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Der Hof über dem See
Klappentext:
Roman:
HOLZKIRCHNER G´SCHICHTEN
Band 7
Ein Roman von Franz Mühlbauer
IMPRESSUM
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
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© dieser Ausgabe 2019 by Alfred Bekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
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Schon seit ihrer Kindheit lebt Andrea Schlagbauer auf dem einsamen Berghof. Ihre Großmutter Friederike bestimmt nach wie vor, wen sie einmal heiraten soll. Doch Andrea will das nicht so ohne weiteres akzeptieren. Als sie ihre Verwandten in Oberstdorf besucht, lernt sie Jackel Greiner kennen. Sie verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Als sie ihren Eltern und der Großmutter davon erzählt und ihnen Jackel als den zukünftigen Ehemann vorstellt, gibt es einen großen Streit. Niemals wird man einen mittellosen Fischer als Schwiegersohn in der Familie akzeptieren. Andrea verlässt daraufhin den Hof und zieht nach Oberstdorf. Weder sie, noch die Eltern und die Großmutter ahnen, dass das Schicksal schon bald wieder für ein gutes Ende sorgen wird. Und ausgerechnet Andreas Großmutter Friederike trägt dazu ganz viel bei ...
»Ich möcht’ bloß mal wissen, was du daran findest, hier zu stehen, um hinunterzuschauen. Ich versteh’ dich nicht, wo wir noch so viel zu tun haben!« Das junge Mädchen, das so angesprochen wurde, blickte ein wenig unwillig zur Seite. Nein, dachte es, das kann man der Mutter nicht erklären. Man kann einfach nicht von der Sehnsucht sprechen, die einen packt, wenn man da hinunterschaut und den See sieht. Wie ein azurblauer Stein lag er im Kranz der hohen Berge.
Hübsch sah es aus, wenn wie jetzt die Sonne schien und man alles ganz klar und deutlich erkennen konnte.
Oft sah man auch unten die kleinen Boote, aber nicht die Menschen, die darin saßen. »Komm ins Haus, wir müssen das Abendessen richten!«
»Ja, ich komme sofort.«
Das Mädchen seufzte auf. Nein, das kann man nicht erzählen, sie würden nur bös mit mir sein, mit mir schimpfen oder wer weiß was. Aber ich möcht’ doch so gerne einmal fort. In die Ferne, und wenn es nur dort hinunter ist. Ist es denn ein Verbrechen, wenn man fort will? Wenn man angeblich nicht bodenständig ist?
Wieder seufzte Andrea auf. Hier konnte sie es tun. Jetzt, wo die Mutter gegangen war, da hörte sie niemand. Sie hätte schon arg laut schreien müssen, um die Leute in Holzkirchen aufzuschrecken. Warum mussten auch die Vorfahren so weit droben den Hof anlegen, dachte sie bitter. Warum nicht unten im Dorf, dann hätte ich mal kurz zur Nachbarin springen oder auf die Dorfstraße gehen können. Aber nein, hier oben musste es sein. Höher ging es wirklich nimmer; denn dann wäre man schon bald im Gebirge gelandet. Grad am Fuß mussten sie den Hof errichten.
Nicht mal der Name des Gebirges hatte die Ahnen abgeschreckt. Ja, gottlos müssen die damals gewesen sein. So die Natur herauszufordern!
Ja, das waren sie in der Tat gewesen, die Vorfahren der Andrea Schlagbauer. Aber damals, da hatte es so etwas wie eine Fehde im Dorf gegeben. Der Erbauer des Hofes, er war ein Fremder gewesen, war vom Eibsee hergekommen. Mit einem Karren, darauf hatte sein junges Weib gesessen, hochschwanger. Sie waren schweigsam gewesen und hatten nur gefragt, wo man Land kaufen könne.
Damals, vor gut hundertfünfzig Jahren, da hasste man alles Fremde, und man hätte sie vielleicht wieder vertrieben, wenn der Pfarrer nicht eingeschritten wäre. Er hatte von Gottes Gericht gesprochen, und gemeint, dass doch Platz genug da sei. Und man müsse doch an die arme Frau denken.
So hatte man ihnen denn dort droben den Platz verkauft. Er lag zwar in einer Mulde. Aber im Winter, da würden die Lawinen schon dafür sorgen, dass sich die Fremden hier nicht lange hielten. Man musste es nur erwarten können.
Der fremde Mann hatte eine Hütte gebaut, ganz allein. Und sie war fest und trotzte dem Wind und dem Schnee, und die Lawinen gingen über das Haus hinweg. Da hatten sie denn gestanden, die Dörfler und hatten lange Hälse gemacht. So war das also! Gott schützte ihn! Man hatte ihm einen Platz an der gefährlichsten Stelle verkauft. Bis jetzt waren dort immer die Lawinen heruntergekommen. Aber freundlich brauchte man trotzdem nicht zu ihnen zu sein. Das konnte noch nicht einmal der Pfarrer bewerkstelligen.
Als man dann noch sah, wie fleißig der fremde Mann da droben war, wie zäh er der Natur alles abrang, und wie von Jahr zu Jahr der Hof größer und schöner wurde, ja, da wurden sie noch verschlossener gegen ihn. Die Frau gebar neun Kinder. Fünf Söhne und vier Töchter. Sie schafften auf dem Hof, dass es eine Freude war. Aber wenn jeweils die Zeit kam, wo der Älteste heiratete, so gingen die meisten in die Fremde und kamen fast nie mehr wieder.
Überhaupt holte sich der Hoferbe auch immer eine Frau von unten, aus Oberstdorf oder auch Sonthofen. Sie blieben für sich und waren recht stolz.
Bis heute war es so geblieben. Nur etwas hatte sich verändert in letzter Zeit. Die letzte Bäuerin auf Schlagming, das war die alte Friederike, die Großmutter der jungen Andrea. Sie hielt noch immer die Zügel in der Hand. Und das musste sie auch wohl; denn ihr Sohn Karl, der Vater Andreas, der war nicht so beschlagen, und er war ganz froh, dass die Mutter den Hof noch führte, obwohl sie jetzt doch nicht mehr so konnte wie früher. Die meiste Zeit saß sie hinter dem Ofen und strickte, und manchmal hütete sie auch für Wochen das Bett.
Die alte Friederike hatte fünf Söhne geboren. Vier davon waren, wie es üblich war, in die Fremde gezogen. Davon hatte drei der Krieg geschluckt, und einer war dann über den großen Teich in das große fremde Land Amerika gefahren.
Damals war wohl viel Ärger auf dem Hof gewesen. Die Leute wussten nichts Genaues, aber sie redeten darüber. Die Friederike hatte das Gesetz brechen und nicht dem Ältesten den Hof geben wollen. Eben nicht diesem Karl, sondern dem Ludwig, das war der Zweite und der Gescheitere. Aber ihr Mann hatte es nicht zugelassen, und es war recht bös zugegangen.
Friederike hatte nicht aufgegeben, und bestimmt wäre es auch nach ihrem Kopf gegangen, wenn es dem Ludwig nicht zu viel geworden wäre. Und so hatte er sich eines Nachts heimlich aufgemacht. Ein Jahr später erhielt man dann die Todesnachricht, eine amtliche sogar. So war denn der Karl Hofbesitzer geworden, ohne die anderen Brüder auszahlen zu müssen. Ja, da hatte sie es dann so hinnehmen müssen. Sie hatte zwar noch dafür gesorgt, dass er sich eine anständige Frau nahm. Das war die Ida, und sie kam aus Oberstdorf. Sie waren sogar weitläufig verwandt. Diese Ida war ein starkes Geschöpf, und arbeiten konnte sie wie ein Pferd. Auf diese junge Bäuerin setzte die alte Friederike all ihre Hoffnung. Aber sie sollte sich auch hier irren. Sie war nicht viel klüger als ihr Mann und was noch viel schlimmer war, sie bekam keinen Buben. Nur ein Mädchen, und das auch erst nach zehn Jahren Ehe.
Weil Friederike selbst die Frau für den Sohn ausgesucht hatte, so konnte sie die Schuld nicht auf andere abwälzen, und so trug sie auch dies.
Mit den Jahren versöhnte sie sich aber mit dem Herrgott. Zumal sie merkte, wie aufgeweckt und gescheit die Andrea war. Oha ja und ein Mundwerk besaß sie auch, Spaß konnte sie manchen und hübsch war sie obendrein. An ihr war alles so, wie es sein sollte.
Sie war der Liebling der Großmutter. Und wenn der Vater etwas von dieser alten Frau wollte, so schickte er die Tochter, dass diese bitten musste.
Andrea liebte die Großmutter und sie liebte auch die Eltern, aber sie war nicht glücklich. Und wenn sie dann von diesen dreien auch noch täglich hörte, wie glücklich sie doch sein müsse, weil sie diesen herrlichen Hof einmal erben würde, und man doch wirklich alles für sie tun würde, dann seufzte sie nur leise vor sich hin.
Seit sie die Schule hinter sich gebracht hatte, arbeitete sie nun daheim auf dem Hof. In all den Jahren war sie noch nicht einmal bis Bad Hindelang oder gar Mittenwald gekommen. Holzkirchen und der Hof, mehr gab es nicht. Und jetzt war sie zweiundzwanzig Jahre alt und die Großmutter hielt abermals Ausschau nach einem richtigen Bauern für Schlagming.
Ihr Lieblingssatz war: »Wenn du verheiratet bist, dann kann ich in Frieden sterben. Ich weiß, dann wird alles gut.«
Karl, ihr Sohn, dachte dann immer: Wenn du erst mal tot bist, dann bin ich endlich Herr auf Schlagming, und dann kann ich endlich tun und lassen, was ich will. Dann brauch’ ich niemanden mehr zu fragen.
Friederike fragte die Enkelin immer wieder: »Hast noch keinen kennengelernt, Andrea, ich mein, einen jungen Bauernsohn, der dir gefällt? Ja, wenn ich jünger wär’ und besser auf den Beinen, dann würd’ ich dich mitnehmen nach Oberstdorf, zu den alten Bekannten und Verwandten, da würd’ ich schon einen Mann für dich finden.«
Andrea sagte dann lachend: »Großmutter, die Zeiten haben sich geändert, ich such’ mir den Mann selbst, hörst? Ich nehm’ keinen ausgesuchten. Er muss mir gefallen, mir Großmutter, und überhaupt ...«
»Was überhaupt?«
Aber dann schwieg sie hastig. Sie wollte der Alten nicht sagen, wenn du erst einmal tot bist, dann geh’ ich für eine Weile fort. Bevor ich mich verheirate, will ich erst einmal was erleben und andere Leute kennenlernen.
Nein, das konnte sie der Alten wirklich nicht sagen, dass hieße ja, sie würde auf deren Tod warten. Aber Andrea wusste ganz genau, wenn die Großmutter nicht mehr lebte, dann hatte sie leichtes Spiel. Die Eltern beschwatzen, das war leicht.
Aber die alte Friederike war zäh und dachte gar nicht daran, sich mit den Füßen zuerst aus dem Haus tragen zu lassen.
Im Winter hatte sie nicht mal Zeit, hinunter nach Holzkirchen zu gehen, um auf dem See Schlittschuh zu laufen, das hieß, wenn es überhaupt kalt genug und der See zugefroren war. So kleine Freuden musste sie sich sogar verkneifen.
Großmutter und Eltern wollten, dass sie fleißig und sparsam war und ihnen gehorchte. Und wenn sie dann einmal aufmuckte, dann hieß es gleich, was willst du denn? Andere Mädchen haben es nicht so gut, die bekommen keinen so herrlichen Hof wie du. Die haben einen Bruder, der alles einmal erbt.
Andrea war auf diesen nicht geborenen Bruder schrecklich wütend. Wenn er nämlich dagewesen wäre, dann hätte sie nach der Schulzeit von daheim weggehen und arbeiten können, als Stubenmädchen oder Bedienung; denn fesch sah sie ja aus, mit dem blonden Haar und den wasserhellen Augen.
Ach ja, das Leben konnte schon schwierig sein, besonders wenn man so jung war, das Blut heiß durch die Adern floss und man ein Verlangen in der Brust spürte.
Sie freute sich ja auch, dass sie alles einmal bekam, und sie liebte auch dieses Fleckchen Erde, den Hof und was dazugehörte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, einmal woanders zu leben, nicht mehr den See aus dieser Höhe bewundern zu können. Später, später!
Sie wollte ja nicht zuviel verlangen, und sie wollte ja auch nach gemessener Zeit heiraten und all das! Aber zuerst wollte sie ein wenig Freiheit genießen. Sie hatten doch Geld genug, warum durfte sie zum Beispiel nicht den Führerschein machen? Dann hätte sie schnell eben irgendwohin fahren können und wäre nach ein paar Stunden wieder daheim gewesen. Und dann immer diese Tracht tragen zu müssen. Die Großmutter sagte stets: »Das ist anständig, gut und hält lang.«
Sie musste es ja wohl wissen; denn sie hatte, so lange sie lebte, noch nie andere Dinge getragen. Sie hatte ein Sonntagsgewand und eins für den Alltag. Und erst dann, wenn diese ganz dünn und mürbe geworden waren, wurde ein neues gekauft.
Andrea hockte auf dem Stein und hatte die Beine mit den Armen umschlungen. Sie grübelte darüber nach, ob die Großmutter wohl auch als junges Mädchen schon so gewesen war. Die Mutter seltsamerweise, die viel jünger war, die konnte sie sich nicht aufbegehrend vorstellen. Mutter Ida, die war so seltsam, so starr. Man musste schon viel Geduld haben, bis man an ihr ein Lächeln sehen konnte.
Sie hatte früher auch in Oberstdorf gelebt. Andrea hatte sie oft gefragt, ob es sie nicht gereut hätte, hier in die Einsamkeit zu ziehen. Aber sie hatte sie nur sinnend angesehen und kurz angebunden gemeint:
»Es ist das Leben, und da fragt man nicht lang. Und jetzt mach deine Arbeit, die Wäsche muss endlich auf die Leine.«
Andrea ging mit ihren Gedanken so weit, dass sie schon manchmal glaubte, sie sei kein echtes Kind, sondern ein Findelkind. Sie war so anders, so schrecklich anders. Und wenn die Großmutter nicht gewesen wäre, dann hätte sie es vielleicht schon lange nicht mehr ausgehalten und wäre davongelaufen.
*
Vom Haus her rief die Mutter.
Seufzend erhob sie sich und ging den schmalen Pfad zum Haus zurück. Jetzt in der goldenen Abendsonne lag der stattliche Hof leuchtend vor ihr. Es war schon ein schöner Anblick, diese Wuchtigkeit und Größe. Man hatte schon damals für die Ewigkeit gebaut. Es wurde nichts erneuert, sondern immer nur erweitert. Auch drinnen konnte man von Stube zu Stube wandern und wusste ganz genau, welche Generation etwas neu gemacht hatte.
Sie liebte dieses Haus mit den wertvollen Erinnerungen und sie konnte sogar stolz darauf sein. Denn in Holzkirchen konnte man lange suchen, bis man ein so altes und schönes Haus fand.
Vor Jahren waren einmal Herren aus München hier gewesen. Die hatten sich das ganze Haus von allen Seiten besehen und dann der Friederike einen Vorschlag gemacht. Für viel Geld hatte man ihr das Haus abkaufen wollen.
»Ich verlass nie und nimmer meinen Hof«, hatte sie böse gesagt. »Wie können Sie nur denken, dass ich hier fortgehe.«
»Aber das brauchen Sie gar nicht, gute Frau. Wir haben doch gesagt, wir möchten das Haus kaufen und ein Museum daraus machen. Wir bauen es ab und bauen es auf einer anderen Stelle wieder auf. Für das Geld, das sie dann von uns bekommen, da können Sie sich einen neuen noch schöneren und bequemeren Hof anschaffen. Mit Heizung und vielen Bequemlichkeiten.«
Friederike hatte sie angestarrt. Ein Haus abreißen und woanders wieder aufbauen? Hatte man schon solchen Unsinn gehört?
»Nein, schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Der Hof gehört den Schlagbauers und wird von Generation zu Generation vererbt. Ich habe auch nicht das Recht dazu; denn ich habe nur eingeheiratet.«