Alfred Hitchcock. 100 Seiten

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Es ist ein Ritual bei mir. Zweiter Weihnachtsfeiertag. Die Präsente sind weggeräumt, das Geschenkpapier findet sich bis auf jene Reste, auf die meine Katzen unbedingt als Spielmaterial bestehen, in der Papierrecyclingtonne wieder, man ist ja nicht so. Beziehungsweise den Nachbarn ein Vorbild, selbst an Feiertagen, wo sie gar nicht da sind. Ein größeres Essen gibt es an diesem Tag nicht, dafür viel freie Zeit … Und dann erscheinen zwei sehr unterschiedliche Männer.

Der eine: mehr dick als groß, und mit einem Bulldoggen-Gesicht der Sonderklasse ausgestattet, das er selber nicht recht mag – hängende Lippe, kartoffelknollenartige Nase, dazu die Karikatur einer in die Stirn geklatschten Haarlocke. Er krakeelt. Er ist raumgreifend und scheint als Travestie fast einem der Essays von Susan Sontag aus den Sechzigern über camp, jener Mischung aus Dandytum und Tuntenhaftigkeit, entsprungen. Am Ende will er unbedingt springen.

Der andere dagegen: urban, schlank, elegant, ein Blickfang. Nur dass er sich ausdauernd nach einem Kaplan erkundigt. In merkwürdige Anwesen geleitet wird. Durch ein Feld läuft. Anschließend noch einen Berg erklimmt, mit ganz merkwürdigen Vorsprüngen, die Ähnlichkeit mit menschlichen

Der erste ist Sir Humphrey Pengallan. Der zweite Roger O. Thornhill. Den ersten spielt Charles Laughton, den zweiten Cary Grant. Und, das Wort »spielen« verrät es schon, es handelt sich um Filme.

Der erste, Jamaica Inn (Riff-Piraten), nach dem gleichnamigen Roman Daphne du Mauriers, war der letzte Film, den der Engländer Alfred Hitchcock 1939 vor seinem Umzug nach Los Angeles auf englischem Boden drehte. Und zugleich einer seiner weniger bekannten, zu Unrecht übrigens. Man achte einmal nicht auf den irren Laughton oder auf Robert Newton, dessen Noblesse durch seine langen Greiffinger fast unsichtbar verschattet wird (und der später in Hollywood zum Trinker verkam). Sondern auf: Lichtführung, Hell-Dunkel-Kontraste und den Gegensatz von Innen/Außen und Geschlossen/Offen. Hitchcock selber schätzte den Film später wenig, ja tat den Historienstreifen barsch als »absurdes Projekt« ab. Dabei setzt Riff-Piraten mit einem furiosen Massenmord im Wasser inklusive fröhlich pfeifendem Psychopathen ein, woraufhin anderen Regisseuren keine Eskalation mehr gelungen wäre. Hitchcock schon.

Der andere Film gehört zu seinen berühmtesten: North by Northwest (Der unsichtbare Dritte) von 1958, eine in geographischer Hinsicht horizontal-vertikale Verfolgungsjagd quer durch die USA.

Zu meinem zweiten Weihnachtsfeiertag gehören diese unterschiedlichen Filme mit sehr unterschiedlichen Schauspielern. Und nur eines – bzw. einer – verbindet sie: Alfred Hitchcock.

Hitchcock, der Meister des suspense und Erfinder des MacGuffin, von dem niemand so richtig zu sagen weiß, was er

Hitchcock und der Oscar

Rebecca: nominiert in 11 Kategorien – gewonnen: 2 (Bester Film, Beste Kamera)

Ich kämpfe um dich: nominiert in 6 Kategorien – gewonnen: 1 (Beste Filmmusik)

Psycho: nominiert in 4 Kategorien – gewonnen: 0

Verdacht: nominiert in 3 Kategorien – gewonnen: 1 (Beste Hauptdarstellerin)

Über den Dächern von Nizza: nominiert in 3 Kategorien – gewonnen: 1 (Beste Kamera)

Der unsichtbare Dritte: nominiert in 3 Kategorien – gewonnen: 0

Das Rettungsboot: nominiert in 3 Kategorien – gewonnen: 0

Berüchtigt: nominiert in 2 Kategorien – gewonnen: 0

Vertigo – Aus dem Reich der Toten: nominiert in 2 Kategorien – gewonnen: 0

Der Mann, der zuviel wusste: nominiert in 1 Kategorie – gewonnen: 0

Die Vögel: nominiert in 1 Kategorie – gewonnen: 0

Im Schatten des Zweifels: nominiert in 1 Kategorie – gewonnen: 0

Der Fall Paradin: nominiert in 1 Kategorie – gewonnen: 0

Sein Name ist sprichwörtlich für Hochspannung. »Spannender als ein Hitchcock« ist in die Umgangssprache eingegangen. Oft hört man es in Sportreportagen, und die Kommentatoren verkehren damit das Grundprinzip von Hitchcocks suspense ins Gegenteil, besteht dieses doch gerade darin, dass das Publikum mehr weiß als die Protagonisten und sich gerade deshalb in den Kinosessel krallen.

Sein Einfluss und seine Wirkung in der Geschichte des Films sind gewaltig: auf François Truffaut (Die Braut trug schwarz, 1968, und Das Geheimnis der falschen Braut, 1969) wie auf Stanley Donens Arabeske (1966) und Charade (1963), in welchem zudem Cary Grant zu sehen war, so etwas wie Hitchcocks Traum-Erscheinung (hätte Hitchcock – er kannte das Bonmot Cyril Connollys, in jedem dicken Mann stecke ein dünner, der hinauswolle – sich ein Leben als schlanker, gut aussehender Mann wünschen dürfen, dann wäre seine Wahl wohl auf Cary Grant gefallen), und über Brian De Palma, David Lynch bis zu Wong Kar-Wai und den Coen-Brüdern. Psycho

»Wenn ich einen Film drehe, ist es mein Ehrgeiz, eine Geschichte zu präsentieren, die niemals stillsteht.«

An der Fabrikation seiner Mythologie wirkte er selbst mit. Spätestens nachdem Mitte der 1950er Jahre die jungen Filmredakteure der Cahiers du Cinéma François Truffaut, Claude Chabrol und Éric Rohmer ihn als »Meister« feierten. Was bis heute nicht aufgehört hat – inklusive diverser, nicht weniger psychoanalytischer Interpretationen.

Dabei war Hitchcock zugeknöpft, schon rein äußerlich. Seine Tochter Patricia: »Hitch war bekannt dafür, Anzug und Krawatte zu tragen, selbst auf dem Filmset. Einmal wurde mir eine amüsante Geschichte über meinen Vater erzählt. Ein junger Mann ging auf ihn zu, stellte sich vor und sagte, er sei Filmregisseur. Mein Vater sah ihn an, sah, dass sein Hemdkragen offen war, und sagte: ›Echte Filmregisseure tragen Krawatte.‹«

François Truffaut schrieb 1966: »Wenn man die Vorstellung akzeptiert, dass das Kino der Literatur ebenbürtig ist, so muss man Hitchcock den Künstlern der Angst, wie Kafka, Dostojewski und Poe, zuordnen – doch warum überhaupt zuordnen? Diese Künstler der Angst bieten uns natürlich keine Lebenshilfe, zu leben erscheint ihnen schwer genug, aber ihre Mission ist, uns an ihren Ängsten teilnehmen zu lassen. Dadurch helfen sie uns, sei’s vielleicht auch unbeabsichtigt, uns besser zu verstehen, ein grundlegendes Ziel jedes Kunstwerks.«

Dabei ist, glaubt man Hitchcock, das Filmemachen einfach: »What you do is take a given piece of time, add color and pattern and there you have it.« Man braucht eine vorgegebene Spanne Zeit, füge Farbe und Ordnung hinzu und voilà.

Ein Junge lehnt an einem Zaun und schaut seinen Mitschülern beim Ballspiel zu. Dass er selber daran teilnimmt, ist unwahrscheinlich. Er ist mittelgroß, sieht aber aus wie der Inbegriff von Unsportlichkeit. Plump ist er, ja korpulent, um nicht zu sagen: fettleibig. Fettleibig wird er sein Leben lang bleiben; später wird sein Embonpoint ganz beträchtlich sein, seine Unterlippe tief hängen und mit Ende dreißig sein Kopf überdies noch kahl sein. Er schaut seinen Klassenkameraden des St. Ignatius College, einer Jesuitenschule in Stamford Hill, London, mit blitzenden und gelegentlich von Spott sprühenden Augen zu. Aus diesem Schauen, aus dem Spott, aus der Distanz wird er später einen Beruf machen – und weltberühmt werden. Der Name dieses Jungen: Alfred Joseph Hitchcock.

Am 13. August 1899 kam er in der Wohnung oberhalb des elterlichen Obst- und Gemüsegeschäfts in der High Road Nr. 517 in Leytonstone zur Welt. Damals war Leytonstone, acht Kilometer Luftlinie nordöstlich der City of London, ein ruhiger, etwas verschlafener Vorort und gehörte noch zur Grafschaft Essex. Alfred hatte zwei ältere Geschwister, William und Ellen.

Gern erzählte Hitchcock später, wie ihn, als er etwa fünf Jahre alt war, sein Vater mit einer Nachricht zur nächstgelegenen Polizeiwache schickte. Dort aber steckte ihn der Reviervorsteher in eine Zelle, schloss ab und ging. Nach langen fünf Minuten kam er wieder, sperrte die Tür auf und ließ den kleinen, völlig erschütterten Jungen heraus. Er gab ihm den Satz mit: »So etwas machen wir hier mit unartigen kleinen Jungen.« Wie tief sich ihm dieser emotionale Urschock einprägte, lässt sich an den Polizisten in seinen Filmen ablesen. Alle sind sie unsympathisch oder heillos überfordert oder einfach lächerlich. In Der unsichtbare Dritte wird der Polizei-Sergeant, der dem betrunkenen Cary Grant das Telefon hält, als dieser seine Mutter darüber informiert, dass er wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet wurde, schon durch seinen Namen »Orpheus Klinger« erledigt. Und in Family Plot (Familiengrab), Hitchcocks finalem Film von 1976, erlaubt sich Arthur Adamson, der verbrecherische Juwelenhändler, dem ihn befragenden Detective mit zwei Fingern einen Fussel vom Sakkorevers zu zupfen. Diese Grenzüberschreitung, von den Schauspielern improvisiert und von Hitchcock beibehalten, ist symbolisch für das Gefälle an Aufmerksamkeit. Die Angst vor der Polizei fand auch anders ihren Ausdruck: Hitchcock fuhr selbst nur ganz kurz Auto, ehe er nur noch mit Chauffeur unterwegs war. Zu groß war seine Angst, nach dem Überfahren des Mittelstreifens von einem Verkehrspolizisten herausgewunken zu werden.

Alfred war ein guter Schüler, bei Prüfungen in der Regel auf Platz drei oder vier seiner Klasse. Nichtsdestotrotz endete auch bei ihm die Pflichtschulzeit, als er gerade einmal dreizehn Jahre alt war. Mit dem Berufswunsch Ingenieur besuchte er anschließend die County Council School of Marine Engineering and Navigation in der Londoner Poplar High Street, machte einen Abschluss als technischer Zeichner und wurde bei der W. T. Henley’s Telegraph Work Company in der City angestellt, einer Ingenieursfirma, die elektrische Kabel herstellte. Dort wechselte der begabte Hobbyzeichner bald in die Werbeabteilung und entwarf Anzeigen.

Als Jugendlicher ging er, schüchtern bis zur Verklemmtheit, leidenschaftlich gern ins Kino und ins Theater und begann, Fachzeitschriften über die junge Filmindustrie zu lesen. Die Londoner Busverbindungen kannte er seit dieser Zeit auswendig; noch Jahre später, in Kalifornien, murmelte er, wenn er den Bus mit der Nummer 24 sah, automatisch: »Ah yes, Hampstead Heath to Victoria.« 1919 las er, dass Famous Players-Lasky aus den USA – das Filmstudio, das das Starsystem erschuf (Filme wurden exklusiv verpflichteten Stars wie Rudolph Valentino, Mary Pickford und Gloria Swanson auf den Leib geschrieben, und die Vermarktung konzentrierte sich nur auf sie) –

1921 begann bei Famous Players-Lasky British Corp. Ltd. auch eine junge Frau zu arbeiten, als Floor Secretary. Sie war um genau einen Tag jünger als Alfred Hitchcock, hatte aber viel mehr Erfahrung im Filmgeschäft. Die vergangenen sechs Jahre hatte sich Alma Reville, in Nottingham geboren und mit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie nach London umgezogen, bei der London Film Company hochgearbeitet. 1913 gegründet, waren deren Studios in St. Margarets, East Twickenham, im Südwesten von London, auf dem Gelände einer früheren Schlittschuhbahn, die damals größten Englands. Buchstäblich um die Ecke war Alma aufgewachsen, ihr Vater war in der Kostümabteilung des Studios tätig. Alma Reville, nur knapp 1,50 Meter groß, war für die mühsam zu erstellenden Schnittfassungen verantwortlich. Sie galt als doyenne of the cutting room.