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Juri Andruchowytsch, »der poetische Landvermesser« (FAZ) aus der Unruhezone Ukraine, hat viel Zeit investiert, um sich mit fremden Städten anzufreunden, die ihm Schutz und Ruhe gewähren sollten. In manchen ist er eine Weile hängengeblieben. Andere wurden zu Lebensstationen: »München beginnt gleich hinter Moskau, das Alphabet harmoniert mit der Zeit« – denn München war die erste deutsche Stadt, die der junge Autor aus der untergehenden Sowjetunion besuchte, um ganz in der Nähe, am Starnberger See, seine ›Moscoviada‹ zu schreiben.

 Diamantenläden statt Zimtläden – eine Gasse in Antwerpen, chimärisch, als wäre sie von Bruno Schulz erfunden. Soziologie der Straßenmusik in Berlin. Mit Andrzej Stasiuk im hundertgeschossigen InterContinental in Bukarest. Zu Besuch im tragischen Museum in Charkiw. Unterwegs durch verlassene Gärten in Detroit. Staunend in Kiew, der einst verhassten Stadt, die plötzlich zum Inbegriff der Hoffnung wird.

 Ein weltläufiger, vielsprachiger Schriftsteller durchstreift die Städte seiner Träume und Albträume. Er spießt Klischees auf und lässt uns an seinen Erleuchtungen teilhaben. Wie dieser Stadtnomade alle Sinne schult, um im unscheinbaren Detail ein Gefühl für das große Ganze zu entwickeln, macht Lust darauf, es ihm gleichzutun.

 

Juri Andruchowytsch,geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, studierte in Lemberg und Moskau und lebt nach Aufenthalten in Westeuropa und den USA heute wieder in Iwano-Frankiwsk. Er wurde u. ‌a. mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: ›Perversion‹. Roman (st 4490); (Hg.): ›Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht‹ (Sonderdruck edition suhrkamp).

 Sabine Stöhr, geboren 1968, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Publizistik und lebte mehrere Jahre in Kiew und Moskau. Seit 2003 übersetzt sie aus dem Ukrainischen, vor allem Juri Andruchowytsch, aber auch Ljubko Deresch und Serhij Zhadan. 2014 wurde sie von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Wien.

 

 

Juri Andruchowytsch

KLEINES LEXIKON INTIMER STÄDTE

Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik

Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr

Insel

 

 

Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um eine vom Autor zusammengestellte Auswahl von 39 Texten aus der 111 Städteporträts umfassenden Originalausgabe, die 2011 unter dem Titel Leksykon intymnych mist im Verlag Meridian Czernowitz, Kiew, erschienen ist. Sie wurden vom Autor in Zusammenarbeit mit seiner Übersetzerin überarbeitet und teilweise aktualisiert.

 

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Insel Verlag Berlin 2016

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg/Simone Andjelkovic.

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eISBN 978-3-458-74908-0

www.suhrkamp.de

KLEINES LEXIKON INTIMER STÄDTE

 

 

 

А – Б – В – Г – Ґ – Д – Е – Є – Ж – З – И – І – Ї – Й – К – Л – М – Н – О – П – Р – С – Т – У – Ф – Х – Ц – Ч – Ш – Щ – Ь – Ю – Я

VORWORT NACH ART EINER BEDIENUNGSANLEITUNG

Was Sie auf der gegenüberliegenden Seite sehen, ist das ukrainische Alphabet. Es hat dreiunddreißig Buchstaben. Lassen Sie mich hier auf eine gewisse Ungleichheit hinweisen. Es gibt sehr populäre Buchstaben, solche mittlerer Häufigkeit und Außenseiter. Diese Ungleichheit verschärft sich noch, wenn es um Wortanfänge geht, um die ersten Buchstaben. Diesbezüglich ist der einunddreißigste Buchstabe der absolute Außenseiter: das Ь. Er wird Weichheitszeichen genannt. Außerdem gibt es im ukrainischen Alphabet zwei einzigartige Buchstaben, die in keinem anderen kyrillischen Alphabet zu finden sind, Sichelchen und Kerzlein, um es in den Worten des Dichters Iwan Malkowytsch zu sagen, also Є und Ї. Sie erlauben es uns, einige ausländische Namen und Bezeichnungen auf ganz eigene Art zu transkribieren.

Ich werde mich nun wiederholen und aus einer Notiz zitieren, die ich vor einiger Zeit anlässlich der Veröffentlichung eines anderen Buches eines anderen Autors geschrieben habe.[1] Mir ist bewusst, dass einem das Selbstzitat eher nicht zum Ruhm gereicht, doch habe ich noch nichts Treffenderes zu diesem Thema formulieren können: »Von allen möglichen Koordinatensystemen ist das Alphabet dem Schriftsteller das liebste. Ein Mensch, der von Natur aus die Welt vor allem durch Wörter erfährt, die aus Buchstaben gebaut sind, findet im Alphabet seinen zuverlässigsten und vielleicht einzigen Halt. Ihre einzig mögliche Anordnung verleiht den Zeichen das Gewicht von Symbolen. Das Alphabet ist umfassende und vollendete Wirklichkeit. Es betrügt dich nicht, und es verändert sich auch nicht. Ein guter Ausgangspunkt für den eigenen Tanz. Der gesamte Text unseres Lebens beginnt mit Alphabet und Kinderfibel, dieser kindlichen Einübung ins Alphabet. Und idealerweise beginnt er nicht nur, sondern endet auch mit dem Alphabet.«

 

Das Alphabet ist absolut. Ich erinnere mich, wie uns die Physiklehrerin in der Schule auf die Absolutheit der Zeit hingewiesen hat: »Die Zeit verbrüdert sich mit niemandem.« Etwas Ähnliches lässt sich auch über das Alphabet sagen. Es ist eine Gegebenheit, mit der sich nicht streiten lässt. Es errichtet die Folge und somit auch die Struktur der inneren (und äußeren) Weltordnung der Schriftlichkeit. Diese Eigenschaft befördert vor allem die Schaffung von Enzyklopädien und Wörterbüchern.

Warum?

Erstens erheben sie Anspruch wenn schon nicht auf Universalität, so doch wenigstens auf Vollständigkeit. Das Alphabet ist ein unerschütterliches Gerüst, das auszufüllen Vollständigkeit bedeutet.

Zweitens sind Enzyklopädien, wie Wörterbücher, der Versuch, die Welt wenigstens in einem ihrer Segmente zu systematisieren. Das Alphabet wiederum ist die elementar systematisierte Basis der Zeichen.[2]

Drittens akkumulieren sie Wissen, das als Text aufgeschrieben und in Thesen formuliert wurde; sie setzen sich aus Begriffen zusammen, diese wiederum aus Wörtern, welche vor allem aus Buchstaben bestehen. Der Buchstabe erscheint so als Basiseinheit (Elementarteilchen, atomos) der Bezeichnung des Wissens.

 

* * *

 

Dieses Buch sollte eine Enzyklopädie werden. Natürlich eine persönliche, wie sie nur eine einzige Person schreiben kann. Also eher eine »Enzyklopädie« in Anführungszeichen.

Enzyklopädien streben danach, fundamental zu sein. Jeder Versuch, die Welt mittels der Auslegung von Begriffen zu beschreiben, geht bis zum Äußersten und scheint aussichtslos. Manchmal sogar absurd, wie im Fall der ersten polnischen Enzyklopädie von Benedykt Chmielowski aus dem Jahr 1745/46 mit dem vielsagenden Titel Neue Athenäen, in der unter dem Stichwort »Pferd« die klügste und auf ihre Art erschöpfendste aller Definitionen angeführt ist: »Ein PFERD ist, was es ist, alle sehen es.«

Dem Autor der Neuen Athenäen schien das ausreichend. Und er hatte recht damit, seine Enzyklopädie war schließlich die Erste, oder zumindest die erste in der polnischsprachigen Welt. So wie er es beschrieb und erläuterte, würde es auf ewig bleiben.

Aufgabe einer Enzyklopädie ist es aber, nicht nur zu beschreiben und zu erläutern, sondern auch das früher Beschriebene und Erläuterte zu aktualisieren. Es ist ja bekannt, dass Enzyklopädien, die Anspruch darauf erheben, umfassend zu sein, schon im Moment ihres Erscheinens veralten.

Ich habe bisher zweimal enzyklopädische Versuche gestartet.

Der erste war das Projekt »Glossar« der Zeitschrift für Texte und Visionen Tschetver (Donnerstag). Die Bezeichnung »Glossar« taucht allerdings nirgendwo auf; es scheint, als hätten wir das Projekt erst nach der Veröffentlichung so genannt. Das »Glossar« entstand überwiegend Ende 1991, in der Atmosphäre eines tiefgreifenden historischen Umbruchs, vielmehr sehr deutlicher Vorgefühle, im Geheimnis spreche ich von einer »Endzeit-Enzyklopädie«. Das »Glossar« hatte ich mir mit Isdryk[3] zusammen ausgedacht, daher stammen die meisten Glossen von uns. Aber wir luden auch andere Autoren ein, sich zu beteiligen; es war die Entstehung jenes Milieus, das später »Stanislauer Phänomen« genannt wurde. Zu Beginn stellten wir, wie alle Enzyklopädisten, eine Liste der Begriffe und Wörter zusammen, die wir am Vorabend des Endes erklären wollten. Vor allem waren es solche, die eigentlich keiner Erklärung bedurften, ähnlich wie Chmielowskis allen offensichtliches Pferd: Baum, Frau, Gott, Teufel, Stadt, Ukraine, Vogel, Wein, Wasser. Später wurde uns die unfreiwillige Ironie der Bezeichnung »Glossar« bewusst – wenn man darunter ein »Wörterbuch zu einem Text« versteht, »das seltene oder veraltete Wörter erklärt«.

Danach teilten wir die Liste seltener oder veralteter Wörter unter uns auf, und nach einer gewissen Zeit brachte jeder mal größere, mal kleinere Texte an. Wir waren ein Autorenkollektiv, das die Welt durch sieben geteilt hatte.

Der zweite Versuch war das Projekt »Rückkehr der Demiurgen« oder auch Kleine Ukrainische Enzyklopädie Aktueller Literatur – KUEAL, entstanden Mitte der neunziger Jahre und erstmals 1998 veröffentlicht. Wie der Titel schon sagt, handelt es sich, im Unterschied zum universalen »Glossar«, um eine Fach-Enzyklopädie. Ihr Fach war die ukrainische aktuelle Literatur (UAL), die extrem subjektiv und stellenweise provokativ beschrieben wurde: anhand von Autoren- und Verlagsnamen, Zeitschriftentiteln, Gruppen- und Milieubezeichnungen, anhand von Tendenzen, Trends, banal besagt: Richtungen, Schulen und Strömungen, weniger banal (und wie damals modern): anhand von Diskursen, von erfundenen und wahren Ebenen der Koexistenz all des vorher Aufgezählten.

Eine entscheidende Rolle im Projekt KUEAL spielte mein Co-Autor Wolodymyr Jeschkilew[4], von ihm stammen die Demiurgen im Titel und deren nitzscheanische Wiederkehr. Ich war eher der faule Assistent, verantwortlich für den Anhang, in dem ich die beliebtesten oder wenigstens aussagekräftigsten Werke von zweiundfünfzig damals (und Gott sei Dank überwiegend auch heute noch) aktuellen Autoren zusammenstellte. Die wichtigste Folge des Erscheinens von KUEAL war, dass fast alle sauer auf mich waren (auf Jeschkilew waren sie auch vorher schon, sozusagen a priori, sauer gewesen).

Damals habe ich mir vorgenommen, mich niemals mehr auf eine Enzyklopädie einzulassen.

 

* * *

 

Als wäre ich Milorad Pavić oder der alte Pamwo Berynda[5], bin ich jedoch immer scharf auf ein eigenes Lexikon gewesen.

Die meisten Quellen definieren Lexikon ähnlich wie Wörterbuch. Nur die Deutschen bezeichnen es als »Wörterbuch im weiteren Sinne«, als »Nachschlagewerk in einem speziellen Bereich«.

Im Grunde war bereits das erwähnte KUEAL so etwas in der Art.

Wir wollen annehmen, dass auch dieses Buch etwas in der Art werden wird.

Der spezielle Bereich jedenfalls ist sehr speziell.

Eine Autobiographie, die sich auf Geographie stützt – wie könnte man das nennen? Autogeographie? Autogeobiographie?

Das klingt zu kompliziert; fast wie die schwer verdauliche, in Hexametern geschriebene Batrachomyomachia. Und was kommt in dieser Verbindung von Bio und Geo eigentlich zuerst, was baut hier wie auf dem jeweils anderen auf?

Dieses Buch ist der Versuch, beides als ein untrennbares Ganzes zu leben, Geo und Bio so zu vermischen, dass unsichtbar wird, wo die Grenze verläuft, wo das eine endet und das andere beginnt.

Dazu muss die Biographie in Stücke gehauen und die Geographie zumindest örtlich stark verzerrt werden. Habe ich örtlich geschrieben? Das stimmt. Dieses Buch dreht sich um Städte, die zu mehr wurden – zu ORTEN, besonderen Orten, intim wie erogene Zonen. Zu ORTEN, die auf Landkarten als Städte erscheinen.

Alles fängt mit den Landkarten an. Solange ich denken kann, habe ich einen manischen[6] Hang, sie zu betrachten. Für mich wurden Karten zu dem, was man in romantischeren Zeiten eine Quelle der Inspiration genannt hätte. Am faszinierendsten war es, wenn ich mir vorstellte, ich sei ein kleiner beweglicher Punkt auf ihrer farbigen Oberfläche, über sie hingleitend, Bergkämme überwindend, mit der Strömung die blauen Fäden der Flüsse abwärts schwimmend. Die Bewegung über die Oberfläche einer Karte heißt Reise. Und jede Reise bedeutet auch Abenteuer und Phantastik.

Aber, um ehrlich zu sein – am längsten saß ich über politische Karten gebeugt. Man könnte annehmen, dass mich schon damals die Geopolitik verfolgte. Aber wenn ihr Pfeil wirklich vergiftet war, dann habe ich immer ein Gegengift bei mir: die Geopoetik.

Kennen Sie übrigens die Farbe der Ukraine auf heutigen politischen Karten? Aus Sowjetzeiten weiß ich noch, dass die U-d-S-S-R kraftvoll rosa koloriert war, Polen fast grasgrün, China natürlich gelb, sein Freund Rumänien auch, aber wegen Mais und Mamalyga. Das gute alte England war grün, die DDR hell- und die BRD dunkelbraun (und da sage mir einer, dass die Geographie nichts mit Propaganda zu tun hat!). Die USA trugen übrigens dieselbe Farbe wie die BRD. Dunkelbraun gilt wohl als die widerlichste von allen.

Ich erinnere mich daran, weil ich sie stundenlang wie hypnotisiert betrachten konnte.

Um die Frage nach der heutigen Farbe der Ukraine zu beantworten, schaue ich derweil im Weltatlas nach, herausgegeben vom Verlag Kartographie im noch gar nicht so fernen Jahr 2004. Die Ukraine ist dort hellgrün, wie Schweden, China, Kanada und Saudi-Arabien. Ich kann mir nicht erklären, warum. Immerhin unterscheidet sich unsere Farbe von der Russlands. Russland hat (vielleicht zusammen mit dem Auslandsvermögen) das Rosa der U-d-S-S-R geerbt.

Karten sind mein Ein und Alles. Andererseits: »Trotz meiner Liebe zu Landkarten ist es mir nie gelungen, einen praktischen Nutzen aus ihnen zu ziehen – sie waren und sind für mich eher eine phantastische Mixtur, eine Hybride aus Literatur und Malerei, Namen und Visionen, aber niemals ein Mittel, den richtigen Weg zu finden.«[7]

So ist auch dieses Buch: eine Mischung, eine Hybride. Und versuchen Sie bloß nicht, es zu benutzen, um den richtigen Weg zu finden! Es hilft Ihnen eher, sich zu verirren, auf Abwege zu geraten, vielleicht ist es unterhaltsam, weil es Desorientierung vor Ort bietet.

Aber nicht ich und meine Kartomanie sind hier ursächlich. Ursächlich ist das Diktat des Alphabets.

 

* * *

 

Das deutsche Alphabet unterscheidet sich vom ukrainischen. Der kardinale Unterschied zwischen dem lateinischen und dem kyrillischen Alphabet hat uns beinahe in unterschiedliche Zivilisationen geworfen. Diese Wahrheit erwähne ich, damit die deutschsprachigen Leser des Lexikons besser verstehen, dass es sich nicht einfach nur um eine Übersetzung handelt. Es ist ein anderes Buch. In ihm sind die Elemente teilweise vertauscht, wurde die Reihenfolge des Originals verletzt. Nein, die Reihenfolge wurde nicht verletzt, sie wurde neu geschaffen. Als ob man in einem Roman die Reihenfolge der Kapitel ändert. Bleibt er derselbe? Oder wird es ein völlig anderer Roman?

Darauf kann es gleich mehrere logische Antworten geben. Wobei sich die des Autors und die der Leser möglicherweise unterscheiden.

 

* * *

 

Jetzt ist wohl der richtige Zeitpunkt, um die Kapitel (die Städte, ihre Namen) in der Reihenfolge anzugeben, in der sie hier erscheinen werden:

 

Aarau – Antwerpen – Bayreuth – Berlin – Bukarest – Centralia – Charkiw – Czernowitz – Detroit – Drohobytsch – Essen – Frankfurt an der Oder – Graz – Guadalajara – Hajsyn – Isjaslaw – Jüterbog – Kiew – Lemberg – Leningrad – Minsk – Moskau – München – New York – Nijmegen – Novi Sad – Odessa – Prag – Quedlinburg – Riga – Solotyj Potik – Straßburg – Toronto – Uschgorod – Venedig – Warschau – X – Yalta – Zug

 

Insgesamt sind das, wie Sie schon bemerkt haben, neununddreißig Städte. Und wenn Sie jetzt fragen, warum gerade neununddreißig, dann antworte ich, dass dies nicht die einzige und vielleicht nicht einmal die endgültige der möglichen Versionen ist. Oder dass die Vereinigung der Drei mit der Neun in der Zahl neununddreißig mir als Verkörperung der Vollendung erscheint.

Außerdem muss ich bekennen, dass ich nicht alle dreißig, sondern nur sechsundzwanzig Buchstaben des deutschen Alphabets verwendet habe, also nur jene, die tatsächlich lateinisch sind. Mit den vier anderen – den Umlauten Ä, Ö, Ü und dem ß (das unsere Deutschlehrerin scharfes s nannte) – bin ich so verfahren wie im Original mit dem einunddreißigsten Buchstaben des ukrainischen Alphabets, dem Weichheitszeichen.

Die Zeit dieser Buchstaben ist noch nicht gekommen. Ich setze meine Suche nach Städten fort, die mit ihnen beginnen.

 

* * *

 

Wie Sie sehen, hat das Alphabet die Räume vermischt und setzt sich örtlich über Grenzen hinweg. Dank seinem Willen und seinen Launen grenzt Czernowitz an Detroit und Detroit an Drohobytsch, Toronto an Uschgorod und Solotyj Potik an Straßburg.

Das Alphabet hat auch die Zeit durchgerüttelt. Dafür gibt es so viele Beispiele, dass ich nur das augenfälligste anführe: ein Kapitel, das im Jahr 2006 spielt, eröffnet das Buch, während eines aus dem Jahr 1965 auf dem vierunddreißigsten Platz rangiert. Es handelt sich also um vierzig als Mosaik verlebte Jahre. Wahrscheinlich bedeutet in diesem Fall vierzig, wie bei den alten Hebräern, unzählige.

Manchmal ist die oben dargestellte Reihenfolge auch durchaus berechtigt und verständlich: Charkiw und Czernowitz haben den ukrainischen Osten und den ukrainischen Westen einander näher gebracht, Kiew steht vor Lemberg, Leningrad, Minsk und Moskau gehören auf ewig zusammen, und Hajsyn, Isjaslaw und Jüterbog haben sich für mich unerwartet zu einer Triade von Armee-Erinnerungen gefügt.

Beim Lesen dieses Buches werden Sie sofort die Ungleichheit der Städte bemerken. Das signalisiert schon der Umfang der Kapitel. Je wichtiger eine Stadt für mich ist, desto mehr will ich darüber sagen. Allerdings nicht immer und überall. Sie werden schon merken, wo es anders ist. Meistens aber stimmt es, da gibt es nichts zu beschönigen. Aber es wird auch Leser geben, die die deutlich disproportionale Akkumulation der wichtigen Städte (Kiew, Lemberg, Moskau, München, New York, Prag) – fast aller mit Ausnahme von Berlin und Venedig – in der Mitte des Buches bemerken. Als wäre der zweite und abschließende Teil dieses verborgenen Romans nur eine freiwillige Zugabe. Daher mein Vorschlag: Wenn dieses Buch überhaupt als ein Roman gelten soll, dann eher als Puzzle, als Modell zum Selberbauen. Als Roman, den man auf unterschiedliche Weise lesen kann, dessen Teile man sich zum gewünschten Modell zusammensetzt.

Und wenn das so ist, dann lassen Sie uns jetzt versuchen, dem Diktat des Alphabets Widerstand zu leisten und zu überlegen, in welcher Reihenfolge sich dieses Buch noch lesen lässt.

 

* * *

 

Wie kann man sich ein außeralphabetisches Lexikon vorstellen? Welche Varianten gibt es noch, dieses Buch zu lesen? Alle kann ich wohl nicht nennen. Vielleicht helfen Sie mir. Inzwischen gehe ich die Möglichkeiten durch, die auf der Hand liegen.

Zum Beispiel den Jahren nach. Wie wäre es, wenn man die Zeit nicht aufsplitterte, sondern die Kapitel in chronologischer Reihenfolge präsentierte? In diesem Fall finge alles mit Uschgorod an (1965) und endete mit Quedlinburg (2009). Wo aber fände dann Kiew 2017 seinen Platz? Oder Lemberg, das »immer« ist? Vor dem Anfang oder nach dem Ende?

Und wenn man es nach Ländern ordnete? Zuerst die ukrainischen Städte, dann die polnischen, die deutschen und so weiter immer weiter Richtung Westen. Die letzte Stadt wäre dann San Francisco, wo der Westen endet. Aber sie kommt in diesem Buch nicht vor.

Ein solches Buch müsste dann zum Beispiel mit Tokio beginnen, wo ich nie war. Die östlichste Stadt, in der ich je war, ist Moskau. Na, das wäre mir ja ein schöner Anfang!

Möglich wäre auch ein Ordnungsprinzip nach Erdbeben, Jahreszeiten, bergiger und flacher Landschaft.

Städte, in denen ich geträumt habe.

Städte, in denen ich nichts geträumt habe.

Städte, von denen ich geträumt habe.

Städte, in denen ich nicht geschlafen habe.

Städte, die nie schlafen.

Städte, die einen nicht schlafen lassen.

Ich habe noch einen weiteren Vorschlag: Lesen Sie dieses Buch nach Lust und Laune, in freier Abfolge, einfach dort, wo es sich öffnet, ob am Ende, am Anfang oder in der Mitte. Es geht schließlich um die Freiheit; ehrlich gesagt habe ich all das, was Sie auf diesen Seiten finden werden, um ihretwillen geschrieben.

 

ZUSATZ: STÄDTE, DIE NICHT VORKOMMEN (was ich sehr bedauere)

 

Bagdad, Bombay, Buenos Aires, Buchara, Vancouver, Marseille, Tiflis, Triest, Fergana, einige slowakische, Babylon, Carthagena, Pompej, Sodom, Gomorrha …



[1]  Czesław Miłosz: Alphabet. Charkiw 2010

[2]  Angemerkt sei hier, dass im Polnischen »Elementarz« so viel bedeutet wie »Alphabet«, »Fibel«.

[3]  Juri Isdryk (geb. 1962), einer der führenden ukrainischen Gegenwartsautoren, Dichter, Prosaiker, Essayist, visueller Künstler, Performer usw.

[4]  Wolodymyr Jeschkilew (geb. 1965), wichtiger Vertreter der ukrainischen Gegenwartsliteratur, vor allem des sog. Stanislauer Phänomens

[5]  Pamwo Berynda, geboren zwischen 1550 und 1570, gestorben 1632, Drucker, Enzyklopädist und Lexikograph, lebte u. ‌a. in Lemberg und später im Kiewer Höhlenkloster.

[6]  Fällt Ihnen ein schwächeres Adjektiv zum Wort »Manie« ein?

[7]  Zitiert nach: »Atlas. Meditationen«. In: Sarmatische Landschaften. Hg. von Martin Pollack. Frankfurt 2005

AARAU, 2006

Aarau liegt im Aargau am Fluss Aare. Das bedeutet, dass Aarau in der Zentralschweiz liegt, im Kanton Aargau, nicht weit vom Städtchen Aarburg. Aarau gäbe es in diesem Buch überhaupt nicht, wenn es nicht mit einem phantastisch-alemannischen doppelten »a« beginnen würde. Oder ist das gar nicht alemannisch, sondern keltisch? Ich mache den Mund weit auf und artikuliere »Aarau«, wobei ich das »aa« so angenehm wie möglich dehne. Als ich Walter Mossmann[1] von der Idee zu diesem Buch erzählte, fragte er: »Und welche Stadt wird die erste sein?« Damals antwortete ich: Augsburg. »Obwohl ich nicht wirklich weiß, was ich darüber schreiben soll«, fügte ich hinzu. Da riet mir Walter, mit der dänischen Stadt Aarhus zu beginnen. »Dann hast du eine Stadt mit Doppel-A am Anfang«, sagte er. »Aber da war ich noch nie«, widersprach ich. »Dann fahr hin«, sagte Walter. Ich fuhr nicht hin, denn als ich die Schreibweise überprüfte, stellte sich heraus, dass es gar nicht Aarhus, sondern Århus war und zudem noch als »Orchus« ins Ukrainische transkribiert wurde.

Nach Aarau jedoch war es ganz nah – ungefähr eine Stunde mit dem Zug. Zuerst musste man sich natürlich in der Schweiz niederlassen und dann verstehen, wie bequem erreichbar dort alles ist, im Eisenbahnsinn. Wie gemacht für diejenigen, die sich jederzeit ohne nachzudenken einfach auf den Weg machen können. So setzten auch wir uns einfach in den Zug und fuhren aus der Stadt Zug im Kanton Zug einfach in die Stadt Aarau im Kanton Aargau.

In Aarau stand ein Denkmal, und ich wollte, dass Pat ein Foto davon machte. Die Inschrift beeindruckte mich: »HEINRICH ZSCHOKKE. 1771-1848. Dem Schriftsteller, Staatsmann und Freund des Volkes – das VATERLAND«. Da verstand ich, dass wir nicht vergebens gekommen waren. Das Beispiel des mir unbekannten Heinrich Zschokke erwies sich als schicksalhaft. Jetzt hat mein Leben wenigstens ein hehres Ziel – Schriftsteller, Staatsmann und Freund des Volkes zu werden. Ob das VATERLAND es mir danken wird? Mit einem Denkmal? Wäre das nicht schön?!



[1]  Walter Mossmann (1941-2015), deutscher Liedermacher, der sich bereits Anfang der siebziger Jahre in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagierte (Wyhl im Breisgau). Einer der Initiatoren der Städtepartnerschaft Freiburg und Lemberg (A. ‌d. ‌Ü.)

ANTWERPEN, 2006

Der Name der Straße will mir einfach nicht mehr einfallen. Ich bin ganz sicher, dass sie sich irgendwo unweit des Hauptbahnhofs Antwerpen-Centraal befindet. Aber was heißt schon »unweit«? Zu Fuß können das fünf oder auch fünfundzwanzig Minuten sein; das ist auf dem Stadtplan ein bedeutender Unterschied. Besser, ich erinnere mich an alles andere, ohne mich auf topographische Feinheiten zu versteifen.

Die Straße also. Ich erinnere mich, dass sie schmal und irgendwie gekrümmt war. Man könnte sie sogar mit Fug und Recht als Gasse bezeichnen. Die historischen Innenstädte fast aller europäischen Städte sind ja eigentlich nicht von Straßen, sondern von Gassen durchzogen. Flandern bildet hier keine Ausnahme, sondern bestätigt augenscheinlich die Regel.

Die Gasse also. Sie war ganz und gar chimärisch, als wäre sie in Wirklichkeit von Bruno Schulz erdacht worden. Für einen Moment erschien mir Antwerpen als Drohobytsch, sauberer natürlich.

Nur dass Schulz von Zimtläden schrieb, und hier waren es Diamantenläden. Läden, Werkstätten und Handelskontore, was auch immer; alles für Diamanten. In dieser Straße wurden Rohdiamanten aus aller Welt verarbeitet. Hier wurden sie angehäuft, geschätzt, bewertet, geschliffen und facettiert. Und manchmal vielleicht auch verkauft. Mit Antwerpen werden vor allem Diamanten assoziiert. Und Diamanten und Antwerpen wiederum mit den Chassiden. Wer wissen will, wie die örtliche Bevölkerung in den alten Stadtzentren von Kolomyja, Bolechiw oder dem schon erwähnten Drohobytsch vor weniger als hundert Jahren noch ausgesehen hat, der sollte Antwerpen besuchen, die Diamantenhauptstadt des Westens. Und eine Brust voll Diamantenstaub atmen in dieser Krokodilgasse.

Ihre Bewohner sind genau so, wie sie sein sollen; es sind Prototypen, Schaustücke, Orthodoxe, meist schwarz gekleidet, mit Bärten und Schläfenlocken, meist mit Hut, aber es kommen auch Kipas vor und sogar hohe Fellmützen, alles wie den Illustrationen in historischen Ethno-Atlanten oder alten Sepia-Fotografien entsprungen, alles wie geradewegs aus Podolien, Galizien, der Bukowina, aus den schmutzigsten wolhynischen, transkarpatischen oder transsylvanischen Städtchen angereist, aber nicht den heutigen, sondern denen, die es gar nicht mehr gibt, von denen nur die Namen geblieben sind. Und auch in den Namen der Antwerpener Dynastien klingt diese Weltgegend wider: Pshevorsk, Satmar, Vizhnitz, Chortkov, Lubavitch.

Und alle sitzen sie auf Diamanten. Es sind Tausende, und in jener Straße haben sich Dutzende von ihnen zusammengetan.

Aber alle nur auf einer, der von uns aus gesehen linken Seite.

Auf der rechten reihten sich ebenfalls Diamantenläden, Schleifereien und ähnliche Juweliereinrichtungen. Und davor standen die Inder. Weil in Antwerpen neben den Chassiden auch die Inder in der Diamantenindustrie tätig sind.

Das wirkte alles ziemlich extrem: die Konkurrenz exotischer Magier, zwei Kolonien in der Diaspora, zwei Zivilisationen, zwei tausendjährige Schulen zur Facettierung der Wirklichkeit, der diamantene Gegensatz zwischen Jahwe und Schiva, Spinoza und Kabir, die linke und die rechte Seite der Straße, zwei Ufer der Ewigkeit, die schwarzen und manchmal schwarz-weißen Chassiden und die bunten, bronzehäutigen Anhänger des Jainismus mit ihren bunten Turbanen, Przeworsk und Gujarat, das östliche Europa und das westliche Indien, Golicie und Golkonda, zwei diamantene Hemisphären.

Denn wer Diamanten schleift, dem gehört die Welt, nicht wahr?

Nur die Penner in Antwerpen-Centraal reichten an diese Megametapher heran. Wenn es Nacht wurde, schoben sie sich in den Wartesaal, unter die phantastisch gewölbte Kathedralenkuppel, krochen aus allen Winkeln wie zu einer Versammlung und begrüßten sich heiser, und zwar erstaunlicherweise nur auf Polnisch.

BAYREUTH, 1994

Nein, nicht der Komponist Wagner ist für mich der absolute Held dieser absolut sauber geputzten bayrischen Kreisstadt (»Wohin, wohin? Nach Beirut?«, hatte Irwan nachgefragt), trotz des jährlichen Wagnerfestivals und trotz des vor allem dank seiner Juwelen glänzenden Publikums, das aus aller Welt hierherströmt, um ausgiebig die Langeweile der sechs- und siebenstündigen Opernaufführungen zu genießen. Und auch nicht Richard Wagners geliebter Hund, der im Hof des Wagnerschen Anwesens neben seinem Herrn und Meister begraben liegt (Inschrift auf dem Grabstein: »Hier ruht und wacht Wagners Russ«), nein, tut mir leid, der auch nicht.

Mein Bayreuther Held ist Jean Paul, der empfindsame und geistreiche Schriftsteller und Trinkbruder, der in Bayreuth seine letzten einundzwanzig Lebensjahre verbrachte und 1825 an Wassersucht[1] starb. Es gibt allen Grund anzunehmen, dass Jean Paul gerade hier in Bayreuth glücklich war. Natürlich ist er gelegentlich auch andernorts glücklich gewesen, in Coburg zum Beispiel. Jean Paul gehörte zu den Menschen, denen es gelingt, vollkommen glücklich zu sein. Er hat das Wort geprägt von der Kunst, die nicht Brot, sondern Wein ist. Und er wusste, wovon er sprach. In Bamberg trank er gern mit E. ‌T. ‌A. Hoffmann; aus den von ihnen geleerten Flaschen hätte man eine ziemlich gute Gedenkstätte bauen können. In Heidelberg schlürfte er so viel Punsch, dass der begeisterte Hegel ihm die Ehrendoktorwürde der Universität verschaffte.

Trotzdem war Jean Paul nur in Bayreuth beständig glücklich, also immer und andauernd. Es genügt, eine einzige Radierung in seinem Museum zu betrachten, um das zu spüren: Ein rebenumrankter Hügel, oben ein Aussichtspunkt, von dem aus alle drei Franken zu sehen sind: Ober-, Mittel- und Unterfranken. Wälder und Berge, Berge und Wälder, und dahinter der ganze »Rest der Welt«. Auf dem Aussichtspunkt ein Tisch, auf dem Tisch eine angebrochene Flasche Wein und ein halb geleertes Glas, außerdem Papier, Tintenfass und Feder. Jean Paul schreibt einen Roman, trinkt Wein und freut sich. Ich glaube, es fliegen auch Vögel am Himmel. Beim Anblick dieser Radierung wird einem so wohl, wie es Jean Paul auf der Radierung wohl war. Höchstens Skoworoda[2] ging es besser.

Ich würde die Radierung »Freiheit und Ekstase« betiteln. Denn Glück gibt es nicht auf der Welt, wohl aber Ekstase und Freiheit. Und genau so lässt sich das Glück imaginieren: Es gibt dich und auch wieder nicht, du bist überall und nirgends, die Leichtigkeit des Weines fließt in die Leichtigkeit des Windes und des Denkens, das Papier erzittert unter der Feder, das Denken überstrahlt das Wort mit solcher Kraft, dass du einen Steifen kriegst, und Vögel setzen sich dir auf die Schultern, Fische tanzen in den Bächen und die Wiesen sind vom Zirpen der Grillen erfüllt.



[1]  An Wassersucht, nicht am Wodka. Aber vielleicht war es auch der Wodka.

[2]  Hryhorij Skoworoda (1722-1794), ukrainischer Humanist und Fabeldichter