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Prolog

Vignette

»Geh zu ihr«, verlangte ihre Mutter mit monotoner Stimme.

Imogen sah zu ihr auf. Tränen ließen die Augen der Frau glitzern, doch ihre Züge waren hart und ungerührt. Sie stand mit den anderen Dorfbewohnern am Flussufer und beobachtete, wie die Scharfrichter ihre älteste Tochter durch das seichte Wasser zerrten.

Imogens Herz war wie verkrampft. Sie wagte es nicht einmal hinzusehen, wo es doch ihre Schuld war, dass Evelyn diese grausame Strafe auf sich nehmen musste.

»Mutter, ich …«, krächzte Imogen mit brüchiger Stimme.

»Geh schon«, wiederholte ihre Mutter mit scharfem Ton.

Sie war wütend auf Imogen, hätte ihr das aber niemals offen gesagt und würde es auch in Zukunft nie zugeben. Sie liebte Evelyn noch immer und trotz allem.

Imogen ging es ja nicht anders. Evelyn war ihre große Schwester, hatte immer ihre schützende Hand über sie gelegt, ihr bei den Schulaufgaben geholfen und die Schuld auf sich genommen, wenn sie gemeinsam Streiche ausgeheckt hatten.

In den letzten Jahren aber hatten sie sich entfremdet. Imogen war erwachsen geworden und aus dem zu klein geratenen, schmächtigen Ding von damals war eine junge Dame geworden. Die Jungen, die sie früher geneckt und an den Haaren gezogen hatten, pfiffen ihr jetzt hinterher, brachten ihr Blumen und sangen Lieder für sie.

Imogen war hübsch und das missfiel Evelyn. Dabei war sie auch nicht gerade schlecht anzusehen.

Woher diese Eifersucht genau kam, wusste Imogen nicht. Sie wusste nur, dass sie die beiden Schwestern hierhergeführt hatte. Genau an diesen Ort, wo der Fluss, an dem sie als Kinder gespielt hatten, in einem tosenden Wasserfall endete.

Der Hexenfall. Sie hatte sich bei diesem Namen nie etwas gedacht, dabei war er mehr als bezeichnend.

Imogen atmete tief durch. Sich zu drücken nutzte nichts. Als Anklägerin musste sie vortreten, so wie es das Gesetz von Littover forderte und wie es ihre Mutter verlangte.

Sie watete also durch den Fluss. Das Wasser war ruhig und warm, was für einen seichten Sommertag wie heute nicht ungewöhnlich war. Es reichte ihr bald bis zu den Waden, zog sich in den Saum ihres Kleides und zerrte an dem Stoff, wodurch das Vorankommen immer beschwerlicher wurde.

Die beiden Männer, die Evelyn bis in die Mitte des Flusses geführt hatten, flankierten die junge Frau, hielten aber genügend Abstand. Sie hatten Respekt vor ihr, so wie jeder andere im Dorf auch.

Evelyn war mächtig. Das stand außer Frage. Etwas Großes sollte einmal aus ihr werden, bis zum Königshof sollte sie es schaffen. Dieses Ansehen, das sie sich schon als Kind in ihrem Heimatdorf errungen hatte, war nun aber Angst gewichen. Und das hatte Evelyn sich ganz alleine zuzuschreiben.

»Deine letzten Worte?«, fragte Evelyn ihre Schwester spöttisch.

Ihre Stimme kam dabei kaum gegen den tosenden Wasserfall in ihrem Rücken an.

Sie trug ein einfaches weißes Leinenkleid. Kaum mehr als ein Unterhemd. Ihr dunkles, dichtes Haar war offen und wurde vom Wind in Strähnen vor ihr bleiches Gesicht geweht. Dahinter blitzten hasserfüllte Augen wie Smaragde.

Imogen konnte dem Blick ihrer Schwester nicht standhalten. Sie sah zur Wasseroberfläche und auf Evelyns Spiegelbild, das darin waberte.

»So … so ist es Brauch«, antwortete Imogen.

»Komm schon, Schwesterchen, du wirst jetzt doch kein schlechtes Gewissen haben, oder? Ich bin hier die Böse, schon vergessen? Ich bin die Hexe, nicht du!«

»Es geht nicht darum, dass du eine Hexe bist!«, warf Imogen ihr entgegen.

»Nein? Worum dann?«, verlangte Evelyn zu wissen. »Die Leute haben doch nur Angst vor mir! Das haben sie schon immer gehabt. Feige sind sie!« Sie wandte sich den Dorfbewohnern zu. »Hört ihr das? Ihr alle seid feige!«

Imogen schüttelte den Kopf. »Du hast meinen Verlobten verführt.«

Evelyn warf den Kopf in den Nacken und lachte. Es war ein schauriges, durchdringendes Lachen, das einem die Haare zu Berge stehen ließ.

»Gehören dazu nicht immer zwei? Er wollte es doch genauso wie ich.«

In Imogen kochte Wut auf und das Mitleid für ihre Schwester, das ihr bis jetzt das Herz schwer gemacht hatte, verflüchtigte sich langsam.

»Ja, dazu gehören zwei. Nämlich mein Verlobter und ich. Du hast ihn verzaubert, verflucht! Er dachte, dass du ich wärst und dann hast du ihn verführt! Wie konntest du nur?«

Evelyn straffte ihre Haltung. Sie richtete sich auf, schob die Schultern zurück und fixierte Imogen durch kühle, berechnende Augen. Wären ihre Hände nicht gefesselt gewesen, hätte Imogen nicht anders gekonnt, als vor ihr zurückzuweichen. Es fiel Imogen auch so schon schwer genug standhaft zu bleiben.

Evelyn war eine mächtige Hexe. Die mächtigste, die sie je kennengelernt hatte. Imogen selbst hatte die heilenden Hände ihrer Mutter geerbt, mehr aber auch nicht. Sie wäre nie in der Lage gewesen, die Zauber zu wirken, die Evelyn so leicht über die Lippen kamen.

»Ich hätte ihn verdient«, behauptete Evelyn entschlossen.

»Verdient? Seine Liebe? William hat mich erwählt und ich ihn. Wir sind füreinander bestimmt und du, du hättest sicher auch einen guten Mann finden können, wenn du nicht immer so biestig und abweisend wärst!«

»Ach ja? Wen denn? Den Sohn vom Müller? Den Schuster?«, fragte Evelyn abfällig. »Mir steht mehr zu! Ich bin für Größeres bestimmt! Viel Größeres als das!«

Imogen schnaubte verächtlich.

»Darum geht es dir also? Um Williams Titel? Dein Leben lang haben die Menschen dir gesagt, dass du einmal viel erreichen wirst, aber dafür musst du auch etwas tun!« Ja, so kannte sie Evelyn. Sie war weder fleißig noch freundlich zu ihren Mitmenschen. Sie hasste es, sich die Finger schmutzig zu machen und nicht einmal der Magie schenkte sie besonders viel Aufmerksamkeit. »Dir ist doch immer alles nur zugeflogen. Etwas Besonderes sein, etwas Großes erreichen, das heißt für dich, sich zurückzulehnen und das Schicksal walten lassen. Aber weißt du was? So einfach ist das nun mal nicht. Natürlich hast du das Potenzial, etwas ganz Besonderes zu werden, aber dafür musst du dich auch anstrengen. Stattdessen bist du eifersüchtig auf mein Glück und willst mir alles zerstören. Ich hasse dich dafür!«

Evelyn rührte das nicht. Ein breites Grinsen huschte ihr über die Lippen und in ihren Augen blitzte es bedrohlich auf.

»Du glaubst, mir ist immer alles zugeflogen?«, hakte Evelyn nach. »Du bist doch diejenige, der die Männer scharenweise hinterherlaufen. Was nutzt es, wenn alle mir sagen, dass ich etwas Besonderes bin, wo du es doch bist, die Baronin von Dornwall wird?«

»Das ist doch nur ein Titel! Ich liebe William, darauf kommt es an! Aber du wirst das nie verstehen, weil du gar nicht weißt, was Liebe bedeutet!«

»Oh, glaub mir, Schwesterherz, das hat sich schon verdammt nach Liebe angefühlt, als dein ach so perfekter William die Nacht mit mir verbracht hat.« Evelyn lachte.

»Das … das ist keine Liebe gewesen …«, murmelte Imogen betroffen.

Sie wollte immer noch nicht wahrhaben, dass Evelyn so weit mit ihm gegangen war. Auch wenn Evelyn darauf geschworen hatte, ihn nicht durch einen Liebeszauber benebelt zu haben, war sie doch zumindest in Imogens Gestalt zu ihm gekommen. Dennoch fiel es Imogen schwer zu verzeihen, dass William den Unterschied nicht bemerkt hatte.

»Erzähl das deinem William. Er hat mir etwas Anderes ins Ohr geflüstert. Und bei der Gelegenheit solltest du ihn mal fragen, wie viel Ehre tatsächlich in ihm steckt, mit seiner Braut vor der Hochzeit eine Nacht zu verbringen.«

Imogen presste die Lippen fest zusammen. Diese Worte trafen sie wie Messerstiche ins Herz. Sie liebte William und das nach Evelyns Schandtat nicht weniger, aber ihm zu verzeihen würde seine Zeit brauchen. Diese eine Nacht hätte ihnen beiden gehören sollen. Und das auch erst nach ihrer Hochzeit, auf die er scheinbar nicht hatte warten können. Doch sie waren verlobt und so hatte er kein Verbrechen begangen. Evelyn hingegen sehr wohl.

Jemanden durch Magie so hinterlistig zu betrügen, sich für jemand anderen auszugeben und einen Adligen zu belügen, das waren schwerwiegende Verbrechen, die nur eine Strafe nach sich ziehen konnten. Und genau deswegen standen sie jetzt hier.

»Was … was hast du dir davon erhofft?«, hauchte Imogen.

Sie konnte ihrer Schwester nicht in die Augen schauen. Nicht das geringste Anzeichen von Reue sah man darin.

»Was glaubst du?«, fragte Evelyn und legte sich die Hand auf den Unterleib.

Das war also ihr Plan. Sie hatte sich von ihm schwängern lassen wollen, um ihn dann dazu zu zwingen, sie statt Imogen als Braut zu nehmen.

»Das hättest du mir angetan?«, fragte Imogen ungläubig.

Sie konnte es nicht glauben. Ja, sie waren lange nicht mehr die Schwestern, die sie einmal gewesen waren, aber wann war aus Evelyn so eine herzlose Frau geworden, warum war sie so verbittert und voller Eifersucht?

Imogen hatte immer geglaubt, dass Evelyn gerne die Unnahbare mimte, dass sie es genoss, mit den Männern zu spielen und ihnen Angst einzujagen, statt sich von ihnen umwerben zu lassen. Wieso sonst war sie immer so kühl und abweisend? Dabei war in ihr scheinbar über all die Jahre der Neid gewachsen und die Früchte davon erntete sie nun, wo sie hier stand und die Strafe zu empfangen hatte, die auf ihre Verbrechen stand.

Evelyn sah ihre jüngere Schwester lange und durchdringend an, bevor sie antwortete.

»Weil ich es verdient habe. Ich bin zu Höherem bestimmt als dazu, die Tochter einer Schneiderin zu sein. Du wirst schon sehen.«

Mit diesen Worten ließ sie sich fallen. Die beiden Scharfrichter wirbelten herum und sahen ihr verdutzt nach. Auch Imogen erschrak, als Evelyn sich so wagemutig selbst in den Abgrund stürzte, statt darauf zu warten, dass man sie stieß.

»Halte Abstand!«, gebot ihr einer der Männer, als Imogen näherkommen wollte. »Es ist gefährlich.«

Die Steine unter ihren Füßen waren glitschig und boten ihr kaum Halt. Sie sah hinunter in die tosende Flut, doch von Evelyn war nichts zu sehen. Nur weiße, schäumende Gischt und spitze Steine, die hier und dort aus dem Wasser ragten.

Die Chancen das zu überleben standen denkbar schlecht und wenn es ihr doch gelang, dann war sie verbannt und dazu verdammt, ihr Leben als Ausgestoßene zu führen.

Doch Imogen war sich sicher, dass sie noch lebte, dass sie irgendwo weiter flussabwärts wiederauftauchen und sich an Land retten würde.

Evelyn würde ihren Weg schon finden. Und vielleicht gelänge es ihr am Ende doch, Baronin zu werden, so wie sie glaubte es verdient zu haben.

Doch ihren William sollte sie nicht bekommen. Nicht solange Imogen an seiner Seite war und sie einander liebten.

 

Der Schwur

Vignette

Dale lehnte sich erschöpft an einen der Bäume. Sein Atem ging rasselnd und schnell. In Wolken zeichnete er sich vor seinem Mund ab.

Der Mond stand hoch und sein Licht brach wie fallender Regen durch das Blätterdach über Dales Kopf.

Er wusste nicht, wie er hierhergekommen war, konnte sich nur bruchstückhaft an die letzten Tage erinnern. Es war wie ein sich immer wiederholender, gleicher Albtraum. In tiefdunkler Nacht erwachte er im Wald, es war bitterkalt, mal regnete es, mal lag Schnee oder Nebelschwaden zogen über den laubbedeckten Boden. Er war unbekleidet, zitterte am ganzen Leib, war verdreckt und mit zahllosen Striemen und Schürfwunden überzogen, die von seinen unbeholfenen Streifzügen durch den nächtlichen Wald zeugten.

Wo Nala war, wusste er nicht. Auch nicht, was tagsüber mit ihm geschah und warum sich dieser Albtraum immer wiederholte.

Dennoch fand er jedes Mal seinen Weg zu dieser verlassenen Hütte auf der Lichtung. Irgendwie kam ihm alles hier vertraut vor und doch so fremd.

Er wusch sich, schlang sich seinen Umhang um den geschundenen, bebenden Körper und kauerte sich in eine Ecke. Die Zeit reichte nicht einmal, um ein Feuer zu entzünden und sich zu wärmen, dann begann alles wieder von vorne.

Diesmal aber war es anders. Er war nicht sehr weit von der Lichtung entfernt. Dale stolperte in die Hütte, griff sich seinen Umhang, da hörte er einen lauten, durchdringenden Schrei, der ihn bis ins Mark erschütterte. Ihm war, als habe er Nala schreien gehört, doch es war nur ein Vogel, eine Eule, die über der Lichtung kreiste.

Dale trat ins Freie und legte den Kopf in den Nacken, sah hinauf zum sternenklaren Himmel und dem vollen Mond, der das Gefieder der Schleiereule silbrig glänzen ließ. Wieder schnitt ihr Schrei durch die Stille der Nacht.

Dale schrieb es seiner Erschöpfung zu, dass er Nalas Stimme zu erkennen glaubte. Dennoch hob er seine Hand und reckte sie dem Tier entgegen. Und tatsächlich. Die Eule reagierte darauf. Sie zog ihre Kreise enger, warf ihre Schwingen in die Höhe und stürzte sich, die Fänge voran, hinab.

Kaum hatte sie die fingerlangen Klauen um seinen Arm gelegt, fiel das Federkleid von dem Vogel ab und wirbelte durch die Luft wie ein Schneegestöber. Der Wind um sie herum stob auf, wirbelte Laub in die Höhe und ließ die Blätter an den Bäumen rauschen, singen und flüstern.

Als Dale die Hand nach der schattenhaften Gestalt ausstreckte, die Mondlicht und wirbelnde Federn vor ihm bildeten, berührte er Nalas Wange. In dem Moment ließ der Wind nach, die Federn fielen herab und legten sich als Kleid um den Körper seiner Schwester.

Dale war wie versteinert. Er hielt das alles noch immer für einen Traum. Es gab keine andere Erklärung für ihn.

Nala sah ihn durch weit aufgerissene, tränengetränkte Augen an. Sie biss sich auf die Lippe, begann zu schluchzen und fiel ihm in die Arme.

»Dale«, krächzte sie. »Ich dachte … ich dachte, ich hätte versagt.«

Er wusste nicht, wovon sie sprach. Nur dass dies kein Albtraum, sondern Wirklichkeit war. Er zog sie an sich heran und vergrub sein Gesicht in ihrem goldenen Haar.

»Schon gut«, hauchte er ihr ins Ohr.

Ihr Körper bebte beinahe mehr als der seine. Zumindest aber hatte das Gefieder ihr ein Kleid geschenkt, das sie wärmte und ihren schmalen Körper wie flackerndes Mondlicht umspielte.

Er war unendlich erleichtert sie wiederzuhaben, zu wissen, dass es ihr gut ging, auch wenn er nicht verstand, was geschehen war.

Für einen kurzen, seligen Moment glaubte er den Kreislauf durchbrochen zu haben, doch schon im nächsten Augenblick durchzuckte ihn ein heftiger Schmerz. Er kroch ihm die Wirbelsäule hinauf und raubte ihm seine Sinne. In Nalas Armen brach Dale zusammen. Sie redete auf ihn ein, rüttelte an ihm und schrie, aber das alles drang nur gedämpft zu ihm durch.

***

»Dale!«, schrie Nala.

Er lag in ihren Armen, sein ganzer Körper war verkrampft, den Atem hatte er angehalten. Als sie ihm durch die Haare strich und dabei nur das seidig glatte Fell eines Rehs unter ihren Fingern spürte, hatte sie Gewissheit: Seine Verwandlung war nur von kurzer Dauer gewesen.

Schon regte sich unter seinem Umhang der schmale, sehnige Körper eines Rehs. Es rappelte sich auf, der Stoff glitt ihm vom Rücken und in wenigen Sprüngen war es am Rand der Lichtung. Nala warf sich ihm nach.

»Bitte Dale!«, rief sie. »Warte!«

Sie wollte ihn nicht wieder verlieren, diesen Kampf um ihn und seine Menschlichkeit nicht noch einmal von vorne beginnen. Dazu fehlte ihr die Kraft. Doch ihre Hoffnung starb, als sie ihn dort hinten stehen sah. So scheu und verwirrt, verängstigt, wie an jenem Tag, da die Hexe ihn verflucht hatte. Die Verzweiflung darüber schnürte Nala die Kehle zu, doch diesmal war es anders.

Das Reh floh nicht, sondern blieb erst nur zögerlich stehen, dann wandte es sich ihr zu.

Tränen ließen das Bild vor Nalas Augen verschwimmen. Sie blinzelte sie weg und hielt Dale ihre Hand entgegen.

»Komm zurück, bitte«, flehte sie.

Zögerlich schritt das Reh auf sie zu und schmiegte sich schließlich an ihre Hand wie eine verschmuste Katze.

Nala legte ihre Stirn auf die seine und atmete tief durch. Auch wenn der Fluch nicht gebrochen war, so fühlte sie dennoch eine unheimliche Erleichterung.

Eine Stunde hatte sie ihm schenken können. Eine einzige Stunde am Tag war er wieder ein Mensch. Gerade lange genug, um sich nicht in dem wilden Tier zu verlieren, zu dem die Hexe ihn gemacht hatte.

»Komm, wir gehen rein, machen ein Feuer und wärmen uns auf.« Sie nahm Dales Umhang an sich, stand auf und das Reh folgte ihr treu, als sie zur Hütte lief.

***

Sedrik stand am Geländer der Galerie und beobachtete die tanzenden Paare im Festsaal. Wie Kreisel drehten sich die bunten Röcke der Damen über das Parkett, bewegten sich zur beschwingten Musik, die das Orchester angestimmt hatte.

Sie flogen über das Mondlicht, das durch die deckenhohen Buntglasfenster auf die polierte Tanzfläche fiel. Über ihnen dutzende Kronleuchter, glitzernd im Schein der Kerzen.

Ungerührt betrachtete er dieses Schauspiel und straffte seine Haltung, als die Königin die Galerie von der gegenüberliegenden Seite betrat. Sie trafen sich in Höhe der Treppe, wo er eine Verbeugung andeutete. Seine Mutter schenkte ihm ein mildes Lächeln.

Sie trug noch immer Trauer. Dennoch übertraf sie in Schönheit und Eleganz jede andere Dame im Raum. Ihr Kleid war schwarz und weit ausfächernd. Im unteren Drittel hielten edelsteinbesetzte Schleifen den gerafften Stoff. Brokat, der Schwarz auf Schwarz das Bild von welken Rosen zeigte, zog sich über ihren Oberkörper bis hin zu ihrem schmalen Hals, um den sich ein hoher Kragen legte. Auf ihrem hochgesteckten Haar trug sie die Krone, unter der ein schwarzer Spitzenstoff lag, der ihr halb vor den Augen hing. Aus dem Stoff waren auch ihre Handschuhe, wie Sedrik feststellte, als sie ihm die Hand reichte.

»Du trägst deine Ausgehuniform?«, fragte seine Mutter, als er ihre Hand küsste, um sich dann der Treppe zuzuwenden.

»Ist dieser Ball denn nicht zu Ehren der Kriegsopfer?«, fragte er trocken. »Die Uniform ist da wohl angemessen.«

Die Musik verstummte und Sedrik führte die Königin die Treppe hinunter und durch den Gang, den die Adligen für sie bildeten.

Wo sie vorüberschritten knicksten die Damen, klimperten mit den Wimpern und ein paar wenige waren gar so dreist dem Prinzen verwegene Blicke zuzuwerfen.

Die Herren verbeugten sich tief und Sedrik nickte hier und dort einem bekannten Gesicht zu, vermied es aber weitestgehend Blickkontakt aufzubauen.

»Für einen Soldaten mag das angemessen sein«, meinte die Königin, ohne das Lächeln zu verlieren, das ihre Lippen umspielte. »Du hingegen bist der Kronprinz und sehr bald schon wirst du König sein. Dabei siehst du aus wie ein Feldwebel.«

»Jetzt übertreibst du«, widersprach er mit gesenkter Stimme.

Er geleitete sie zum Thron, wo sie Platz nahm und mit einem Nicken dem Tanzmeister gebot mit der Festivität fortzufahren.

Die Musik erklang und der Pfad durch die Adelsgesellschaft schloss sich wieder.

Eine Weile schwiegen sie beide. Er war nicht im Streit mit seiner Mutter, doch seit dem Tod seines Vaters fühlte es sich so an. Ständig gerieten sie aneinander. Sie kritisierte ihn, als müsse sie die Lücke füllen, die der König hinterlassen hatte und er reagierte genervt und gereizt.

Nie hatte er sich in der Rolle, die er auszufüllen hatte, so unwohl gefühlt, so gefangen und fehl am Platz, wie in den letzten Wochen nach dem Tod des Königs und dem Versprechen, dass Sedrik ihm auf seinem Sterbebett gegeben hatte.

»Du denkst wieder an ihn, nicht wahr?«, fragte die Königin.

Verwundert sah Sedrik zu seiner Mutter. Sie beobachtete das Treiben auf der Tanzfläche und wandte sich ihm nur flüchtig zu, wohl, um in seiner Mimik zu lesen, bevor sie sich wieder nach vorne richtete.

»Ich sehe es doch in deinen Augen, dass du an deinen Vater und euer letztes Gespräch denkst«, erklärte sie. »Du bist mein Sohn, ich kenne dich.«

»Ist es also so offensichtlich?«

»Dass es dich belastet? Ja.« Sie seufzte. »Man muss sich ja Sorgen machen, dass rings um dich die Bediensteten aus den Fenstern springen, um der Aura des Trübsals zu entkommen, die du ausstrahlst.«

Er schmunzelte. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

Seine Mutter atmete tief durch.

»Weißt du«, begann sie, zögerte dann aber, bevor sie sich durchringen konnte, weiterzusprechen. »Ich habe es gehört …«

»Gehört?«, fragte Sedrik.

Sie hatte den Blick weiter nach vorne gerichtet und verzog keine Miene.

»Am Tag, als dein Vater starb. Ich habe gehört, was er zu dir gesagt hat – über Frauen und die Liebe«, erklärte sie.

Sie sprach davon, dass ihr Ehemann in den letzten Minuten seines Lebens seine Liebe zu ihr als Nichtigkeit abgetan hatte. Sedrik hatte ihr gegenüber das Gegenteil behauptet. Er hatte sie nicht verletzen wollen, ahnte aber natürlich nicht, dass sie in Hörweite gewesen war.

»Ihr dürft nichts darauf geben«, sagte er. »Vater sprach im Fieberwahn.«

Sie sah nun doch zu ihm. Ein trübes Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Ich hätte es so nicht stehen lassen dürfen.« Seine Mutter reichte ihm die Hand und Sedrik ergriff sie. »Er wollte nur sichergehen, dass du deiner Pflicht nachkommst und dein Amt nicht wegen einer unbedarften Liebelei vernachlässigst, verstehst du?« Ihr Lächeln wurde breiter und ihr Blick war geradezu verträumt. »Ich war über zwanzig Jahre die Frau an der Seite dieses Mannes. Ich kannte ihn besser als er sich selbst. Natürlich hat er mich geliebt. Oh, er hat mich sehr geliebt und ebenso hat er mich oft genug verflucht.«

»Dann verzeiht Ihr mir, dass ich Euch nicht die Wahrheit gesagt habe, was seine letzten Worte betrifft?«

Die Königin liebkoste seine Hand und strich ihm über die Finger.

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Ich bin dir dankbar für deine Umsicht. Nein, ich bin diejenige, die um Verzeihung bitten muss. Ich hätte dir von Anfang an sagen sollen, was die wahren Absichten deines Vaters waren. Wenn er gewusst hätte, was es mit dir anrichtet, hätte er niemals verlangt, dass du dieses Versprechen gibst. Zu fordern, dass du dieses Mädchen aufgibst, wo du es doch ganz offensichtlich liebst, war ein großer Fehler. Und ich beging denselben, weil ich zuließ, dass es so weit kam. Du solltest dich nicht länger quälen. Zieh los und suche sie. Vielleicht bekomme ich dann auch meinen Sohn zurück.«

Bevor er dazu kam zu antworten, löste sie ihre Hand von der seinen und applaudierte, weil die Musik verklungen war. Auch Sedrik wandte sich der Tanzgesellschaft zu und klatschte. Er kam sich benommen vor und musste die Worte seiner Mutter mehrmals im Geiste durchgehen, bevor er wirklich begriff, was sie zu ihm gesagt hatte.

Die Adligen verbeugten sich vor ihnen und fanden sich in neuen Paaren zusammen, um sich für den nächsten Tanz aufzustellen.

Sedrik konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Von der Bürde seines Schwurs befreit zu sein, das war, als würde er aus einem dunklen Verlies ins Tageslicht treten. Eine Zuversicht ergriff Besitz von ihm, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte.

Die Königin beugte sich ihm ein Stück weit entgegen und schmunzelte dabei.

»Du wirst jetzt aber nicht weinen vor Glück, oder?« Sie nickte nach vorne. »Das könnte uns in Erklärungsnöte bringen.«

Unweigerlich tupfte er sich mit dem Finger den Augenwinkel ab. Aber nein, natürlich war es nicht so, dass ihm die Tränen kamen.

»Nein, so weit kommt es wohl nicht«, antwortete er lachend. »Aber innerlich mache ich Luftsprünge.«

Sie nickte zufrieden.

»Glaube mir, ich bin sehr gespannt, die junge Dame kennenzulernen, die meinem Sohn die Tränen in die Augen treibt.«

Er lachte. »Ich weine wirklich nicht Mutter.«

»Aber du bist nahe dran«, dichtete sie ihm an.

»Vor Freude weinen werde ich, wenn ich sie wiedergefunden habe«, erklärte Sedrik entschlossen. »Und glaube mir, ich werde sie finden.«

***

Nala spähte aus dem notdürftig geflickten Fenster. Viel ließ sich durch die schmierigen Glasbruchstück nicht erkennen. Aber es reichte aus, um zu sehen, wie hoch der Mond am Himmel stand.

Sie sah zur Feuerstelle. Das Reh lag dort, zusammengerollt wie ein müder Hund, und atmete flach und tief. Sie selbst bekam kein Auge zu. Wie lange sie als Eule den nächtlichen Himmel durchstreift hatte, wusste sie nicht. Sie hatte kaum Erinnerungen an diese Zeit.

Wenn Dale nicht gewesen wäre, wenn seine menschliche Gestalt nicht alle Gefühle und Erinnerungen an ihr wahres Ich wachgerufen hätte, wäre sie wohl verloren gewesen. Dann hätte sie sich selbst nie wiedergefunden, hätte sich in dem wilden Tier verloren, zu dem sie geworden war und damit auch jede Fähigkeit, sich zurückzuverwandeln.

Sie verstand nun, was mit Dale in den letzten Wochen geschehen war – verstand, was die Hexe aus ihm gemacht hatte. Sicher wäre auch er letztendlich ganz zu dem Reh geworden, wenn er nicht bei ihr geblieben wäre.

Dale regte sich im Schlaf. Ein kurzer Seitenblick aus dem Fenster verriet Nala, dass es jeden Moment so weit sein musste. Sie zog seinen Umhang von ihrem Bett und deckte ihn damit zu. Schon im nächsten Augenblick reckte er sich, bäumte sich erschrocken auf und rutschte unbeholfen mit den Hufen über den glatten Holzboden. Der flackernde Schein des Feuers ließ seine Gestalt unstet und formlos wirken. Schatten huschten ihm über das rotbraune Fell, das allmählich verblasste.

Nala konnte sehen, wie die Hufe des Tieres sich in die Länge streckten, sich teilten und Finger formten, die sich verkrampften und über das staubige Holz, auf dem zuvor noch die Hufe abgerutscht waren, kratzten.

Dales Atem ging stoßartig. Sie legte ihm den heruntergerutschten Umhang wieder um die Schultern und umschlang ihn mit den Armen, während er benommen seine Hände betrachtete.

»Alles gut«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Du bist wieder zurück.«

»Für … für wie lange?«, wollte er wissen.

Nala löste sich von ihm und senkte den Blick.

»Eine Stunde …«

Er zog den Umhang enger um seinen Körper und atmete tief durch.

»Ich erinnere mich … an dich … auf der Lichtung. Wann war das?«

»Gestern«, antwortete sie schlicht.

Dale vergrub seine Finger in seinem dichten, dunklen Haar.

»Eine Stunde also.« Er sah sich um und blieb am Anblick des knisternden Feuers hängen. »Wie lange geht das schon so? Ich erinnere mich an den Bach, aus dem ich getrunken habe. Wir waren auf der Flucht, die Hexe uns auf den Fersen. Im nächsten Moment war ich im Wald … es fiel Schnee.« Er sah sie mit trübem Blick an. »Es war Sommer, an dem Tag, als ich von dem Wasser trank.«

Nala zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen. Natürlich konnte er sich an seine Zeit als Reh und die beschwerlichen Monate im Wald nicht mehr erinnern.

»Die Hexe hat dich mit einem Fluch belegt und dich in ein Reh verwandelt. Über ein halbes Jahr ist das jetzt her.«

Ungläubig betrachtete Dale wieder seine Hände.

»Ein Reh?«, fragte er mehr an sich selbst als an Nala gerichtet.

Nala lächelte verstohlen.

»Ein ganz besonders süßes«, neckte sie ihn.

Dale schürzte die Lippen, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen.

»Süß?«, hakte er nach. »Rehe sind edle, anmutige Geschöpfe. Die Könige des Waldes!«

»Ja und du bist zum Knuddeln! Mit deinem süßen, kleinen Pummelschwänzchen und den großen Kulleraugen.«

»Schon gut, ich habe es verstanden«, unterbrach er sie leicht gereizt, aber immer noch schmunzelnd.

»Und erst dein Geweih! Kaum größer als deine Öhrchen.« Sie zeigte mit den Fingern die Größe an und untertrieb absichtlich ein wenig. Dale schnappte nach Luft.

»Etwas größer wird es doch wohl sein!«, knurrte er.

Nala hob die Brauen und schob die Hände noch ein Stück näher zusammen.

»Ach komm schon!« Er schlug nach ihren Fingern, sie zog sie aber weg, so dass er nach vorne fiel und sich mit den Händen abfangen musste.

»Na warte!« Er schlang sich den Umhang um die Hüfte und knotete ihn zusammen, dann stürzte er sich auf Nala und kitzelte sie, bis ihr vor Lachen die Tränen kamen.

»Aufhören!«, bettelte sie im Lachen erstickt. »Aufhören!«

»Erst, wenn du zugibst, dass ich der König des Waldes bin!«

»Niemals!« Sie versuchte Dale wegzustoßen, kniff ihm in die Seiten und schlug ihm gegen die Arme. Er dachte aber nicht daran aufzuhören sie zu kitzeln, bis sie japste vor Lachen.

Mit Freudentränen in den Augen sah sie zu ihm auf und erschrak über die versteckte Traurigkeit, die in seinen Zügen lag. Sein aufgesetztes Grinsen konnte das kaum verbergen. Zumindest nicht vor ihr, die seine Schwester war und ihn besser kannte als irgendjemand sonst.

»Okay, okay«, lenkte sie ein und schob ihn endgültig von sich weg. »Du hast gewonnen, du bist der Herr des Waldes.«

»Geht doch!« Er raufte ihr durchs Haar und ließ sich dann schwer neben sie auf den Boden sacken.

Beide starrten sie einen Moment lang schweigend ins Feuer, bis Dale seinen Arm um sie legte und sie an sich heranzog.

»Es steht dir einfach viel besser, wenn du lachst«, flüsterte er ihr zu.

Dabei war sie es doch, die ihn hatte aufheitern wollen. Ihr ging es gut – soweit es einem verlassen im Wald und auf sich alleine gestellt gut gehen konnte – während er unter diesem unsäglichen Fluch litt. Er hatte es viel nötiger wieder zu lächeln, wo er es doch so lange Zeit nicht mehr hatte tun können.

»Was würde ich nur ohne dich tun?«, seufzte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter.

»Ohne den König des Waldes?«

Sie schmunzelte.

Dale sah zum Fenster und atmete tief durch. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

»Dann erzähl mal. Was ist alles passiert?«

Also begann sie zu berichten. Sie erzählte von dem Dorf, aus dem sie vertrieben worden war wie ein Streuner, davon, wie sie die Lichtung gefunden hatten und schließlich von ihrem gescheiterten Versuch, den Fluch zu brechen.

»Also ist aus meiner kleinen Schwester eine richtige Zauberin geworden.« Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich wünschte, ich hätte dir schon früher sagen können, wie stolz ich auf dich bin.«

»So toll war das nicht. Immerhin habe ich am Ende doch versagt und musste fliehen. Wir würden jetzt auch nicht hier so unbehelligt sitzen können, wenn ich nicht mehr Glück als Verstand gehabt hätte. Die Hexe hält mich für tot und ohne dich wäre ich das auch. Wenn du nicht zu einem Menschen geworden wärst und mir damit den Weg gewiesen hättest, wäre von mir nur die Eule geblieben.«

»Dass ich wieder zum Menschen werden kann habe ich alleine dir zu verdanken. Und du hast wirklich eine Stunde deiner Erinnerung geopfert?«, fragte er nach. »Welche ist es denn?«

»Du bist lustig!« Sie stieß ihn in die Seite. »Das weiß ich doch nicht. Ich kann mich ja schließlich nicht daran erinnern. Außerdem musst du nicht gleich untertreiben. Ich habe eine Stunde für den Zauber verbraucht, aber alle vierundzwanzig verloren. Da kannst du mir ruhig dankbar sein!« Sie lächelte ihn frech an und er erwiderte das auf herzliche Weise, aber ohne dass dieser Anflug von tiefer Trauer verloren ging, der seine Augen trübte. Nala hob die Schultern und ließ sie tief sinken. »Aber … aber das ist nicht schlimm. Es sind nur ein paar Stunden. Du kannst dich an ein halbes Jahr nicht mehr erinnern!«

Wieder sah er zum Fenster. Die Zeit verstrich viel zu schnell.

»Du hast mir eine Stunde geschenkt.«

»Nur eine Stunde«, verbesserte sie ihn. Sie setzte sich auf und sah ihn entschlossen an. »Aber das ist nicht für lange! Ich werde den Zauber wiederholen und diesmal werde ich es schaffen! Ich breche diesen verdammten Fluch.«

Dale schüttelte den Kopf.

»Das wirst du nicht.«

»Doch!«, beharrte sie. »Ich kann und ich werde.«

Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihre Haltung sich verkrampfte. In diese eine Sache wollte sie sich nicht reinreden lassen. Ihr reichte die wenige Zeit nicht, die sie mit ihm hatte und ihm sah sie doch an, wie sehr er darunter litt, die Minuten zählen zu müssen.

»Es ist viel zu gefährlich«, erklärte er. »Sie hat dich aufgespürt, weil du gezaubert hast, sie wird dich wiederfinden, wenn du es noch einmal versuchst.«

»Aber sie hält mich für tot!«, widersprach Nala energisch. Sie wollte sich von ihm nicht verbieten lassen, ihm zu helfen. Er tat jetzt tapfer, aber sie sah doch, was hinter dieser Fassade war. Er war dazu verflucht, sein Leben als Tier zu fristen und diese eine Stunde, die ihm gewährt war, sorgte doch nur dafür, dass er schmerzlich daran erinnert wurde, was er verloren hatte.

»Eben. Sie hält dich für tot und das soll auch so bleiben. Versprich es mir!«

»Nein!«, schrie sie ihn an. Wut kochte in ihr hoch. »Ich kann das! Ich kann den Fluch brechen!«

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als er eindringlich auf sie einredete. »Das glaube ich dir, aber damit hat das nichts zu tun. Ich will nicht, dass du dein Leben riskierst.«

»Und ich will nicht, dass du auf dein Leben verzichtest«, entgegnete sie.

Er presste die Lippen zu einem schmalen Schlitz zusammen.

»Aber ich habe doch dich«, sagte er. »Das ist alles, was für mich zählt. Dich will ich nicht verlieren und dafür opfere ich gerne ein paar Stunden am Tag.«

»Du … du kannst nicht einmal die Sonne durch deine eigenen Augen sehen«, widersprach sie. »Das ist nicht richtig und ich kann damit nicht leben.«

Dale sah sie wieder an, durch diese Augen, die so traurig geworden waren, wie sie es von ihm nicht kannte.

»Du bist meine Sonne, Schwesterchen.«

Nala wandte sich von ihm ab. Sie hasste ihn dafür, dass er so selbstlos war und bereitwillig alles aufgab, um sie zu schützen. Sie hasste ihn, weil er sie dazu zwingen wollte, ihr Versprechen zu geben. Aber vor allem hasste sie sich, weil ihr nicht einfiel, wie sie ihm noch hätte widersprechen können.

»Wie … wie soll ich damit leben können?«, fragte sie ihn mit zittriger Stimme.

Dale schnappte nach Luft und hielt sie an. Sie sah zu ihm auf und erkannte sofort, dass die Stunde sich dem Ende entgegen neigte. Er war drauf und dran sich zu verwandeln – und er kämpfte dagegen an.

»Wie soll ich weiterleben, wenn du nicht mehr bist?«, presste er hervor. Er zwang sich zu lächeln. »Du weißt nicht, wie es in den letzten Tagen war, immer an anderen Orten aufzuwachen, nicht zu wissen, was geschehen ist.« Er krümmte sich. »Versprich es!«

Nala schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht!«

»Nala, bitte!« Dale schlug mit den flachen Handflächen auf den Boden, so dass Nala erschrocken zusammenfuhr. Zögerlich legte sie die Hand auf die seine.

»Ich will dir helfen«, hauchte sie.

»Dann sei nicht so egoistisch und schwör mir, schwör mir beim Leben …« Er brach ab.

In Nalas Hals bildete sich ein Kloß. Sie wusste, was er hatte sagen wollen. Es reichte ihm nicht aus, sie als Egoistin hinzustellen. Nein, er musste auch noch ihren Vater mit ins Spiel bringen. Ein stärkeres Argument gab es wohl nicht, weil es sie schmerzlich daran erinnerte, dass es nur noch sie beide gab – dass sie sonst niemanden mehr hatten.

»… beim Grab unseres Vaters«, verbesserte Dale sich. »Schwör mir, dass du nicht versuchen wirst den Fluch zu brechen.«

»Dale …« Sie biss sich auf die Lippe. Wenn sie jetzt zustimmen würde, dann war das hier ihr Leben. Dann würde sie bis ans Ende ihrer Tage versteckt vor der Hexe im Wald hausen. War sie jetzt schon bereit, alle Hoffnung aufzugeben? Aber was blieb ihr anderes, als seinem Willen nachzugeben? Schließlich opferte er weitaus mehr für sie.

»Ich schwöre es!« Sie wusste nicht, ob er sie noch hatte hören können, denn schon im nächsten Moment sah sie in große, runde Rehaugen – Augen, in denen eine Art verlorene Traurigkeit schimmerte, aber auch eine Vertrautheit, die Nala Trost spendete.

 

Vergessen

Vignette

Sedrik wagte sich einen Schritt vor und trat dabei ausgerechnet auf einen trockenen Ast. Das laute Knacksen trieb einen Schwarm Vögel aus dem Geäst über ihm. Flatternd und kreischend stoben sie in alle Richtungen davon.

In seinem Rücken prusteten seine Jagdbegleiter. Hier draußen im Wald waren sie alle gleich und keiner von ihnen vor Spott gefeit. Besonders dann nicht, wenn er sich so tollpatschig anstellte und auch nicht, wenn er der Kronprinz war.

Die zwei jungen Adligen, die sich selten mal so ungeschickt angestellt hatten wie Sedrik heute, krümmten sich und bissen sich auf die Fäuste, um nicht zu laut aufzujaulen vor Lachen.

Der eine von ihnen, der Sohn des Großherzogs von Winhaber, zückte seine Armbrust und zielte auf das Rotwild, an das Sedrik sich herangeschlichen hatte.

Sedrik hob die Hand und gebot ihm, es bleibenzulassen. Dieser Bock gehörte ihm. Vor allem jetzt, nachdem nicht einmal sein Missgeschick das Tier hatte verscheuchen können.

Nachdem er die letzten Wochen auf der Suche nach Nala ganz Dornwall auf den Kopf gestellt hatte, war dieser Ausflug in die eigenen Jagdgründe eine willkommene Abwechslung. Es war die beste Idee, die sein Kammerdiener Franzis seit langem gehabt hatte, und auch höchste Zeit, denn Sedrik war so lange nicht mehr auf der Jagd gewesen, dass er schon die einfachsten Grundregeln nicht mehr beherrschte.

Eine davon war, um Himmels willen nicht auf trockenes Geäst zu treten.

Sedrik schob den Bolzen seiner Armbrust durch das Gebüsch und bog ein paar Äste beiseite. Der Bock schaute auf. Ein prächtiges Tier war es. Fuchsrot, mit kräftigen Flanken, wachen Augen und einem geradlinigen Rücken. Seine gut definierten Muskeln spannten sich sichtbar über die strammen Schenkel, zuckten leicht, während sein schmaler, graziler Hals sich reckte und das Tier Sedrik mit einem Mal direkt ansah.

Sedrik hielt den Atem an. Hatte der Bock ihn nicht entdeckt? Doch, er musste ihn sehen können und dennoch floh das Tier nicht.

Sedrik war wie versteinert. Diese dunklen, im seichten Tageslicht glitzernden Augen weckten eine Sehnsucht in ihm, die er kaum greifen konnte. Ihm war, als könne er darin etwas lesen. Nur was? Was hatte dieses Reh an sich, das ihn so faszinierte? Warum floh es nicht im Angesicht eines Menschen?

»Schießt!«, rief jemand hinter ihm.

Die Stimme verscheuchte das Tier nun doch.

»Schießt doch!«

Sedrik sprang auf und schoss ohne nachzudenken.

»Ach verdammt!«, fluchte er.

»Ihr zögert zu lange«, erklärte Fürst Darson.

Sedrik verdrehte die Augen. Wenn der Fürst geschwiegen hätte, wäre das Reh gar nicht erst geflüchtet. Sedrik kämpfte sich durch die Hecke und sah ihm nach.

»Ein schönes Tier war das«, meinte der Sohn des Großherzogs, an dessen Namen sich Sedrik beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte.

Ein schönes Tier war untertrieben. Lange schon hatte er keinen so stattlichen Rehbock mehr gesehen. Andererseits war er auch lange schon nicht mehr auf der Jagd gewesen.

»Ich bin aus der Übung«, entschuldigte er sein Versagen. Der Mann klopfte ihm auf die Schulter.

»Das habt Ihr schnell wieder inne. Es liegt Euch im Blut.«

Damit gab der Mann ein gutes Stichwort. Sedriks Blick fiel auf einen abgeknickten Ast, an dessen Blättern Blut klebte. Das fehlte gerade noch.

»Ich habe ihn erwischt«, seufzte er.

Er musste ihm folgen und das Tier erlösen. Es leiden zu lassen wäre unverantwortlich.

»Lasst uns zurück zu den anderen gehen« mischte Fürst Darson sich ein. »Wir setzen die Hunde auf die Fährte an.«

Sedrik schüttelte den Kopf.

»Nein, das erledige ich selbst.« Er war schließlich nicht auf die Jagd gegangen, um sich am Lagerfeuer die Zeit zu vertreiben und den Hunden die Arbeit zu überlassen. Auf andere Gedanken wollte er kommen und das gelang doch am besten, wenn man eine gut sichtbare Spur verfolgte und dabei die Ruhe des Waldes genoss.

»Gut, dann packen wir es an«, meinte Darson.

»Nein, ich gehe alleine. Ich kann das gut gebrauchen, um den Kopf frei zu kriegen. Geht Ihr zurück zum Lager.«

»Seid Ihr Euch sicher, Hoheit?«, fragte der Sohn des Großherzogs. »Ihr solltet nicht alleine losziehen. Diese Wälder können tückisch sein.«

»Ich kenne diesen Jagdgrund besser, als Ihr glaubt. Und jetzt geht zurück zum Lager. Diese Spur hier verfolge ich auch im Schlaf. Bis zur Dämmerung bin ich zurück.«

***

Nala warf Dales Hemd über die Wäscheleine. Es war noch früh am Morgen und Nebel lag am Rand der Lichtung. Die Sonne ließ aber nicht mehr lange auf sich warten und so würden seine Kleider bis zum Abend trocken sein.

Er hatte ja nur die eine Stunde in der Nacht. Da sollte er zumindest saubere Kleidung, etwas Warmes zu essen und ein prasselndes Feuer vorfinden. Wobei sich gerade das mit dem Essen schwierig darstellte. Die spärlichen Vorräte, die Nala für den Winter angelegt hatte, waren beinahe schon aufgebraucht und der Wald gab zu dieser Jahreszeit nicht mehr viel her. Ihre Fallen waren oft leer und Beeren gab es auch keine mehr, die sie hätte sammeln können. Auch was sie jetzt noch an Nüssen fand, war oft wurmstichig und faul.

Dale sollte davon aber nichts wissen. Irgendwie würde sie schon über die Runden kommen. Schließlich war sie eine Hexe und die neigten ja bekanntermaßen dazu, in abgelegenen Hütten im Wald zu hausen. Nala fehlten nur noch der Buckel und die Warze auf der Nase, dann könnte sie Wasser in Gläser abfüllen und als Zaubertrank an gutgläubige Dorftrottel verkaufen. Wenn sie recht überlegte, fehlten ihr dazu aber auch die Gläser.

Sie schmunzelte bei diesem Gedanken.

Ein Rascheln im Dickicht ließ sie aufhorchen. Nala sah sich um und erkannte die Silhouette eines Rehs im Nebel. Dale war zurück. Aber so früh schon? Normalerweise trieb er sich doch bis zum Mittag oder länger in den Wäldern herum.

Sie trat hinter der Wäscheleine hervor und ihr Herz machte einen Satz. Dale humpelte mit gesenktem Kopf auf sie zu. Seinen Vorderlauf entlastete er dabei stark. Ein Bolzen ragte ihm aus der Schulter und Blut färbte sein Fell dunkel, lief ihm das Bein hinunter, bis hin zu seinem Huf, der bei jedem seiner Schritte halbmondförmige rote Abdrücke auf dem Moos hinterließ.

Schwerfällig schwankend schleppte er sich voran und Nala war sofort bei ihm, um ihn aufzuhalten.

Ein Wunder, dass er es bis hierher geschafft hatte. Und sein Glück, dass er noch lebte. Jeder halbwegs geschickte Jäger zielte auf das Herz seiner Beute, um es sofort zu töten. Sie wollte gar nicht wissen, welchem Trottel Dale vor die Armbrust gelaufen war.

Nala ließ sich vor ihm auf die Knie fallen und Dale lehnte sich gegen ihren Oberkörper, um das verletzte Bein heben zu können.

Sie hätte geglaubt, von Panik übermannt zu werden, doch Nala blieb ganz ruhig. Zwar raste ihr Herz und ihre Hand zitterte, als sie sich vorsichtig an den Bolzen herantastete, der dem Reh aus dem Fleisch ragte, aber Angst hatte sie keine.

Schließlich war sie eine Hexe und würde nicht zulassen, dass er starb. Sie konnte ihn heilen.

Bei diesem Gedanken schnürte sich ihr nun doch die Brust zu. Konnte sie es denn wirklich? Konnte sie es riskieren? Was, wenn ein Heilzauber schon genügte, um die Komtesse auf sich aufmerksam zu machen?

Erst einmal musste sie versuchen, seine Wunde ohne Magie zu versorgen. Das wäre das Sicherste.

»Alles wird gut«, sprach sie mit zittriger Stimme. »Das kriegen wir schon wieder hin.«

Dale sackte in sich zusammen. Er hatte viel Blut verloren, hatte sich Gott weiß wie weit durch den Wald geschleppt und war nun am Ende seiner Kräfte. Er schnaufte rasselnd durch die Nüstern, hatte die Augen halb geschlossen und seine Lider flatterten aufgebracht.

Nala biss sich auf die Lippe. Es nutzte ihm jetzt nichts, wenn sie doch noch in Panik geriet. Sie atmete tief durch und schluckte schwer, als Tränen sich in ihren Augen sammelten.

Erst einmal musste sie den Bolzen aus der Wunde ziehen. Oder … oder erst die Blutung stoppen? Sie hatte keine Ahnung. Ihre Hände flogen über den bebenden Körper des Rehs, nicht wissend, was sie zu tun hatten.

Erst die Blutung stoppen. Diese Entscheidung traf sie kurzerhand und sah sich hektisch um.

»Ich … ich hole nur etwas, um die Wunde zu verbinden …«, murmelte sie, mit dem Blick an Dales triefnasser Kleidung hängend.

»Nala?«

Sie wirbelte herum. Am Rand der Lichtung, noch halb im Nebel stehend, war ein Mann zu sehen, ein Jäger.

»Ihr«, krächzte sie.