bonnie machen und mich um das Frühstück für Frau Konrad kümmern.«

Gemeinsam verließen sie das Haus. Dr. Baumann blieb kurz vor seinem Wagen stehen und verabschiedete sich von Maren. »Ich bin froh, daß es Leute wie Sie gibt.« Er drehte sich zum Haus der Widmanns um. In der Küche brannte kein Licht mehr, aber er glaubte, eine Bewegung hinter der Gardine wahrzunehmen.

»Nachbarn sollten einander helfen«, bemerkte Maren. Sie gähnte verstohlen.

»Höchste Zeit, daß Sie wieder ins Bett kommen«, sagte er, als er sich von ihr verabschiedete. »Vergessen Sie nicht, daß Sie morgen vormittag einen Termin bei mir haben.«

»Habe ich nicht vor«, erwiderte die junge Frau. »Bis morgen!« Sie wartete, bis Dr. Baumann in seinen Wagen gestiegen war, dann überquerte sie die Straße und verschwand kurz darauf im Eingang ihres Hauses. Im selben Moment kehrte auch Karl Widmann in sein Schlafzimmer zurück.

*

Simone Steiner hatte zwar erst vor zwei Monaten ihren zehnten Geburtstag gefeiert, doch sie verstand es schon ausgezeichnet, das Frühstück zuzubereiten und kleinere Gerichte zu kochen. Als ihre Mutter an diesem Morgen in aller Frühe das Haus verließ, um sich um Frau Konrad zu kümmern und Bonnie auszuführen, beschloß sie, Küchenfee zu spielen. Ihr Unterricht begann an diesem Tag erst in der zweiten Stunde, so daß ihnen noch eine Menge Zeit zum Frühstücken bleiben würde. Leise vor sich hin pfeifend machte sie sich an die Arbeit.

Schon als Maren die Haustür öffnete, roch sie, daß ihre Tochter in der Küche werkelte. Es duftete herrlich nach frischen Brötchen, Kaffee und Rühreiern mit Schinken. Genau das richtige, um ihre Lebensgeister zu wecken.