Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg: Das einzige Grundstück, das in dem stillen englischen Villenvorort von einer Bombe getroffen wurde, bietet Keith und Stephen ein ideales Versteck. Von hier aus versuchen sie, die trügerische Ordnung der bürgerlichen Welt zu entlarven: Im scheinbar harmlosen Nachbarn erkennen sie einen vielfachen Mörder, der Boden unter ihren Füßen, davon sind sie überzeugt, wimmelt von Geheimgängen, und finstere Gestalten gehen ein und aus in einem Haus, das auch bei Tag immer verdunkelt bleibt. Und dann stellt Keith fest, dass seine Mutter eine deutsche Spionin ist. Nach einer Weile merkt Stephen, dass sie mit ihrem Detektivspiel Dinge in Gang gesetzt haben, die außer Kontrolle geraten und eine unheimliche Eigendynamik entwickeln. Keith’ schöne, kultivierte, immer so beherrschte Mutter hat nämlich tatsächlich etwas zu verbergen, und Stephen ahnt zwar, was es sein könnte, und tut doch mit schrecklicher Unausweichlichkeit immer wieder das Falsche.
Mit großer Meisterschaft und sparsamen Mitteln macht Frayn feinste psychische Regungen, komplizierte Beziehungen und schleichende Veränderungen in diesen Beziehungen sichtbar. Frayn, der Zauberkünstler, demonstriert nicht zum ersten Mal, dass das, was sich scheinbar vor unseren Augen ereignet, sich oft als etwas entpuppt, was wir überhaupt nicht sehen können.
Hanser E-Book
Michael Frayn
Das Spionagespiel
Roman
Aus dem Englischen
von Matthias Fienbork
Carl Hanser Verlag
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2002 unter dem Titel Spies bei Faber and Faber in London.
ISBN 978-3-446-25527-2
© Michael Frayn 2002
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:© Carl Hanser Verlag München 2004/2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München unter Verwendung eines Fotos © Bettman/Corbis
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
1
Die dritte Juniwoche, und da ist er wieder, dieser fast peinlich vertraute süßliche Hauch, der sich alljährlich um diese Zeit bemerkbar macht. Ich registriere ihn in der warmen Abendluft, wenn ich an den gepflegten Gärten in meiner ruhigen Straße vorbeigehe, und für einen Moment bin ich wieder ein Kind und alles liegt vor mir – all die ängstigenden, halb verstandenen Versprechungen des Lebens.
Er muß aus einem der Gärten kommen. Aber welchem? Ich kann es nicht erkennen. Und was ist es? Es ist nicht die herzzerreißend zarte Süße blühender Linden, für die diese Stadt bekannt ist, und auch nicht das heitere Sommerglück von Geißblatt. Es ist etwas ziemlich Intensives und Aufdringliches. Es riecht unangenehm, fast ein wenig obszön. Und es irritiert mich, wie immer. Ich empfinde – ja was? Unruhe. Eine Sehnsucht, hinter dem Wäldchen am Ende der Straße zu sein, weit weg. Aber gleichzeitig eine Art Heimweh nach dem Ort, wo ich gerade bin. Ist das möglich? Ich habe das Gefühl, daß es irgendwo noch etwas Ungelöstes gibt, daß ein Geheimnis in der Luft liegt, das seiner Enthüllung harrt.
Wieder eine Andeutung dieses Geruchs im leichten Sommerwind, und dann weiß ich, daß es meine Kindheit ist, nach der ich mich zurücksehne. Das Haus, nach dem ich Heimweh habe, existiert ja vielleicht noch. Jeden Sommer, Ende Juni, wenn dieser süße Duft kommt, stelle ich fest, daß es billige Flüge in dieses ferne, nahe Land gibt. Zweimal greife ich zum Hörer, um zu buchen, zweimal lege ich wieder auf. Du kannst nicht zurück, das weiß jeder … Ich werde also nie zurückkehren? Ist das meine Entscheidung? Ich werde alt. Wer weiß, vielleicht ist dieses Jahr die letzte Gelegenheit …
Aber was ist es, das so schrecklich irritierend in der Sommerluft liegt? Wenn ich nur wüßte, wie diese geheimnisvolle Blüte heißt, wenn ich sie nur sehen könnte, vielleicht wäre mir dann klar, woher ihre Kraft rührt. Plötzlich registriere ich den Duft, während ich meine Tochter und ihre beiden kleinen Kinder nach ihrem wöchentlichen Besuch zum Auto begleite. Ich lege ihr eine Hand auf den Arm. Sie kennt sich aus mit Pflanzen und in Gartenfragen. »Riechst du das? Da … jetzt … Was ist das?«
Sie schnuppert. »Die Kiefern«, sagt sie. Im sandigen Boden stehen hohe Kiefern, die den bescheidenen Häusern Schutz vor der Sommersonne bieten und unserer berühmten guten Luft eine belebende Frische verleihen. Der Geruch, der sich so listig aufdrängt, hat aber nichts Sauberes oder Würziges. Meine Tochter rümpft die Nase. »Oder meinst du diesen … ein bißchen ordinären Geruch?« sagt sie.
Ich lache. Sie hat recht. Der Geruch ist wirklich ein bißchen ordinär.
»Liguster«, sagt sie.
Liguster … Hilft mir auch nicht weiter. Den Namen habe ich natürlich schon gehört, aber es entsteht kein Bild in mir und keine Erklärung der Macht, die dieser Geruch über mich hat. »Es ist ein Strauch«, sagt meine Tochter. »Ziemlich verbreitet. Hast du in den Grünanlagen bestimmt schon gesehen. Sieht sehr langweilig aus. Erinnert mich immer an deprimierende, verregnete Sonntagnachmittage.« Liguster … Nein. Und doch rührt und regt sich alles in mir, als wieder ein Hauch dieser schamlosen Aufforderung über uns hinwegweht.
Liguster … Und doch flüstert er von etwas Geheimnisvollem, etwas Dunklem und Verstörendem tief in meinem Innern, von etwas, an das ich nicht gern denken möchte … Nachts wache ich auf, das Wort läßt mir keine Ruhe. Liguster …
Moment mal. Hatte meine Tochter Englisch gesprochen, als sie dieses Wort erwähnte? Ich hole mir das Wörterbuch … Nein. Und als ich sehe, was es auf englisch heißt, muß ich wieder lachen. Natürlich! Ganz klar! Diesmal lache ich auch aus Verlegenheit, weil ein professioneller Übersetzer bei einem so simplen Wort nicht passen sollte und weil es mir – nun da ich weiß, was es ist – als Auslöser derart intensiver Gefühle so lächerlich banal und unpassend erscheint.
Jetzt erinnere ich mich wieder an alle möglichen Dinge. Lachen zum Beispiel. An einem Sommertag vor fast sechzig Jahren. Ich habe nie mehr daran gedacht, aber da ist sie wieder, die Mutter meines Freundes Keith, im längst vergangenen grünen Sommerschatten, die braunen Augen funkeln, sie lacht über etwas, das Keith geschrieben hat. Jetzt verstehe ich natürlich, warum, da ich weiß, was es war, und ich den Geruch wieder spüre, der uns umgab.
Dann hört das Lachen auf. Sie sitzt weinend auf der Erde vor mir, und ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Um uns herum ist dieser süßlich betörende Geruch, unbemerkt dringt er bis in die verborgensten Winkel meines Gedächtnisses vor, um zeit meines Lebens in mir zu bleiben.
Keith’ Mutter. Sie muß jetzt in den Neunzigern sein. Oder tot. Wie viele der anderen wohl noch leben? Wie viele werden sich erinnern?
Und Keith selbst? Ob er je an die Ereignisse jenes Sommers denkt? Es könnte sein, daß er ebenfalls tot ist.
Vielleicht bin ich der einzige, der sich erinnert. Oder halbwegs erinnert. Verschiedene Dinge schießen mir blitzartig durch den Kopf, in beliebiger Reihenfolge, und sind schon wieder verschwunden. Funkenregen … Scham … Jemand, den man nicht sieht, hustet und versucht, das Husten zu unterdrücken … Ein Krug, bedeckt von einem Tuch, an dem vier blaue Glasperlen hängen …
Ja, und auch die Worte meines Freundes Keith, die alles überhaupt erst in Gang setzten. Oft ist es nicht ganz leicht, sich genau an die Worte zu erinnern, die jemand vor einem halben Jahrhundert gesagt hat, aber in diesem Fall ist es einfach, weil es nur so wenige waren. Sechs, um genau zu sein. Leichthin ausgesprochen wie die allerbeiläufigste Bemerkung, leicht und schwerelos wie Seifenblasen. Und doch haben sie alles verändert.
Wie das bei Worten eben ist.
Und nun, da ich einmal angefangen habe, wird mir plötzlich klar, daß ich gern länger über all diese Sachen nachdenken würde, um sie zu strukturieren, Verbindungen herzustellen. Es gab Dinge, die nie erklärt wurden. Dinge, die niemand aussprach. Es gab Geheimnisse. Jetzt möchte ich sie endlich ans Tageslicht bringen. Und obwohl ich inzwischen weiß, woher meine Unruhe rührt, spüre ich schon, daß immer etwas Ungelöstes bleiben wird.
Ich sage meinen Kindern, daß ich für ein paar Tage nach London fliegen werde.
»Haben wir dort eine Adresse von dir?« fragt meine praktisch denkende Schwiegertochter.
»Memory Lane vielleicht«, sagt mein Sohn trocken. Wir sprechen jetzt Englisch miteinander. Er spürt meine Unruhe.
»Genau«, antworte ich. »Das letzte Haus vor der verrückten Kurve, wo dann die Amnesie-Allee anfängt.«
Ich erwähne nicht, daß ich einem Strauch auf der Spur bin, der im Sommer ein paar Wochen blüht und mir den Seelenfrieden raubt.
Ich erwähne schon gar nicht, wie dieser Strauch heißt. Ich mag selbst kaum daran denken. Es ist zu absurd.