Für Opa, dessen Erzählungen ich stundenlang lauschen konnte und dessen Geschichtswissen schier unerschöpflich war.
Von dir habe ich meine Liebe zu Büchern und deshalb bekommst du nun dieses hier von mir.
Ich brauchte sie beide. Feuer und Eis. Sie waren alles, was ich hatte, woraus ich bestand, was mich ausmachte. Meine Familie. Umso schlimmer war das Wissen, von beiden gejagt zu werden und das taten sie bereits, ganz sicher. Die Frage war nur, wer mich zuerst finden würde. Wer war schneller? Feuer oder Eis? Wer würde dieses absurde Wettrennen, dessen Trophäe ich war, gewinnen? Die Flammen oder der Reif?
***
Das Feuer war viel zu heiß und brannte in meinen trockenen Augen. Dennoch starrte ich unablässig in die Flammen, unfähig meinen Blick abzuwenden. Ihr vertrauter Anblick spendete mir Trost, so widersinnig das auch sein mochte. Wie konnte mir etwas derart Zerstörerisches ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln? Die Spitzen züngelten, strichen beinahe liebevoll über mein Gesicht und hinterließen eine warme Spur. Ich blinzelte, um meine Augen zu benetzen. Das leise Knistern beruhigte mich und schon bald nahm ich die Flammen nur noch verschwommen wahr.
Ich dachte über die Geschehnisse des heutigen Abends nach. Das Telefonat mit Robert lag mir noch immer schwer im Magen. Vertraue niemandem, hatte er gesagt. Aber konnte ich es mir leisten, niemandem zu vertrauen? Dann wäre ich ganz auf mich allein gestellt. Und viel wichtiger: Wollte ich das? Noch vor wenigen Wochen hätte mir dieser Umstand nichts ausgemacht. Ich war schon früher eine Einzelkämpferin gewesen, aber die Situation war nun eine andere. Ich warf einen Blick zu Vincent, der auf dem Sofa saß und seinerseits seinen Gedanken nachhing. Worum sie sich drehten, war nicht schwer zu erraten. Die angespannte Körperhaltung, der verkniffene Zug um den Mund und das düstere Funkeln in seinen Augen deuteten darauf hin, dass er ebenfalls an Robert dachte. Das Verhältnis zu seinen Eltern war schwierig, auch wenn sich mir immer noch nicht voll und ganz erschloss, weshalb. Max schien derlei Probleme nicht zu haben. Doch im Moment hatte ich nicht die Kraft, mir auch noch darüber Gedanken zu machen, was der Grund für Vincents Ablehnung gegenüber seinen Eltern sein mochte.
Eine Träne rann aus meinem rechten Auge und kühlte die von den Flammen überhitzte Haut meiner Wange. Sie war eine natürliche Reaktion meines Körpers, um die empfindliche Netzhaut meiner Augen vor dem Austrocknen zu bewahren und kein Anzeichen von Traurigkeit. Ich blinzelte ein paar Mal, um das Gefühl, Sandkörnern im Auge zu haben, zu vertreiben. Ich sollte vernünftig sein und ein paar Zentimeter vom Kamin wegrutschen, doch ich war unfähig mich zu rühren.
Geh unter keinen Umständen zu Arthur oder Friedrich. Wenn sie dich in ihre Finger bekommen, wirst du ihre Gefangene sein. Sie brauchen dich, wenn sie den Kampf gewinnen wollen, und beide würden vor nichts zurückschrecken, um dich auf ihre Seite zu ziehen. Und kein Wort zu irgendjemandem von unserem Gespräch, nicht mal zu Vincent. Die Gefahr ist zu groß, dass die falschen Leute Wind davon kriegen.
Das waren Roberts letzte Worte an mich gewesen. Die Panik, die mich daraufhin befallen hatte, war nun in mir eingesperrt. Sie saß als bitterer Klumpen in meinem Magen und sandte Wellen der Übelkeit durch meinen Körper, wann immer ich daran dachte, was Robert gesagt hatte. Trotzdem war es mir gelungen unbeschwert auszusehen, als ich aus dem Bad getreten war. Denn bevor ich mir nicht selbst über meine nächsten Schritte im Klaren war, sollte Vincent nicht den Verdacht schöpfen, ich könnte etwas vor ihm verbergen wollen. Doch Vincent war so aufgebracht über das Telefonat mit Robert gewesen, dass er die leise Panik in meinem Blick gar nicht bemerkt hatte.
Ich tastete nach dem Stück Klopapier in meiner hinteren Hosentasche. Der Kajalstift verlief nicht bei Wärme, oder doch? Wenn das der Fall war, könnte ich die Adresse, die mir Robert für unser Treffen genannt hatte, nicht mehr lesen. Nun rückte ich sicherheitshalber doch ein Stück vom Kamin ab. Mein Hintern schmerzte vom langen Sitzen auf den Holzdielen. Die züngelnden Flammen schnellten nach oben und zogen sich unnatürlich in die Länge, als machten sie sich über mich lustig. Vertrauen. Wem konnte ich vertrauen? Doro und Mara, entschied ich, ohne zu zögern. Und Vincent? Er hatte mir oft genug bewiesen, wie viel ich ihm bedeutete, aber genauso oft hatte er mich enttäuscht. Mein Herz hatte sich noch immer nicht vollständig von dem Schmerz, der Betäubung, den vielen Gefühlen und dem erneuten Schmerz erholt. Aber es wurde mit jedem Schlag besser. Ich liebte ihn, das spürte ich, aber konnte ich mir selbst trauen? Für eine Jurastudentin fiel es mir erschreckend schwer, zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden. Besser, ich schlug keine Karriere als Richterin ein.
Am liebsten hätte ich mich unter eine Bettdecke verkrochen und wäre nie wieder hervorgekommen. Warum nur war immer alles kompliziert? Mein Verstand verlangte von mir, mich ohne Vincent zu dem Treffen mit Robert zu begeben, so, wie dieser es gefordert hatte, aber mein Bauchgefühl riet mir davon ab. Okay, angenommen, ich zog die Sache ohne ihn durch, was würde dabei herauskommen? Das Ergebnis war leicht vorherzusehen: Vincent würde mir meinen Alleingang nicht verzeihen. Ich hätte niemanden bei den Phönixen, der hinter mir stehen würde, mir mit Rat und Tat zur Seite stand, niemanden, den ich etwas fragen konnte, dessen Zuneigung ich mir sicher sein konnte. Nein, ich musste es ihm erzählen. Daran führte kein Weg vorbei. Dass er mir meine Lüge über den Gesprächsverlauf so schnell abgekauft hatte, zeigte nur, wie sehr ihn die heutigen Entwicklungen ebenfalls verwirrt hatten. Dass ausgerechnet Robert eine geheime Botschaft in Arthurs Tagebuch versteckt hatte und uns seine Hilfe anbot, hätte wohl keiner von uns erwartet. Ich schloss für einen Moment die Augen.
»Lausche auf das, was dir dein Bauch und dein Herz raten.« Diese Worte hatte Carmen an mich gerichtet, als ich mich als Achtjährige bei ihr beschwert hatte, dass alle meine Freundinnen wüssten, was sie später werden wollten. Nur ich hatte keinen blassen Schimmer gehabt.
»Aber was, wenn sie lügen?«
»Das werden sie nicht. Dein eigener Körper lügt nie. Nur unser Verstand schwindelt uns manchmal Dinge vor. Auf ihn sollten wir nicht immer hören.«
»Warum tut er das?«
»Weil er uns vor uns selbst beschützen möchte«, erklärte Carmen geduldig. »Er kennt unsere Ängste und Zweifel, deshalb rät er uns zu einem anderen, vermeintlich leichteren Weg. Aber das, was dir dein Bauchgefühl sagt, ist der Weg, der dich glücklich machen wird.«
Mein Innerstes? Was war das eigentlich? Wer war ich? Als ich die Augen öffnete, tanzte auf der Handfläche in meinem Schoß eine rot-blaue Flamme. Mein inneres Feuer. War das mein innerstes Wesen? Ob es mir weiterhelfen konnte? Ich hob es näher an mein Gesicht heran. Auch wenn es sich für mich nicht heiß anfühlte, wusste ich, dass es andere verletzen konnte. Ich hatte es bei Vincent selbst ausprobiert, als ich dumm genug gewesen war und in sein inneres Feuer gegriffen hatte. Die beiden Farben symbolisierten, was mich ausmachte. Feuer und Eis. Sie schillerten in allen erdenklichen Farbnuancen, liebkosten einander, wanden und verschlungen sich umeinander, ohne sich richtig zu berühren. Trug ich die Wahrheit etwa in mir? Nämlich dass Feuer und Eis sich nicht vereinen konnten, ohne einander zu verschlingen? Es sah ganz danach aus. Die Flammen in meiner Hand erloschen. Ich lehnte mich zurück und stützte meine Arme hinter meinem Rücken auf dem Boden ab.
»Könntest du noch einen Moment so sitzen bleiben?«, bat mich Vincent.
Seine Hand, in der er locker einen Bleistift hielt, huschte über das Papier. Jeder Strich wurde von einem leisen Kratzen begleitet. Wann hatte Vincent seine Zeichensachen geholt?
»Was tust du da?«
»Wonach sieht es denn aus?«, schmunzelte er.
Empört sprang ich auf. »Du zeichnest nicht wirklich gerade mich!«
»Du hattest mir versprochen, dass ich dich einmal zeichnen darf. Also setz dich wieder hin«, erinnerte er mich ruhig an den Abend, bevor meine ganze Welt erneut durcheinandergeraten war. Der Abend, bevor ich zum ersten Mal auf die Eisphönixe traf. Er schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.
»Aber doch nicht jetzt. Du hast vielleicht Nerven!«
»Wieso nicht? Wir können beide im Moment nicht viel tun außer abzuwarten. Und man sollte nie eine gute Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.«
Denn wir wissen nicht, wie viel Zeit wir noch haben. Dieser Satz schwang unausgesprochen zwischen uns.
»Na schön.« Ergeben setzte ich mich in die alte Position. Ich konnte sowieso nicht schlafen, also konnte ich Vincent genauso gut Modell sitzen.
»Du musst dich noch ein bisschen mehr dem Feuer zuwenden.«
Ich versuchte in die Position zu rutschen, in der ich meiner Meinung nach zuvor gesessen hatte.
»Gut so?«
»Perfekt. Magst du dein inneres Feuer wieder hervorholen?« Seine Frage klang ein wenig schüchtern.
Das innere Feuer war durchaus eine etwas intime Angelegenheit. Es vor einem anderen zu offenbaren war beinahe so, als lege man ihm sein innerstes Wesen zu Füßen.
»Das willst du auch noch zeichnen?«, stöhnte ich, tat aber, worum er mich bat.
»Sei bitte nicht böse, aber verstehst du, was ich meine, wenn ich sage, dass dein Inneres noch faszinierender ist als dein Äußeres?« Sein Blick war intensiv, erinnerte an geschmolzenes Karamell und ging mir bis unter die Haut.
Konzentriert betrachtete er mich einen Moment lang, dann senkte er seinen Kopf über den Zeichenblock und ich bewunderte die Präzision, mit der er den Bleistift führte. Er hatte noch kein einziges Mal einen Radiergummi benutzt. Er schien ganz genau zu wissen, wo er den Bleistift ansetzten musste. Jede Linie setzte er mit kräftigen Strichen. Das Blatt füllte sich mit grauer Farbe, aber Genaueres konnte ich nicht erkennen. Ich war nie gut in Kunst gewesen, hatte meistens eine 3 gehabt. Zwar hatte ich mir die Bilder immer vorstellen können, es aber nie geschafft, diese Vorstellung auf Papier zu bringen. Das Ergebnis waren krumme Gestalten gewesen, deren Proportionen nicht stimmten. Zum Glück hatte ich die Kunstnote immer mit meiner 1 in Sport ausgleichen können.
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Nachdenklich blickte ich auf die züngelnde Flamme in meiner Hand, die eine unvergleichliche Farbsymphonie bildete. »Das, was zählt, sieht man nie auf den ersten Blick. Es ist geschützt durch eine Hülle, die es zu durchbrechen gilt. Das ist das wahre Geheimnis.«
Für einen kurzen Moment begegneten sich unsere Blicke. Er sah mich an, als wäre ich das Schönste, was er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Ich spürte, wie mir warm ums Herz wurde. Genau so hatte ein Blick wahrer Liebe auszusehen. Ich würde ihm alles erzählen, beschloss ich. Keine Geheimnisse mehr. Nie wieder. Ich vertraute Vincent.
»Bist du fertig?«
Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber nach dem dumpfen Gefühl in meinem Kopf zu urteilen waren wir dem nächsten Sonnenaufgang näher als dem letzten Sonnenuntergang.
»Ein paar Schattierungen fehlen noch, aber du kannst gerne schon nach oben gehen und dich hinlegen. Ich komme gleich nach.«
»Gut.« Ich reckte mich und stand mühsam auf.
Vom langen Sitzen in der immer gleichen Haltung tat mir alles weh. Ich ließ meine Schultern kreisen, warf einen letzten Blick auf Vincent, der bereits wieder in seiner Zeichnung vertieft war, und stapfte die schmalen Treppenstufen nach oben ins Schlafzimmer. Angezogen wie ich war, warf ich mich aufs Bett und schlief augenblicklich ein.
***
Der Duft frisch gebrühten Kaffees wehte mir in die Nase. Ich gähnte und rieb mir verschlafen die Augen. Vincents Bettseite wirkte unberührt. Hatte er gar nicht geschlafen oder bereits seine Decke sorgsam glattgestrichen? Ich tapste nach unten. Immer dem Geruch des Kaffees folgend. Vincent reichte mir einen Becher des heißen Getränks und ich nahm gierig einen Schluck. Hoffentlich wirkte er schnell. Ich fühlte mich wie erschlagen. Auch unter Vincents Augen lagen dunkle Schatten. Die schienen neuerdings zu seinem Erscheinungsbild dazuzugehören. Im Gegensatz zu mir sah er trotzdem schön aus. Die blauvioletten Ringe ließen den honiggoldenen Ton seiner Iris noch mehr strahlen. Ich hingegen brauchte keinen Blick in den Spiegel zu werfen, um zu wissen, dass ich eher aussah, als hätte ich eben einen Boxkampf hinter mir. Ich spürte die dicken Tränensäcke unter meinen Augen nur zu gut.
»Seit wann bist du wach?«, fragte ich.
»Noch nicht sehr lange. Habe ich dich geweckt?«
»Kein Ding. Wir haben heute schließlich viel vor.« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und erschrak. Es war kurz vor halb zwölf. Wie lange hatte ich geschlafen? Acht Stunden? Und dann sah ich immer noch so aus? Die Welt war wirklich ungerecht.
»Ich bin gespannt, ob deine Mitbewohnerinnen etwas in Erfahrung gebracht haben.«
Ich nickte und nahm einen weiteren Schluck Kaffee.
»Hast du Hunger?«
»Ein bisschen.«
»Was hältst du von Pfannkuchen?«
»Sich ein wenig den Tag zu versüßen hat noch nie geschadet.«
»Das dachte ich mir«, schmunzelte Vincent und griff in mehrere Schränke, bis Mehl, Backpulver, Eier und Milch vor ihm auf der Theke standen. Das alles gab er in eine Schüssel, die er nach mehreren Suchanläufen in einem der unteren Schränke fand, und rührte daraus einen zähflüssigen Teig an.
»Darf ich die Zeichnung sehen?«
Er nickte in Richtung Sofa. »Der Block liegt noch dort.«
Vorsichtig nahm ich ihn in die Hände und blätterte das Deckblatt um. Leicht berührte ich mit den Fingerspitzen die Konturen meines Gesichts. Fuhr die feinen Linien nach, bewunderte die detailgetreue Zeichnung meiner Nase, die geschwungene Form meiner Lippen. Selbst meine Sommersprossen hatte er zu Papier gebracht. Das Herausstechendste war allerdings die tanzende Flamme auf meiner ausgestreckten Handfläche. Obwohl die Zeichnung Grau-Weiß war, meinte ich die einzelnen Farbnuancen erkennen zu können. Es sah unglaublich aus.
»Vincent, das ist wunderschön«, hauchte ich. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel Talent du besitzt.«
»Freut mich, wenn es dir gefällt. Es gehört dir.«
»Das kann ich nicht annehmen.«
»Wieso nicht?«
Ja, wieso eigentlich nicht? Weil es zu schön war? Weil es mir vorkäme wie Diebstahl, wo Vincent doch immer eine Zeichnung von mir hatte haben wollen?
»Du solltest wirklich deine Zeit nicht mit Politikwissenschaft verschwenden, wenn du so etwas erschaffen kannst.«
Es zischte, als Vincent die erste Kelle in die Pfanne mit heißem Öl gab. Sofort roch es köstlich nach gebratenem Teig.
»Dafür ist es ein wenig zu spät, fürchte ich. Immerhin mache ich gerade meinen Master.«
»Es ist nie zu spät, ein neues Leben zu beginnen. Wenn es das ist, was du willst, dann solltest du es tun.«
Ich blickte erneut auf die Bleistiftzeichnung und staunte über die Tiefe, die dieses zweidimensionale Bild erzeugte.
»Darüber werde ich mir Gedanken machen, wenn das hier vorbei ist. Momentan kann sowieso keiner von uns beiden an die Uni.«
Er brachte mir einen Teller mit Pfannkuchen, an deren Rändern flüssiger Honig hinabtropfte.
»Leider. Es nervt mich hier untätig rumzusitzen. Ich würde viel lieber Mara und Doro helfen.«
Ein erneutes Zischen kündigte die Entstehung eines weiteren Pfannkuchens an.
»Genieße es lieber, ich habe das Gefühl, dass das hier unsere letzten ruhigen Momente sind.«
Das befürchtete ich auch. Ich musste Vincent endlich erzählen, was wir beide heute Nachmittag machen würden. Aber nicht auf leerem Magen. Ich rollte den Pfannkuchen an der Seite auf, nahm ihn mit den Fingern und biss ein großes Stück ab. Selbstverständlich schmeckte es köstlich, so wie alles, was Vincent bisher gezaubert hatte. Und was brachte ich in unser Leben ein? Nur Probleme und alte Familiengeheimnisse. Wirklich toll. Und wie es schien, war ich auf dem besten Weg in eine Depression.
Reiß dich zusammen, Caro! Na schön, maulte ich innerlich. Ich wusste ja, warum ich so verstimmt war. Weil Vincent mich unabsichtlich bemutterte. Das verursachte mir auf Knopfdruck schlechte Laune. Ich hatte es schon bei Mara nicht ausstehen können, aber bei meinem Freund fand ich es noch einen Tick schlimmer. Als würde es irgendwie meine Selbständigkeit untergraben, wenn jemand für mich Frühstück zubereitete. Lächerlich, einfach lächerlich. Ärgerlich über mich selbst stopfte ich mir den restlichen Pfannkuchen in den Mund und spülte ihn mit einem ordentlichen Schluck Kaffee hinunter.
Nachdem wir beide fertig gegessen hatten, schnitt ich vorsichtig das Thema Robert an.
»Ich muss dir noch etwas sagen, wegen des Telefonats mit deinem Vater«, fing ich an.
»Ja?«, fragte er argwöhnisch.
Bildete ich mir das ein oder hatte sich seine Miene eben verfinstert?
»Nun ja, wie soll ich es sagen?« Ich überlegte fieberhaft, wie ich die Worte Ich habe dich angelogen netter verpacken konnte.
»Ich habe möglicherweise einen Teil ausgelassen, als du mich gefragt hast, was er von mir wollte.« Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Je eher ich es ausspuckte, umso besser. »Robert will sich mit mir treffen. Heute. Allein. Er hat mich gewarnt dich einzuweihen. Er wollte, dass ich mich heimlich davonschleiche.«
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass Gesichtsfarben sich in einem so breiten Spektrum verändern konnten, aber Vincents wechselte von aschfahl zu knallrot.
»Und du hast ihm hoffentlich gesagt, er soll sich zum Teufel scheren!? Ich glaub's ja nicht! Seine Skrupellosigkeit, dich gegen mich aufzuhetzen, überrascht mich noch nicht einmal sonderlich. Ich hätte es wissen müssen.« Er lachte bitter auf.
»Er klang ehrlich besorgt. Ich glaube nicht, dass er mich gegen dich aufhetzen wollte. Viel eher ging es ihm darum, mich-«
»Caro, bitte! Ich kenne meinen Vater und du darfst kein Wort von dem glauben, was er sagt. Dass er von dir verlangt hat mich zu hintergehen, ist doch Beweis genug.«
Ich holte tief Luft. »Dein Vater ist vielleicht der Einzige, der uns weiterhelfen kann. Er hat einen Brief meiner Mutter für mich aufbewahrt.«
»Eher geht die Welt unter, als dass er unsere letzte Rettung ist. Und warum sollte er einen Brief von Sarah haben? Wo ist da die Verbindung?«
Ja, wo war die? »Keine Ahnung, aber ich muss es versuchen.«
»Wieso?« Er verzog sein Gesicht. War die Vorstellung, auf seinen Vater zu treffen, wirklich so schlimm für ihn oder überdramatisierte er die ganze Situation mal wieder?
Plötzlich war ich sauer. Durch seine Sturheit zwang er mich tatsächlich das auszusprechen, wovor ich mich so sehr fürchtete. Und die Angst davor, dass dies nun ein Bestandteil meines Lebens sein sollte, wurde noch stärker durch das laute Aussprechen der Worte: »Weil ich nicht für immer eine Gejagte sein will!«, rief ich verzweifelt.
Vincent blickte mich überrascht an, dann runzelte er die Stirn. War ihm dieser Gedanke wirklich noch nicht gekommen? »Hör zu, Vincent, ganz egal, ob mich nun Arthur oder Friedrich findet – und früher oder später wird das einer von beiden –, ich werde dann seine Gefangene sein und der jeweils andere wird nichts unversucht lassen, um mich aus dieser Gefangenschaft in die eigene zu bringen. Sie brauchen mich, wenn sie der Gewinnerseite angehören wollen. Genau so steht es in der Prophezeiung. Ich werde für den Untergang der einen oder der anderen Seite sorgen, es sei denn, ich bin zuerst tot.«
Nur mit Mühe gelang es mir, ein Aufschluchzen zu unterdrücken.
Vincents Gesichtsausdruck wandelte sich von ungläubiger Verblüffung zu Bestürzung. Er nahm meine Hände in seine und drückte sie ganz fest. »Wie lange hast du diese Gedanken schon?«
»Seit dem Gespräch mit deinem Vater«, sagte ich mit belegter Stimme.
»Und du hast nichts gesagt.« Ein bitterer Zug bildete sich um seinen Mund. »Dabei hätte ich dir helfen können.«
»Und wie?«
»Indem ich dir sage, dass es nie so weit kommen wird. Das werde ich nicht zulassen. Niemand wird dir wehtun, das verspreche ich dir.«
Er umschlang meine Schultern und ich ließ mich von ihm trösten. »Außerdem, seit wann ist der Reim, kein Reim mehr, sondern eine Prophezeiung? Ich glaube immer noch kein Wort davon. Das ist nichts als dummer Aberglaube, aber es würde zumindest erklären, warum Arthur mit dem Zauber nicht nur vorhatte die Eisphönixe von der Villa fernzuhalten, sondern auch uns darin einzusperren«, schob er beinahe widerwillig hinterher.
»Arthur hat es in seinem Tagebuch als Prophezeiung bezeichnet. Und ich denke, Friedrich hat eine ähnliche Sicht auf die Dinge wie er«, widersprach ich schwach.
»Pff, alte Männer. Was wissen die schon?«
Ich wusste, er spielte die Situation nur herunter, um mir die Angst zu nehmen, aber hinter seiner Fassade war er genauso bestürzt wie ich.
»Und was wissen wir?«
»Also, ich weiß, dass ich einer über fünftausend Jahre alten Grabinschrift irgendeines verrückten Pharaos nicht übermäßig viel Bedeutung beilege. Und du weißt hoffentlich, dass ich dich immer beschützen werde.«
Ich drehte meinen Kopf, bis meine Lippen die weiche Haut an seinem Hals berührten. »Danke«, murmelte ich.
Vincent strich mir über den Hinterkopf und hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel.
»Trotzdem werde ich mich heute mit Robert treffen. Aber wenn du nicht mitwillst, ist das für mich okay.«
Er schnaubte: »Als wenn ich dich mit ihm allein lassen würde. Wenn du zu ihm gehst, komme ich mit. Wann habt ihr euch denn verabredet?«
»Um vier.«
»Dann haben wir noch ein wenig Zeit.«
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Wie lange wir brauchen, um zu dem Treffpunkt zu gelangen.«
»Und der wäre wo?«
Ich griff in meine hintere Hosentasche und zog das Stück Toilettenpapier heraus. Nachdem ich es auseinandergefaltet hatte, hatte selbst ich einige Mühe, die Schrift zu entziffern. Vincent streckte ungeduldig seine Hand danach aus. Ich hob abwartend einen Zeigefinger, während ich versuchte das Gekritzel zu entziffern. »Ich glaube, ich hab's. Er will sich im Café Duft in der Marienstraße treffen. In … Altöhing?«
»Altötting.«
Genau, das war auch der Name, den Robert verwendet hatte. Ich blickte erneut auf das Klopapier. Das, was ich für ein h gehalten hatte, waren in Wirklichkeit zwei t. Allerdings hatte ich keine Ahnung, wo genau Altötting lag. Ich hätte wirklich in Erdkunde besser aufpassen oder zumindest ab und zu eine Landkarte betrachten sollen, aber ich verließ mich ja aus Bequemlichkeit lieber auf das Navi in meinem Handy. »Ja, ich denke, so heißt es. Kennst du den Ort?«
Als er antwortete, klang er leicht gereizt: »Altötting ist ein Wallfahrtsort. In dem Café waren wir früher immer, wenn wir die Gnadenkapelle besucht haben. Als ob ihm ein Gebet helfen würde …«
»Vielleicht fühlt er sich in dieser Umgebung sicherer. Lass ihn doch.« Ich zuckte die Achseln. »Wenigstens weißt du dann schon mal, wo es langgeht. Wie lange brauchen wir bis dorthin?«
»Zwei Stunden, schätze ich.«
»Ausgezeichnet. Dann bleibt noch genug Zeit für ein Gespräch mit Mara.« Ich versuchte meiner Stimme einen betont fröhlichen Klang zu verleihen, in der Hoffnung, Vincents finstere Gedanken dadurch zu verscheuchen. »Hast du mein Handy irgendwo liegen sehen?«
»Woher kommt dieser plötzliche Optimismus?«, fragte er misstrauisch.
»Ist es dir lieber, wenn wir beide so finster dreinschauen? Sieben-Tage-Regenwetter-Miene kann ich auch.«
»Man wird ja wohl noch fragen dürfen«, grummelte er.
»Ich bin auch gar nicht richtig optimistisch. Ich freue mich bloß darauf zu erfahren, was meine Mutter mir geschrieben hat. Ich meine, bis vor ein paar Monaten wusste ich nicht mal, wer sie ist, und jetzt halte ich bald einen Brief von ihr in den Händen, der nur für mich bestimmt ist. Kannst du dir vorstellen, was für ein Gefühl das ist?« Während ich redete, stellte sich tatsächlich so etwas wie aufgeregte Vorfreude ein und ich strahlte ihn erwartungsvoll an.
Meine Freude darauf steckte Vincent allerdings nur bedingt an. Der düstere Ausdruck verschwand zwar aus seinem Gesicht, wich jedoch offenkundiger Besorgnis, die meiner Euphorie einen Dämpfer verpasste. »Das freut mich natürlich für dich. Nur, Caro …«
»Ja?«
»Mach dir bitte nicht allzu große Hoffnungen. Vielleicht hat Robert auch gelogen und dieser Brief ist nur ein Vorwand, damit du dich mit ihm triffst. Ich möchte nur nicht, dass du hinterher allzu sehr enttäuscht bist.«
***
»Habt ihr was rausgefunden?«, platzte ich sofort nach Maras Begrüßung heraus. Ungeduldig wippte ich mit der Spitze meines Fußes auf und ab.
»Ehrlich gesagt, nicht wirklich. Wir haben fast die ganze Nacht daran gesessen, aber es ist wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Diese Bücher über Ägyptologie sind wirklich unglaublich dick. Ich überfliege eh nur die Seiten und auch nur in der relevanten Zeitspanne, aber trotzdem: Kaum ein Wort über Phönixe. Alles was wir bisher rausgefunden haben, sind nur Dinge, die ihr ohnehin schon wisst.« Sie klang resigniert.
»Was denn zum Beispiel?«, wollte ich dennoch wissen.
»Na ja, dass der Phönix der Gott der Wiedergeburt ist, dass er in Vogelgestalt erscheint, seine Federn die Farben des Feuers tragen und dass er aus Asche aufersteht.«
»Hm, das ist wirklich nichts Neues.«
»Tut mir leid.«
»Du kannst ja nichts dafür. Habt ihr noch ein paar Bücher übrig oder schon alle durchgesehen?«
»Nein, da wartet noch ein ganzer Stapel.« Mara seufzte leise. »Wir suchen doch nur nach diesem Reim, stimmt's?«
»Exakt.«
»Und bei euch ist alles in Ordnung? Sie haben euch nicht gefunden?«
»Das werden sie auch nicht«, versicherte ich ihr. »Wir sind vorsichtig.«
»Was habt ihr jetzt vor?«
»Wir gehen einer eigenen Spur nach. Mal sehen, was sie bringt.«
»Du wirst mir nicht mehr verraten, oder?«
Trotz der bedrückten Stimmung musste ich lächeln. »Du kennst mich einfach zu gut. Es ist nur zu eurer eigenen Sicherheit. Je weniger ihr wisst, desto besser.«
»Meinst du nicht, wir hängen ohnehin schon viel zu tief drin?« Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie Mara ihre Augenbrauen zusammenschob.
»Trotzdem. Du weißt doch, zu viel Wissen ist ungesund.«
»Man kann nie zu viel wissen, genauso wenig, wie man zu viel lesen kann.« Unwillkürlich verdrehte ich die Augen. Bevor Mara Tobi kennengelernt hatte, war sie ein Bücherwurm wie aus dem Bilderbuch gewesen. Ständig hatte der Postbote an unserer Tür geklingelt und eine neue Buchbestellung gebracht.
»Das ist nur eine andere Form der Flucht vor der Realität. Das echte Leben spielt sich hier draußen ab und nicht in deinem Kopf, aber ich glaube, das Thema hatten wir schon.«
»Stimmt«, sie kicherte. »Und ich hatte dir, wenn ich mich recht erinnere, daraufhin gesagt: Warum nur ein Leben leben, wenn du hunderte haben kannst?«
Ein leises Lachen entschlüpfte meiner Kehle bei der Erinnerung an das Gespräch, das immerhin schon ein Jahr zurücklag. Bei diesem ungewohnt heiteren Laut, hob Vincent den Kopf und zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Ich signalisierte ihm, dass alles in Ordnung war. »Diese Diskussion führen wir jetzt aber nicht schon wieder.«
»Nein, wir wissen schließlich beide, wer sie gewinnen würde.«
»Das ist nicht wahr, wir hatten uns damals auf ein Unentschieden geeinigt. Gib mir mal Doro. Fragen wir sie halt nach ihrer Meinung.«
»Warte kurz, ich schalte dich auf Lautsprecher. Okay, jetzt sollte sie dich hören.«
»Doro«, rief ich in den Hörer. »Bücher – Top oder Flop?«
»Also im Moment eher Flop. Wenn ich noch ein weiteres dieser stinklangweiligen Geschichtsbücher lesen muss, kotze ich noch«, meinte sie.
»Ha!«, rief ich.
»Nicht so schnell, das bezieht sich nur auf ihren momentanen Zustand. Doro, hast du daran gedacht, dass sämtliche deiner Mangas ebenfalls Bücher sind?«
»Schon, aber Bücher mit wesentlich weniger Text. Außerdem sind die cool, die liest man nämlich rückwärts.«
»Das war keine richtige Antwort«, beschwerte ich mich.
»Mann, ihr nervt! Ich habe die letzten fünfundzwanzig Stunden nur zwei davon geschlafen. Könnten wir das vielleicht später klären? Ich bin schon an einem Punkt, an dem ich der Hausarbeit über Botticelli nachtrauere. Und eines kann ich euch sagen: Das ist kein gutes Zeichen!«
»O je, dann sollten wir wirklich besser aufhören«, meinte Mara. »Wenn sie das lieber machen würde, als ein weiteres Buch durchzusehen, steht es wirklich schlecht um sie.«
»Bevor ihr euch noch gegenseitig zerfleischt, schicke ich euch beiden eine dicke Umarmung durchs Telefon. Und Mara, danke für die kleine Aufheiterung! Das habe ich gerade wirklich gebrauchen können.«
»Weiß ich doch«, meinte sie nur und ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme. »Also, halt die Ohren steif!«
»Was ist das denn für ein blöder Spruch?«, grummelte Doro im Hintergrund.
»Ihr auch«, sagte ich und legte auf.
***
Ich gesellte mich zu Vincent aufs Sofa. Dabei fiel mein Blick auf das in Leder gebundene Tagebuch. Ich unterdrückte das Verlangen, es an mich zu nehmen und darin zu blättern. Ich würde nichts Neues entdecken. Alles, was darin stand, hatte ich bereits mehrfach gelesen. Und wenn doch noch irgendwo eine Geheimbotschaft versteckt war? Der Zweifel nagte an mir.
»Vincent, glaubst du, es würde etwas bringen, auch die übrigen Seiten des Tagebuchs ans Feuer zu halten? Meinst du, es gibt noch mehr versteckte Nachrichten?«
Er sah von seinen Notizen auf. »Ich glaube eher nicht. Aber ich will dich auch nicht davon abhalten, wenn du den Drang verspürst, es zu versuchen.«
»Hmpf.«
Letztendlich siegte meine Neugier und ich stellte mich mit dem Tagebuch vor das lodernde Feuer im Kamin. Seite für Seite hielt ich es dicht an die Flammen, wartete einige Sekunden, drehte es um und fand … nichts. Ernüchtert klappte ich es zu und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. In einer Dreiviertelstunde würden wir aufbrechen müssen. Vincent starrte angestrengt auf seine Notizen.
»Was tust du da eigentlich die ganze Zeit?«
»Ich überlege, ob wir möglicherweise irgendetwas übersehen haben. Ob der Reim selbst vielleicht eine Art Geheimbotschaft ist.«
»Und ist er das?«
»Falls ja, hat sich mir sein Geheimnis noch nicht offenbart. Oder ich bin nicht so schlau, wie ich dachte.«
»Ich glaube, da gibt es nicht noch mehr herauszufinden. Lass uns abwarten, was der Nachmittag für Neuigkeiten bringt. Apropos, hast du schon etwas von Max gehört? Oder von Arthur?« Die letzte Frage traute ich mich kaum zu stellen.
Arthur. Allein der Name verursachte mir eine Gänsehaut. Das war nicht immer so gewesen. Anfangs hatte ich ihn für einen strengen, aber liebevollen Großvater und einen guten Lehrer im Umgang mit Phönixkräften gehalten. Leider hatte sich das ziemlich schnell als Irrtum herausgestellt.
Arthur hatte von Anfang an mein Geheimnis gekannt und gewusst, was mich so besonders machte. Nicht nur aus menschlicher Sicht, sondern auch aus Phönixsicht. Er wusste bereits vor meiner Geburt um meine besondere Fähigkeit, sowohl das Feuer als auch das Eis zu beherrschen, und er hatte Vincent darauf angesetzt mich zu überwachen. Letzterer hatte mir beigebracht die feurige Seite in mir zu beherrschen, wohingegen Pat und auch Markus mir zeigten, wie ich mit meinen Eiskräften umzugehen hatte. Jedenfalls hatte Arthur versucht mich für seine Zwecke zu missbrauchen, die, wie wir kürzlich herausgefunden hatten, darin bestanden, mich als Waffe gegen die Eisphönixe einzusetzen, um so für den alleinigen Sieg der Feuerseite zu sorgen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob Max im Moment auf unserer Seite steht. Arthurs Einfluss ist sehr groß und der tobt mit Sicherheit vor Wut. Ich befürchte, wenn ich Max anrufe, könnte er uns orten. Wenn, dann sollten wir es machen, während wir in Altötting sind.«
»Das hört sich für mich nach einem guten Plan an und jetzt …«, ich nahm ihm seine Notizen aus der Hand und setzte mich auf seinen Schoß, »… sollten wir die Zeit lieber sinnvoll nutzen. Schließlich wissen wir nicht, wie viele solche Gelegenheiten wir noch haben«, raunte ich.
»Versuchst du gerade mich zu verführen? Das sollte eigentlich meine Aufgabe sein«, lachte er.
»Das ist nicht witzig.« Ich funkelte ihn an.
»O doch. Außerdem dachte ich …«
Ich presste meine Lippen fest auf seinen Mund, damit er aufhörte zu reden. Ich wollte jetzt nicht vernünftig sein, denn dann würde ich ihn nicht küssen, sondern über unser weiteres Vorgehen nachgrübeln. Aber gerade brauchte ich Vincents Nähe so sehr und außerdem war es das, was mein Herz in diesem Moment tun wollte und mein Bauch, in dem ein ganzer Schwarm Schmetterlinge – ach was, Fledermäuse – wild mit den Flügeln schlug, ebenso. Und genau auf diese beiden sollte ich doch laut Carmen immer hören.
Vincent erwiderte meinen Kuss, zog mich an sich und vergrub seine Hände in meinen Haaren. Ich umfasste sein Gesicht, spürte das vertraute Kratzen seiner Bartstoppeln auf meinen Handinnenflächen und presste mich enger an ihn. Ich wollte ihn spüren, überall. Ich öffnete meinen Mund und ertastete seine Zungenspitze. Der Kuss war fordernd und ein Hauch Verzweiflung lag darin, aber das machte ihn nur umso süßer. Jetzt kam es mir völlig widersinnig vor jemals an ihm gezweifelt zu haben. Wie hatte ich nur eine Sekunde in Erwägung ziehen können allein zu dem Treffen mit Robert zu gehen?
Das Treffen. Augenblicklich fuhr ich hoch.
»Was hast du?«, fragte er atemlos.
Ich blickte auf meine Uhr. Es war erst eine Viertelstunde verstrichen. »Ich hatte nur gerade Sorge, wir könnten zu spät aufbrechen. Ich verliere immer sämtliches Zeitgefühl, wenn wir …« Ich ließ den Satz offen, aber Vincents hungriger Blick zeigte mir, dass er genau wusste, wovon ich sprach. Dann beugte ich mich wieder zu ihm vor, um da weiterzumachen, wo ich uns unterbrochen hatte. Doch Vincent legte seine Hände auf meine Schultern und hielt mich auf Abstand. Noch immer flackerte die Lust in seinen Augen, weshalb ich nicht verstand, wieso er mich von sich wegschob.
Er stöhnte: »Vielleicht ist die Unterbrechung besser so, auch wenn ich sämtliche meiner Willenskraft aufbringen muss, um jetzt auf dich zu verzichten, so sollten wir dennoch nichts tun, nur weil wir glauben, uns liefe die Zeit davon.«
»Aber das tut sie doch! Hast du etwa vergessen, wie meine Zukunftsaussichten sind?« Irritiert starrte ich ihn an. Was war das denn für eine Logik und seit wann plädierten Männer auf Zügelung der eigenen Lust? Irgendwas lief hier gewaltig falsch.
»Nicht gerade heiter.«
Ich schnaubte. »Das klingt, als sprächen wir vom Wetterbericht.«
»Aber ich verspreche dir, so weit wird es nicht kommen. Uns bleibt noch jede Menge Zeit und du willst das jetzt nur, weil du verzweifelt bist.«
»Ich bin nicht verzweifelt.« Ich rutschte von seinem Schoß, auf das weiche Polster und fühlte mich sehr wohl verzweifelt, weil Vincent mich zurückgewiesen hatte. »Ich wollte nur die Zeit bis zu unserem Aufbruch optimal überbrücken!«, gab ich sauertöpfisch zurück.
»Du bist süß, wenn du schmollst.« Sein Mundwinkel verzog sich zu einem unwiderstehlichen schiefen Lächeln. »Und da wir bald los müssen …«, Vincent erhob sich, »… werde ich jetzt noch schnell duschen gehen.«
»Schon klar, jetzt brauchst du eine kalte Dusche. Geschieht dir recht«, meinte ich verstimmt.
Während er sich entfernte, kicherte er leise vor sich hin.
Ein eisiger Wind pfiff mir um die Ohren, wirbelte mit einem Rascheln die letzten braunen vertrockneten Blätter vom Boden auf und wehte mir die Haare ins Gesicht. Sie nahmen mir komplett die Sicht; ich musste mich in eine andere Richtung drehen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Ich zog den Schal enger um meinen Hals und steckte meine Hände tief in die Manteltaschen. Nicht, dass mir kalt gewesen wäre – Eisphönixhälfte sei Dank –, aber der Wind war unangenehm, es war richtig ungemütlich draußen. Das Wetter war so, wie man sich einen typischen Novembertag vorstellte. Alles eintönig Grau in Grau – beste Voraussetzungen für eine Herbstdepression. Ein leichter Nieselregen, der auf der Haut kaum spürbar war, kräuselte meine Haare auf äußerst unvorteilhafte Weise. Eine Amsel huschte unter eine Tanne, um unter dem dichten Nadelwerk Schutz zu suchen. Ich war froh, als Vincent endlich kam und das Auto entriegelte. Die welken Blätter knirschten unter jedem meiner Schritte, während ich mich der Beifahrertür näherte. Der Wind zerrte an meiner Kleidung und brachte die Enden meines Schals zum Flattern. Schnell schlüpfte ich ins Innere des Wagens, zog die Tür zu und sperrte den Wind aus.
»Soll ich das Navi einprogrammieren?« Ich betrachtete das im Armaturenbrett eingebaute Navigationsgerät skeptisch. Das hatte ich zwar noch nie bedient, aber ich war optimistisch, dass ich die Zieleingabe gerade noch so hinbekommen würde.
»Nicht nötig. Ich kenne den Weg.«
»Sag mal, isst du Landkarten zum Frühstück, oder was? Du kannst doch unmöglich immer alle Strecken kennen.«
Er warf mir einen amüsierten Blick zu, dann wendete er den Wagen und fuhr auf die schmale Straße, die uns hinab ins Tal und raus aus dem Bayerischen Wald bringen würde.
»Ich fahre eben gerne und viel Auto. Außerdem finde ich, sollte man sich in der Heimat auskennen.«
Damit war das Thema für ihn erledigt und ich vertraute ihm, dass er den Weg nach Altötting finden würde.
***
Je mehr Zeit verging, desto aufgeregter wurde ich. Was würde in dem Brief drinstehen? Was hatte mir meine Mutter zu sagen? Und wie würde Robert auf Vincents Anwesenheit reagieren? Oder sollte ich mir lieber über den umgekehrten Fall Gedanken machen? Wie Vincent reagieren würde, wenn er seinem Vater gegenüberstand? Nervös rutschte ich auf dem Sitz hin und her. Wenn wir doch nur schon da wären oder noch besser, wenn wir schon alles hinter uns hätten!
»Nervös?«, fragte Vincent.
»Möglicherweise. Und du?«
»Wieso sollte ich nervös sein? Ich kenne meinen Vater und weiß, was auf mich zukommt.«
»Du weißt nicht, was er uns zu sagen hat.«
»Ich glaube immer noch nicht, dass es etwas von Bedeutung ist. Robert will sich nur wichtigmachen und dich lockt er mit einem angeblichen Brief deiner Mutter. Ich kann verstehen, dass du jeder Spur nachgehen willst, aber sei bitte nicht allzu enttäuscht, wenn sich alles nur als großer Humbug herausstellt.«
»Wieso denkst du eigentlich immer nur das Schlimmste von deinem Vater? Ehrlich Vincent, was ist da zwischen euch vorgefallen?«
Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Das tut nichts zur Sache.«
»Das sehe ich anders und wollten wir nicht ehrlich zueinander sein?«
Er schwieg. »Du wirst nicht lockerlassen, hab ich Recht?«
»Stimmt.«
Er lächelte gequält. Der Ausdruck in seinen Augen war dabei erschreckend leer. »Also schön.« Er seufzte tief, fuhr sich mit einer Hand über das Kinn und fing an zu erzählen. »Eigentlich ist es lächerlich, aber ich konnte meinen Eltern nie verzeihen, dass sie sich so sehr aus meinem und Max' Leben herausgehalten haben. Die ganze Zeit war es Arthur, der sich um uns gekümmert hat. Sie haben zwar ebenfalls in der Villa gewohnt, bis wir volljährig waren, aber außer zu den gemeinsamen Essenszeiten, haben wir sie so gut wie nie zu Gesicht bekommen. Ganz besonders Robert konnte ich nie verzeihen, dass er uns nicht auf die spätere Rolle als Phönix vorbereitet hat. Unsere Eltern glänzten durch Abwesenheit. Wenn überhaupt, haben wir einmal im Monat einen Ausflug mit ihnen unternommen und dann waren wir oft in Altötting. Keine Ahnung, warum.« Vincent schnaubte verächtlich. »Als ob das Beten etwas geholfen hätte. Dabei waren sie nicht immer so … gefühlskalt. Ich habe ein paar wenige Erinnerungen an frühere Zeiten. An liebevollere Eltern. Als ich ungefähr drei Jahre alt war, veränderten sie sich. Max und ich schienen ihnen offenbar lästig und sie schoben uns an Arthur ab. Es fällt mir immer noch schwer, den Arthur der letzten Wochen mit dem aus meiner Kindheit in Verbindung zu bringen. Das kannst du dir vermutlich nur schwer vorstellen, aber er war nicht immer so.«
Vincent sah zerknirscht aus. Tröstend legte ich meine Hand auf seine.
Endlich verstand ich seine abweisende Haltung seinem Vater gegenüber besser. Ich sah den kleinen rothaarigen Jungen, der bitterlich über die Zurückweisung seiner Eltern enttäuscht war, direkt vor mir. Dadurch sah ich auch meine eigene Geschichte mit anderen Augen. Vielleicht war es nicht nur nachteilig gewesen in einem Waisenhaus aufzuwachsen. Zumindest hatten mich meine Eltern niemals dermaßen enttäuschen können. Auch wenn ich mir oft einredete, ich wäre enttäuscht darüber, dass sie mich abgegeben hatten, so hatte ich sie doch nie so schmerzlich vermissen können wie jemand, der elterliche Liebe bereits erfahren durfte. Und doch hatte ich mir mein ganzes Leben lang nichts sehnlicher gewünscht, als meine Eltern kennenlernen zu dürfen.
Mir fiel die Geburtstagsnacht wieder ein, als ich auf das Wunschpapier geschrieben hatte, dass ich mir eine Spur zu meinen Eltern wünschte. Auf verquere Art und Weise und ganz anders als erwartet war der Wunsch in Erfüllung gegangen. Immerhin befand ich mich in diesem Augenblick auf einer Spur zu meinen Eltern oder zumindest zu meiner Mutter. Ob diese Spur im Sand verlief, stand auf einem anderen Blatt geschrieben.
»Vielleicht solltest du trotzdem etwas nachsichtiger mit deinem Vater sein. Wir können es uns nicht leisten, noch mehr Phönixe zu verärgern. Ein paar Verbündete wären nicht schlecht.«
»Das ist nicht dein Ernst! Robert eignet sich kaum als unser Verbündeter.« Es war ihm deutlich anzusehen, wie lächerlich er diese Vorstellung fand.
»Fein! Aber wenn du schon darauf bestehst mich nicht mit ihm alleine reden zu lassen, dann bitte ich dich, dich wenigstens zusammenzureißen.«
»Als wenn ich das nicht immer täte«, knurrte er.
»Du weißt, wie ich das gemeint habe.«
Eine Weile sagte keiner von uns ein Wort. Vincent starrte stur aus der Windschutzscheibe und ich tat es ihm gleich. Ich betrachtete den dichten Wald, durch den sich die Straße schlängelte, und fragte mich, ob es an dem Wetter lag, dass die Stimmung so bedrückt war. Es war grau und finster, als würde es bald Nacht werden.
»Manchmal habe ich den Eindruck, unsere Beziehung ist auf einem Pulverfass gebaut und ich weiß nie, wann die ganze Ladung hochgeht«, meinte ich schließlich.
»Eine explosive Mischung, aber das macht es auch aufregend, oder nicht?« Vincents Augen blitzten.