Titel

3Gerhard Roth

Über den Menschen

Suhrkamp

Widmung

7Für Ursula

9Vorwort

Das vorliegende Buch war bereits länger geplant und wurde aufgrund der plötzlich verfügbaren Zeit in den ersten sechs Monaten der Corona-Pandemie geschrieben. Es stellt eine Art Fortsetzung meines Buches Aus Sicht des Gehirns dar, das im Jahre 2003 im Suhrkamp Verlag erschienen ist. Die Kapitel des Buches behandeln zum Teil allgemeine Aspekte des Menschseins, es geht aber auch um klassische philosophische Fragen wie die nach der Natur des Bewusstseins und den möglichen Grenzen der Erkenntnis. All dies wird aus der Sicht der Neurowissenschaften und der empirisch-experimentellen Psychologie behandelt im Sinne eines »psychoneurowissenschaftlichen« Ansatzes, wie er umfassend in einem gerade erschienenen Lehrbuch dargestellt wird, an dem ich als Herausgeber und Autor beteiligt bin.

Über manche dieser Themen habe ich bereits verschiedentlich geschrieben, jedoch wurden einige dieser Texte teilweise als schwere Kost empfunden. Deshalb wollte ich dasjenige, was ich bisher zu den genannten Themen gesagt habe, und noch einiges Neue dazu, auf eine verständlichere Weise darstellen, und zwar ohne allzu großen terminologischen Ballast und ganz ohne Abbildungen und Fußnoten. (Wer Abbildungen heranziehen möchte, kann sie meinen Büchern Fühlen, Denken, Handeln und Aus Sicht des Gehirns entnehmen.) Auch ging es darum, in manchen Dingen eine inzwischen etwas veränderte Sichtweise zu erläutern. Wichtig war es mir dabei, den jeweiligen ideengeschichtlichen Kontext darzustellen, denn fast alle dabei auftauchenden Proble10me und angeblichen oder tatsächlichen Lösungen sind nur aus dem historischen Zusammenhang verständlich. Das gilt auch für eine so junge Disziplin wie die Neurowissenschaften, die in Wirklichkeit ihre tiefen ideengeschichtlichen Wurzeln hat.

Ich habe die Gelegenheit genutzt, mich kritisch mit Positionen auseinanderzusetzen, welche die Erkenntnisse der Hirnforschung als falsch oder gar gefährlich, zumindest jedenfalls als überzogen ansehen. Vieles an der vorgebrachten Kritik ist klug und bedenkenswert, anderes zeigt, dass von neurowissenschaftlichen Autoren, mich eingeschlossen, wichtige Zusammenhänge bisher nicht verständlich genug dargestellt wurden, und in einigen Fällen wird deutlich, dass den Kritikern die ganze Richtung nicht passt, weil sie für ihre Deutungshoheit als bedrohlich empfunden wird.

Die Beschäftigung mit dieser aus meiner Sicht teils berechtigten, teils unberechtigten Kritik war für mich auch eine Zeitreise zurück in meine Studienzeit und die ersten Jahre meiner Lehrtätigkeit im Fach Philosophie. Anfang und Mitte der 1960er Jahre war die Philosophie, mit der ich es zu tun hatte, beherrscht von dem »Viergestirn« Karl Marx, Sigmund Freud, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas, und für uns gab es nichts anderes als die – meist begeisterte – Auseinandersetzung mit diesen Autoren. Insofern nehme ich für mich in Anspruch, etwas von ihnen zu verstehen, wobei mich Marx und Freud noch viel länger beschäftigt haben, im Falle von Freud bis heute, während es mir Mühe bereitet hat, mich wieder mit dem Werk von Habermas vertraut zu machen, wenn ich von meinem Disput mit ihm zur Willensfreiheit vor einigen Jahren absehe. Später kam Konrad Lorenz hinzu, den ich anfangs ebenfalls mit Begeisterung las, bald aber als großen Konfabulator erkannte. Seine tiefbraune Vergangenheit war mir und den meisten Zeitgenossen damals nicht bekannt, er selbst hat sie stets geleugnet.

11Der Titel meines Buches wurde von dem berühmten, aber selten gelesenen Werk De homine, auf Französisch Traité de l'homme, des französischen Philosophen und Mathematikers René Descartes (1596-1650) übernommen. Dieses Werk erschien posthum, denn Descartes hatte, obwohl er im protestantischen Ausland (Niederlande, Schweden) lebte, berechtigte Angst vor der katholischen Inquisition und wagte es deshalb nicht, diese Schrift zu publizieren. Sie wurde vom Autor auf Französisch geschrieben, aber nicht vollendet, dann in holpriges Latein übersetzt und erst 1662 veröffentlicht, wenig später auch auf Französisch. Das Werk landete, wie von Descartes befürchtet, umgehend auf dem Index der katholischen Kirche, obwohl der Autor sich stets als frommen Christen betrachtete. Zum Glück gibt es heute keine heilige Inquisition mehr, und auch der Index verbotener Bücher wird in der katholischen Kirche seit einigen Jahrzehnten nicht mehr weitergeführt.

Descartes ging es um die zentrale Frage, wie man die zu seiner Zeit vorhandenen naturwissenschaftlichen, das heißt für ihn mechanistischen Erkenntnisse mit der damals herrschenden, noch sehr mittelalterlichen Theologie wie auch mit der in hohem Ansehen stehenden aristotelischen Philosophie vereinbaren und dabei dem Scheiterhaufen entgehen könne. Er versuchte sich sein Leben lang an der Lösung derjenigen Frage, die auch heute noch von vielen Philosophen und Wissenschaftlern als »unbeantwortbar« angesehen wird, nämlich wie die Beziehung von Geist und Gehirn beschaffen ist. Es ging ihm aber auch um eine Rechtfertigung der »Einzigartigkeit« des Menschen, die er mit dem Besitz eines rationalen Geistes und der Sprache verband. Die Leser meines Buches mögen beurteilen, ob wir inzwischen unter Beteiligung der Neurowissenschaften über Descartes und seine Philosophie hinausgegangen sind.

Danken möchte ich meiner Frau und Kollegin Prof. Dr. 12Ursula Dicke, die in Corona-Zeiten mit großer Sachkenntnis und Geduld die vorliegenden Texte kritisch gelesen hat. Voltaires Candide folgend, haben wir in dieser Zeit unsere beiden Gärten in Deutschland und in Italien bestellt. Außerdem danke ich meinem Bruder Dr. Jörn Roth (Psychologe und Mediziner), meinem Freund Georg Hoffmann (Psychologe) und unseren Freunden, den Psychotherapeuten Annette Goldschmitt-Helfrich und Werner Helfrich, für intensive und erkenntnisreiche Diskussionen über einige der Themen dieses Buches sowie meinem langjährigen Freund Prof. Dr. Herbert Striebeck für seine Anmerkungen zum achten Kapitel. Nachdrücklich danken möchte ich Eva Gilmer, der Leiterin des Wissenschaftslektorats im Suhrkamp Verlag, für die konstruktive und vertrauensvolle Zusammenarbeit, die nun schon fast zwei Jahrzehnte andauert. Mein Dank gilt darüber hinaus dem Philosophen Prof. Michael Pauen und dem Neurobiologen Prof. John Dylan Haynes sowie ganz summarisch denjenigen Psychologen, Psychiatern, Philosophen und Neurowissenschaftlern, mit denen ich in den vergangenen 20 Jahren die Frage nach der Beziehung zwischen den Neurowissenschaften und den Psychowissenschaften diskutiert habe, vor allem dem leider viel zu früh verstorbenen Psychiater und Psychotherapeuten Manfred Cierpka.

Lilienthal und Brancoli, im Oktober 2020

13Einleitung: Ein neues Menschenbild?

Seit rund zwei Jahrzehnten wird teils sachlich, teils polemisch die Frage diskutiert, ob die Erkenntnisse der Neurowissenschaften beziehungsweise der Hirnforschung zu einer Revision des in unserer Kultur vorherrschenden Menschenbildes zwingen. Diese Diskussion leidet allerdings unter der Tatsache, dass es in unserer Gesellschaft und Kultur gar kein allgemein akzeptiertes Menschenbild gibt, das durch die Neurowissenschaften »bedroht« sein könnte. Ich will mich daher an das Menschenbild halten, das die geistes- und sozialwissenschaftlichen Kritiker der Neurowissenschaften vertreten und das zumindest im akademischen Bereich immer noch das am weitesten verbreitete ist. Dieses Menschenbild geht von einem fundamentalen Gegensatz von Naturgesetzlichkeit und geschichtlicher Individualität, von Erklären und Verstehen, Gründen und Ursachen, Determinismus und Freiheit sowie von Objektivität und Subjektivität aus. Freilich gibt es auch nicht »das« Menschenbild der Neurowissenschaften. Die meisten Neurowissenschaftler befassen sich gar nicht mit dieser Frage, oder sie hüten sich davor, Stellung zu beziehen. Nur vergleichsweise wenige von ihnen tun dies, wie wir sehen werden, und sie vertreten dabei oft deutlich voneinander abweichende Meinungen.

Dieser Disput wurde ideengeschichtlich lange vorbereitet durch die Auseinandersetzung der kontinentaleuropäischen Philosophie mit der stürmischen Entwicklung der Technik und der Naturwissenschaften seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sowie der nicht mehr überhörbaren Forderung von 14Philosophen wie Auguste Comte (1798-1857), Wissenschaft müsse sich immer an empirischen Evidenzen ausrichten, also daran, wie die Dinge als solche und an und für sich sind. Einem solchen »Positivismus« versuchten Philosophen wie Edmund Husserl und Wilhelm Dilthey eine Philosophie als Wissenschaft entgegenzusetzen, die sich mit der Welt, wie sie »für uns Menschen« ist, befasst. Davon wird im nächsten Kapitel ausführlicher die Rede sein. Dies hat dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Ausformung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften und ihrer Abgrenzung von den Natur- und Biowissenschaften geführt.

Die universitären Natur- und Biowissenschaften auf der einen Seite und die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften auf der anderen Seite haben sich über lange Zeit mit dieser Trennung abgefunden, die ja das Gute hatte, einen »Streit der Fakultäten« um den Weg zu sicherer Erkenntnis zu unterbinden. Daran änderten die Revolutionen in der Physik in Form der speziellen und allgemeinen Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik ebenso wenig wie das Aufkommen der Molekularbiologie und Genetik in den Biowissenschaften. Selbst die großen Fortschritte in den Neurowissenschaften, wie sie etwa in der Neuroanatomie oder der Neurophysiologie im Laufe des 20. Jahrhunderts erzielt wurden, fanden weder in der Philosophie noch in den Sozialwissenschaften größere Beachtung, weil diese Erkenntnisse mit dem aus ihrer Sicht eigentlich Menschlichen vermeintlich nichts zu tun hatten. Renommierte Philosophen, bei denen ich studierte, äußerten sich abfällig über die »kindischen Versuche« von Naturwissenschaftlern, darunter nicht wenige Nobelpreisträger, ihre Erkenntnisse und Methoden philosophisch zu hinterfragen, es sei denn, es handelte sich um Physiker und Neurophysiologen, die etwa in der Quantenphysik eine Bestätigung der Existenz eines immateriellen Geistes und des freien Willens sahen.

15Diese Situation änderte sich grundlegend, als es vor rund 30 Jahren durch neue neuroanatomische und neurophysiologische Erkenntnisse und insbesondere durch die Entwicklung von Methoden wie der Vielkanal-Elektroenzephalographie und der sogenannten bildgebenden Verfahren (etwa der Positronen-Emissions-Tomographie, PET, oder der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, fMRI) gelang, nicht nur an Patienten, sondern auch am »normalen« Menschen ohne Öffnen des Schädels geistig-kognitive und später auch emotionale Vorgänge und Leistungen zu untersuchen (siehe dazu den Exkurs am Ende des ersten Kapitels). Plötzlich schien es möglich zu sein, der Arbeit des menschlichen Geistes und dem Wirken von Gefühlen und Motiven im Gehirn buchstäblich zuzuschauen. Die ersten, noch sehr groben PET- oder fMRI-Bilder waren eine Sensation, und man glaubte, jetzt sehen zu können, was im Gehirn einer Person geschieht, wenn sie ihre Aufmerksamkeit beispielsweise auf einen bestimmten Gegenstand im linken Gesichtsfeld richtet oder den Worten der Lehrerin oder Professorin konzentriert lauscht. Von einem Gedankenlesen, das heißt der Erfüllung eines alten Menschheitstraums, war das noch weit entfernt. Aber schnell verfeinerten sich die Methoden, und insbesondere konnten immer mehr neurophysiologische und neurochemische Erkenntnisse darüber gesammelt werden, wie die mit den genannten bildgebenden Methoden erfassten neuronalen Prozesse im Detail ablaufen. Zu untersuchen, ob das Geschehen im Gehirn bei sensorischen, kognitiven, emotionalen und motorischen Prozessen lückenlos deterministisch abläuft, oder ob sich Anzeichen für die Einwirkung des »bewussten Geistes« auf die Gehirnprozesse entdecken lassen, wie manche Philosophen annahmen, war zur realen Forschungsmöglichkeit geworden. Journalistisch entstand eine wahre Euphorie der »bunten Gehirnbilder«, an der sich auch mancher seriöse Neurowissenschaftler beteiligte.

16Ein wahrer Paukenschlag waren die 1983 veröffentlichten Untersuchungen des US-amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet (1916-2007) und seiner Mitarbeiter zum Zusammenhang zwischen der sogenannten freien Willensentscheidung zu einer bestimmten Handlung einerseits und diversen neuronalen Prozessen wie dem schon länger bekannten »Bereitschaftspotenzial« andererseits. Dabei handelt es sich um ein aus dem EEG gefiltertes neuronales Signal der Großhirnrinde, das willentlichen Bewegungen vorhergeht. Als gläubiger Katholik wollte Libet eigentlich die Existenz einer rein geistigen Willensfreiheit neurophysiologisch beweisen. Was er jedoch fand, war die irritierende Tatsache, dass bei sehr einfachen Bewegungen das damit zusammenhängende Bereitschaftspotenzial eindeutig dem entsprechenden subjektiven Willensentschluss nicht folgte, sondern ihm vorausging. Er meinte herausgefunden zu haben, dass der Mensch »rein geistig« motorische Reaktionen, wenn schon nicht auslösen, so doch in letzter Sekunde verhindern konnte, was sich allerdings später als Irrtum herausstellte, denn auch diesem »Veto« geht ein Bereitschaftspotenzial voraus.

Heerscharen von Philosophen und geisteswissenschaftlich orientierten Psychologen fielen über den persönlich bescheidenen Professor Benjamin Libet her und behaupteten, das Ganze sei experimenteller Murks, zudem handele es sich ja nicht um echte Willensentscheidungen, sondern um eine einfache und stereotype Bewegung. Aber auch seriöse Psychologen und Neurobiologen äußerten Kritik am methodischen Vorgehen Libets, und zwar ganz unabhängig von dessen philosophischen Schlussfolgerungen. Methodische Verbesserungen wurden daher vorgenommen, komplexere Entscheidungssituationen wurden benutzt, aber im Prinzip wurden Libets Befunde eher bestätigt als widerlegt.

Diese und ähnliche Experimente, gefolgt von solchen zu anderen geistig-kognitiven und emotionalen Prozessen ein17schließlich der Sprache, des Denkens, des Bewusstseins, der Empathie und der Fairness, wurden und werden von zahlreichen Theologen, Philosophen und geisteswissenschaftlich orientierten Psychiatern vornehmlich in der Nachfolge von Karl Jaspers als Angriff auf die ihnen traditionell zustehende Deutungshoheit über den Menschen und seine psychisch-geistige Wesenheit gewertet. Verstärkt wurde dieser Eindruck eines »Neuro-Imperialismus« (sic!) durch Bücher aus der Feder von Neurowissenschaftlern, welche die Meinung vertraten, man wisse jetzt so viel vom Menschen und seinem Geist, dass man die Neurowissenschaften einfach an die Stelle des traditionell geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Menschenbildes setzen könne.

Zu diesen in den vergangenen Jahrzehnten erschienenen Büchern gehören unter anderem L'homme neuronal (dt.: Der neuronale Mensch) des französischen Neurobiologen Jean-Pierre Changeux, The Astonishing Hypothesis. The Scientific Search for the Soul (dt.: Was die Seele wirklich ist) des britischen Physikers und Molekularbiologen Francis Crick, Descartes' Error. Emotion, Reason, and the Human Brain (dt.: Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn) des portugiesischen Neurowissenschaftlers Antonio Damasio, The Quest for Consciousness. A Neurobiological Approach (dt.: Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel) des deutsch-amerikanischen theoretischen Neurobiologen Christof Koch und Consciousness and the Brain (dt.: Denken – Wie das Gehirn Bewusstsein schafft) des französischen Neurobiologen Stanislas Dehaene. Auch einige Schriften des Frankfurter Neurobiologen Wolf Singer schienen nahezulegen, dass er aufgrund der Erkenntnisse der Neurowissenschaften die Notwendigkeit eines neuen Menschenbildes sieht. Ich selbst habe seit meinem 1994 erstmals erschienenen Buch Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequen18zen sowie in nachfolgenden Publikationen versucht, einen brachial reduktionistischen Standpunkt zu vermeiden und differenzierter zu argumentieren, und zwar vor allem aus meiner Kenntnis der Philosophie und der sonstigen Geisteswissenschaften heraus. Das wurde aber nicht immer wahrgenommen, obwohl es für mich in den vergangenen 20 Jahren zu einer sehr fruchtbaren Zusammenarbeit mit Philosophen, Psychologen, Psychiatern und Psychotherapeuten gekommen ist.

Fehler gab und gibt es auf beiden Seiten zur Genüge. Auf Seiten der Neurobiologen fehlte und fehlt es oft an einer Vertrautheit mit dem sehr komplexen Stand der Diskussion innerhalb der Philosophie des Geistes, auch wenn es hier sehr gut lesbare zusammenfassende Darstellungen gibt, zum Beispiel aus der Feder des Berliner Philosophen Michael Pauen (*1956). Fast jedes Jahr behaupten irgendwelche Neurobiologen oder Neurophilosophen, sie hätten das Geist-Gehirn-Problem gelöst, was bei näherem Hinsehen nicht der Fall ist. Auf Seiten der Geisteswissenschaftler fehlt es oft an dem nötigen Fachwissen und der Vertrautheit mit dem gegenwärtigen Stand der Neurowissenschaften.

Da der neurobiologische »Szientismus« immer näher zu rücken scheint, wird oft zu Argumentationen gegriffen, die nicht besser sind als die Bemühungen, die Willensfreiheit quantenphysikalisch erklären zu wollen. So sprechen einige Kritiker von einem »neuen Dualismus der Hirnforschung«, da die Neurobiologen das Gehirn künstlich vom »Leib« trennten, wo dieser doch eindeutig vergeistigt sei. Die Neurowissenschaftler – so ein anderer Vorwurf – missachteten die Gesellschaftlichkeit des Menschen, die Einmaligkeit des menschlichen Geistes, die überaus wichtige Funktion der Sprache usw. Bei vielen, die solcherart Kritik äußern, hat man zwar den Eindruck, dass sie die Schriften, die sie angreifen, nur oberflächlich gelesen haben. Dennoch und bei aller 19Schärfe ihrer Kritik ist zu konzedieren, dass sie oft auf schwerwiegende inhaltliche Lücken oder zumindest Mängel in neurowissenschaftlichen Darstellungen aufmerksam macht.

In diesem Buch versuche ich, jenseits allen Kampfes um die Deutungshoheit über den Menschen und in Respekt vor den Argumenten geisteswissenschaftlicher Positionen zu untersuchen, ob und in welcher Weise neurowissenschaftliche Erkenntnisse, die meist nicht von psychologischen Erkenntnissen zu trennen sind, dazu beitragen können, ein umfassenderes Menschenbild zu entwerfen. Dies führt dann zur Frage nach der angeblichen Einzigartigkeit des Menschen und seiner Lebenswelt, dem Verhältnis der biologischen und sozialen Bedingungen der Persönlichkeitsentwicklung, dem Entstehen bewusster Ziele und unbewusster Motive, dem Grad der Veränderbarkeit unseres Fühlens, Denkens und Verhaltens, der Rolle des Ich in unserer Selbstempfindung und unserem Handeln, der Rolle der Intelligenz und ihren Wurzeln, den Entstehungsbedingungen gewalttätigen Tuns sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie aus neurowissenschaftlicher Sicht. Schließlich geht es um eine Zentralfrage der Philosophie, nämlich die nach dem Verhältnis von Gehirn und Geist beziehungsweise nach der Natur des Bewusstseins, und um die Existenz einer mentalen Kausalität, das heißt einer Einwirkung des Geistes auf das Gehirn jenseits der Naturgesetze.

Die Fortschritte der Neurowissenschaften sowie die technischen und medizinischen Anwendungen der dabei gewonnenen Erkenntnisse durchdringen mittlerweile zutiefst unseren Alltag, aber in die Köpfe der meisten Menschen ist naturwissenschaftliches Denken und Handeln, verstanden als ein hypothesen- und empiriegeleiteter sozialer Erkenntnisprozess, kaum eingedrungen. Ich werde nie vergessen, dass führende Politikerinnen und Politiker unseres Landes, teilweise noch heute tätig, angesichts des Amoklaufs in Win20nenden sagten: »Warum der Täter das getan hat, wollen wir gar nicht wissen!«, und: »Da hilft nur noch Beten!« Als einige Kollegen und ich mit Unterstützung einer renommierten Wissenschaftsförderung und auf Bitten der Justiz jugendliche Intensivstraftäter auf mögliche psychologische, neurobiologische und soziale Gründe ihres Tuns untersuchen und ebenso die Wirkung therapeutischer Maßnahmen überprüfen sollten, stellte sich die Berliner Innenbehörde anfangs quer mit der Begründung, ein solches Projekt sei »unmenschlich«. Wir konnten es dann dennoch ausführen.

Es geht in diesem Buch nicht um einen »Neuro-Imperialismus« und auch nicht um eine Reduktion von Geist und Kultur auf Gehirnprozesse, sondern um die Frage, wie weit sich eine – vielleicht zunächst sehr provisorische – Brücke zwischen den Neurowissenschaften einschließlich einer empirisch arbeitenden Psychologie und den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften schlagen lässt. Dass dies nur unter Respekt vor den Eigengesetzlichkeiten der unterschiedlichen Betrachtungsebenen geschehen kann, versteht sich meines Erachtens von selbst. Freilich hängen menschlicher Geist und menschliche Kultur nicht in der Luft, sondern werden über das Gehirn als Organ des Körpers vermittelt. Das Gehirn wird dabei nicht nur durch genetische und epigenetische Faktoren beeinflusst, sondern die primäre und sekundäre soziale Umwelt prägt, wie wir sehen werden, bereits vorgeburtlich und dann massiv nach der Geburt die neuronalen Netzwerke, die das Fühlen, Denken und Handeln einschließlich der Kommunikation ermöglichen.