»Juhu! Alles in trockenen Tüchern!« Am liebsten hätte Andreas Wagner auf dem Berliner Ku’damm einen Luftsprung gemacht.
Soeben hatte sein Chef Peter Bellmann, Inhaber der Firma ›Bellmann-Startups‹, ihn zum Abteilungsleiter befördert. Was mit einer satten Gehaltserhöhung und weiteren Firmenanteilen verbunden war. Und außerdem hatte Peter Bellmann angedeutet, ihn als seinen Nachfolger in die engere Wahl zu ziehen. Wenn das kein Sprung nach oben auf der Karriereleiter war!
Mit einer großspurigen Geste zückte Andreas seinen Autoschlüssel und entriegelte die Türen seines nagelneuen knallroten Sportwagens.
Nun hatte er Lust, sich ins aufregende Berliner Nachtleben zu stürzen und seinen Erfolg zu feiern. Zusammen mit Kim, einer super attraktiven Blondine, die bereits im angesagtesten Gourmetrestaurant der Stadt auf ihn wartete.
Dort würden sie nobel dinieren und anschließend würden sie in seinem Penthouse-Apartments landen, um noch ein oder zwei Gläser Champagner zu leeren, ehe sie …
Das Klingeln seines Handys riss Andreas Wagner unsanft aus seinen Träumen.
Verflixt! Das konnte nur Kim sein! Er hatte vollkommen vergessen, wie spät es war.
Bestimmt saß sie schon eine ganze Weile allein an dem reservierten Tisch und wartete. Und war stocksauer auf ihn, weil er wieder einmal unpünktlich war.
Andreas seufzte. Er würde sich entschuldigen müssen. Und diese Entschuldigung würde ihn einiges kosten. Beim letzten Mal waren es ein Paar sündhaft teure Ohrringe gewesen. Und diesmal … Ach, egal! Zum Glück hatte er Geld genug, um Kims Wünsche zu erfüllen.
Ohne einen Blick auf das Display seines Handys zu werfen, drückte Andreas die Annehmen-Taste.
»Hallo, Kim. Bitte Schatz, sei mir nicht böse. Es tut mir leid, dass du warten musstest. Aber die Besprechung mit Peter Bellmann hat heute ein bisschen länger gedauert. Dafür habe ich großartige Neuigkeiten für dich. Ich habe …
»Herr Wagner? Ich spreche doch mit Andreas Wagner? Bitte entschuldigen Sie, aber ich …«
Andreas konnte das Schmunzeln des Mannes am anderen Ende der Leitung förmlich hören.
»Ich bin nicht … Ihre Frau. Ich bin … Sebastian Trenker, aus St. Johann. Sie erinnern sich doch sicher noch an mich.«
Andreas schnappte nach Luft. Der gute Hirte von St. Johann! Das … das … Nein, das konnte nicht sein. Das war unmöglich!
Erlaubte sich irgendeiner seiner Kollegen einen dummen Scherz, indem er den Bergpfarrer spielte? Aber wer? Keiner seiner Kollegen und absolut niemand aus seinem Bekannten- und Freundeskreis hatte auch nur die leiseste Ahnung, dass er aus St. Johann stammte. Und von Sebastian Trenker wusste hier in Berlin erst recht keine Menschenseele. Wenn der Anrufer also tatsächlich der Bergpfarrer war …
»Ich … ich spreche wirklich mit … mit Sebastian Trenker?«, vergewisserte Andreas sich.
»Selbstverständlich. Ich bin Pfarrer Trenker aus St. Johann«, wiederholte der Bergpfarrer geduldig.
Das Gedankenkarussell in Andreas’ Kopf drehte sich schnell und schneller. Wie war Pfarrer Trenker an seine Telefonnummer gekommen? Woher wusste der Bergpfarrer überhaupt, dass er in Berlin war? Hatte er Nachforschungen angestellt? Vielleicht gar einen Privatdetektiv auf ihn angesetzt? Und warum? Was konnte der Geistliche von ihm wollen? Nach mehr als zehn Jahren? Wieso ließ er ihn nicht einfach zufrieden - wie bisher?
Andreas spürte, wie in ihm die alten Gefühle hoch kochten. St. Johann, sein Vater und der Wagnerhof, Pfarrer Trenker … sie konnten ihm gestohlen bleiben! Alle miteinander! Er hatte mit seiner Vergangenheit abgeschlossen und sich ein ganz anderes Leben aufgebaut, er …
»Hallo, Herr Wagner? Sind Sie noch am Apparat?«
»Natürlich«, gab Andreas unwirsch zurück. »Allerdings habe ich nicht viel Zeit. Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen oder müssen, schicken Sie mir am besten eine SMS.«
»Eine SMS?« Sebastian schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Wagner. Das kann ich nicht und das will ich auch nicht. Was ich zu sagen habe … ist auch nicht … « Sebastian holte tief Luft, bevor er erneut ansetzte. »Herr Wagner, ich bedaure sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Vater verstorben ist.« Selbstverständlich hatte der Bergpfarrer Andreas Wagner nicht so abrupt mit der schlimmen Nachricht konfrontieren wollen, aber was für eine Wahl hatte Andreas ihm schon gelassen? »Ein schwerer Herzinfarkt, Herr Wagner. Der Tod kam plötzlich. Wenigstens hat Ihr Vater nicht gelitten.«
Andreas schluckte. Sein Vater – tot? Mit knapp sechzig Jahren? Das war doch in der heutigen Zeit kein Alter, das war … In seiner Magengrube breitete sich ein flaues Gefühl aus. Gleichzeitig begannen seine Knie zu zittern, sodass er sich auf die Motorhaube seines Sportwagens setzen musste.
Vor seinem geistigen Auge tauchte die hagere, aber kräftige Gestalt seines Vaters Lenz auf. Seine schwieligen, abgearbeiteten Bauernhände, sein immer ein wenig verkniffener, in einem struppigen Vollbart versteckter Mund, seine von zahllosen Falten umrahmten Augen.
Gleichzeitig fiel Andreas der Tag ein, an dem er, ein Kind noch, beim Spielen in den Löschweiher des Wagnerhofs gefallen war. In Todesangst hatte er um sich geschlagen und jede Menge Wasser geschluckt. Wahrscheinlich wäre er ertrunken, wenn nicht wie aus dem Nichts sein Vater aufgetaucht wäre. Als hätte er die Gefahr gespürt, in der sein Sohn sich befand. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, war sein Vater ins Wasser gesprungen und hatte Andreas an Land gezogen. Auf seinen Armen hatte er ihn ins Haus getragen, ihn sanft abgerubbelt, ihm trockene Kleider angezogen und ihn mit liebevollen Worten getröstet, als er nach dem ausgestandenen Schrecken gar nicht mehr hatte aufhören können zu weinen.
Auch jetzt spürte Andreas ein seltsames Würgen im Hals. Und ein Brennen in den Augen, das er sonst nur als Folge nächtelanger Arbeit am Computer kannte.
Doch schon im nächsten Moment schob sich ein anderes Bild in den Vordergrund: sein Vater Lenz, wie er ihn als faul abkanzelte und ihm mit zorniger Stimme befahl, endlich die Stallarbeit zu erledigen. Ganz deutlich sah Andreas das wutverzerrte Gesicht vor sich. Er, ein Siebzehnjähriger mit Träumen von der großen Welt, von Erfolg und Reichtum, hatte sich geweigert. Er hatte seinem Vater erklärt, dass er es bei ihm auf dem Wagnerhof nicht mehr aushalte und noch am Tag seiner Volljährigkeit fortgehen und nie wieder zurückkehren würde.
Die beiden kräftigen Ohrfeigen, die Andreas für diese Worte hatte einstecken müssen, hatten nicht nur körperlich weh getan. Sie hatten sich tief in seine Seele eingebrannt.
Andreas umfasste sein Handy so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Und nun möchten Sie, dass ich meinem Vater die letzte Ehre erweise, Herr Pfarrer?«, erkundigte er sich kühl.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen.
»Nein, Herr Wagner. Das heißt, ja, ich hätt’ es natürlich gern gesehen, wenn Sie bei Lenz Wagners Beerdigung dabei gewesen wären. Nur konnte ich Sie leider net rechtzeitig aufspüren. Ich bitte Sie aber trotzdem ganz herzlich, so bald wie möglich nach St. Johann zu kommen. Um mit mir zusammen …«
»Das Grab zu besuchen?« Andreas schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Pfarrer. Ich wüsste nicht, wem das nützen sollte. Ich werde aber meinen Anwalt beauftragen, sich um den Nachlass meines Vaters und alle weiteren Formalitäten zu kümmern, damit Sie sich damit nicht zu belasten brauchen.«
»Danke, Herr Wagner. Das ist sehr zuvorkommend von Ihnen«, erwiderte Sebastian. »Trotzdem kann ich nur, wenn Sie selbst nach St. Johann kommen …«
Andreas schnaubte ärgerlich. Hartnäckig war der Bergpfarrer schon immer gewesen. Aber diese Beharrlichkeit ging ihm auf die Nerven. »Hören Sie, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass es nach all den Jahren irgendetwas in St. Johann geben könnte, was nur ich persönlich regeln kann.«
»Und doch ist es so«, gab der Bergpfarrer zurück. »Bitte, Herr Wagner, statten Sie St. Johann und mir wenigstens einen kurzen Wochenendbesuch ab. Ich wäre Ihnen unendlich dankbar. Ihre Frau können Sie gerne mitbringen. Vielleicht freut sie sich ja, Ihre Heimat kennen zu lernen.«
Auf Andreas Wagners Lippen trat ein süffisantes Grinsen. »Kim? Kim ist nicht meine Frau. Ich bin nicht verheiratet, Herr Pfarrer. Und es ist auch keine Hochzeit geplant. Kim und ich führen eine offene Beziehung ohne Trauschein.« Halb gespannt und halb amüsiert wartete Andreas auf die Reaktion des Bergpfarrers. Würde Sebastian ihm eine Moralpredigt halten?
Pfarrer Trenkers scheinbar gleichgültiges Schweigen enttäuschte Andreas mehr, als er sich eingestehen wollte.
»Und … und was meinen Besuch in St. Johann betrifft«, redete er schließlich weiter, »sollten Sie mir vorab wenigstens sagen, was genau Sie von mir wollen. Eine Fahrt ins Blaue bis ans andere Ende Deutschlands ist ein bisschen viel verlangt. Finden Sie nicht?«
Der Bergpfarrer seufzte. »Bitte glauben Sie mir, Herr Wagner, ich würde Sie nicht behelligen, wenn ich es für vermeidbar hielte.«
Andreas seufzte. Sebastian Trenker würde nicht ruhen, bis er bekam, was er wollte. Am Ende würde der Geistliche vielleicht sogar höchstpersönlich nach Berlin reisen, um ihn abzuholen. Da war es wohl besser, den unseligen Trip nach St. Johann so bald wie möglich hinter sich zu bringen.
»Gut«, lenkte er ziemlich unwillig ein. »Weil Sie es sind, Herr Pfarrer. Ich fahre kommenden Samstag ins Wachnertal. Im Lauf des Nachmittags könnte ich bei Ihnen im Pfarrhaus sein.«
*
Es war noch fast dunkel. Der Himmel war so grau wie der Asphalt der Autobahn und schien in der Ferne mit ihm zu verschmelzen.
Andreas gähnte, er war hundemüde und hatte Kopfschmerzen. Missmutig schaltete er das Autoradio ein, um in dieser frühen Morgenstunde wenigstens halbwegs auf Touren zu kommen. Ein paar Informationen, ein bisschen flotte Musik …
»Mein Herz, es schlägt fürs Wachnertal, es schlägt für St. Johann …«, tönte es im selben Augenblick aus der Stereoanlage seines Wagens, dass Andreas erschrocken zusammenzuckte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet die ›Wachnertaler Buam!‹ Er musste versehentlich einen süddeutschen Sender erwischt haben. Und diese Truppe hatte es mittlerweile anscheinend bis in den Rundfunk geschafft.
Andreas schmunzelte in sich hinein. Damals in St. Johann hatte er eigentlich recht gerne nach der Musik der Wachnertaler Buam getanzt. Vor allem mit Susi Waldner aus Engelsbach, die er hin und wieder zum samstäglichen Tanzvergnügen in den »Löwen« eingeladen hatte. Natürlich gegen den Willen seines Vaters, der vom Tanzen überhaupt nichts gehalten hatte. Und von Susi Waldner noch weniger.
Sein Vater hatte Susi nämlich nicht leiden mögen, weil sie mit dem Bauernleben nichts am Hut gehabt hatte. Ihr Traum war es, so schnell wie möglich aus St. Johann und dem Wachnertal fortzukommen. Ein berühmtes Fotomodell hatte sie werden wollen, das in den Metropolen der Welt zu Hause war. Deshalb hatte sie ihren Vornamen auch nie Susi, sondern immer Suzie geschrieben …
Ohne es zu merken, summte Andreas den Ohrwurm der Wachnertaler Buam mit.
Ehrgeizig und attraktiv wie Susi war, hatte er ihr durchaus zugetraut, dass sie ihr Ziel erreichen würde. In seinen Anfängen in Berlin hatte er sich, wenn er an einem Kiosk vorbei gekommen war, immer nach den Titelblättern der großen Modezeitschriften umgesehen und Susis Bild gesucht, war aber nie fündig geworden.
Mit einem Knopfdruck brachte Andreas die ›Wachnertaler Buam‹ zum Schweigen. Dass er auf seiner Fahrt nach St. Johann sentimental wurde, Schlager hörte und an seine Jugendliebe Susi dachte, hatte ihm gerade noch gefehlt!
Da war es schon besser, den anderen Autofahrern zu zeigen, was sein schicker roter Sportwagen hergab.
Mit einem Zungenschnalzen setzte Andreas den Blinker und schwenkte auf die Überholspur. Was für ein Wahnsinnsgefühl! Er war der Überflieger, der sie alle besiegen konnte! Ausnahmslos alle! Er konnte alles erreichen, was er wollte! Alles! Zu dumm nur, dass er vor diesem verflixten Bergpfarrer eingeknickt war. Nur seinetwegen raste er jetzt in die falsche Richtung. Nach St. Johann. Wohin er im Grunde nie wieder zurückkehren wollte.