Volker Ebersbach
Caroline
Historischer Roman
ISBN 978-3-96521-578-8 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
© 2021 EDITION digital
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Godern
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Für Schneewittchen
Ein Buch, das von Caroline Michaelis-Böhmer-Schlegel-Schelling erzählt, muss auch eine lange Reihe mehr oder weniger bekannter Zeitgenossen berühren, die ihr auf unterschiedlichste Weise nahekamen. Wie sie aussehen, sich bewegen, sprechen, denken, fühlen, das kommt, soweit Briefe und andere Zeugnisse nicht eindeutig darüber Auskunft gegeben haben, aus dem Ermessen des Verfassers, der weder die ganze Objektivität einer Biografie anstreben noch die volle Freiheit eines Romans ausschöpfen wollte. Die Erfindung lässt sich von Vermutungen leiten, wo verbürgte Überlieferung stumm oder verschwommen bleibt. Es sind die Vermutungen eines Menschen, der rund zwei Jahrhunderte später lebt, und es bleiben bei aller Einfühlung die eines Mannes.
Die Kerzenflamme blendet. Ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe hält das Auge beliebig lange aus. Der blaue Morgenschimmer dahinter verbirgt, ob der Tag wolkig oder heiter wird. Caroline ist im Dunkeln aufgewacht. Ein großer Hund war mit rollenden Augen von der Straße hereingekommen und hatte mit wenigen gierigen Bissen ihren Geburtstagskuchen aufgefressen. In ihren Schrecken fielen fünf dunkle Glockenschläge von der Johanniskirche, die helleren von der Marienkirche folgten, die harten der Jakobikirche wehten aus der Ferne herüber. Da hat sie die Kerze angesteckt und über den Traum nachgedacht. Der gefräßige Hund bedeutet, dass sie ihren Geburtstag zu wichtig nimmt. Sich selber zu wichtig zu nehmen, davor warnt die Mutter sie oft. Sie soll sich nicht so lebhaft ausmalen, wer zu Besuch kommt und was man ihr schenken wird. Besonders ein Mädchen soll sich nicht wichtig nehmen. „Die Leute kommen nicht nur zu dir!“
Sie rätselt aber doch, wer ihr zuerst gratuliert. Die Geschwister schlafen. Lotte hat sich, als das Zündholz aufleuchtete, zur Wand gedreht. Philipp atmet kaum merklich; manchmal zucken seine Fäustchen. Louise, die Jüngste, schläft noch drüben bei der Mutter. Oben knarren die Dielen. Macht sich der Vater schon zwischen seinen Bücherstapeln zu schaffen? Ein Fuhrwerk rumpelt über die Straße Vor der Mühlenpforte, entfernt sich in Richtung Lederhof; hohl tönt unter den Rädern die Brücke über die Neue Leine. In den Höfen auf der Marsch krähen die Hähne.
Die Tür geht auf. Eine zerknitterte Nachthaube, der verschlafene unfreundliche Morgenblick der Mutter: „Feierst du schon allein?“
„Mir war bange im Dunkeln.“ Sie löscht die Kerze, liegt, wartet, zählt die Stundenschläge der Kirchturmuhren, steht am Fenster, wie gewohnt den Eingang zum Kollegienhof im Auge, das schmiedeeiserne Zaungitter, die beiden Torpfeiler mit den gemeißelten Vasen. Studenten kommen heraus, Lieferanten drängen herein. Man rempelt sich an, ein Schimpfwort fordert das andere heraus: „Pass auf, Sauwedel!“ - „Schandbalg!“ - „Beiseite, Gelbschnabel!“ - „Lies deine Arschwische selber auf, Flöhbeutel!“ Eine Kutsche rattert dazwischen.
Alles Wörter, die man nicht sagen darf. Und doch hört man sie jeden Tag von morgens bis abends. Die Studenten, die im Haus wohnen, werfen sie einander an den Kopf, wechseln sie mit den Dienstboten. Der Student, der Caroline und Lotte unterrichtet, flucht gern, so lästerlich er kann, wenn es der Vater nicht hört. Aber auch dem Vater geht manches Unwort leicht heraus.
Die Mutter hat wieder hereingeschaut und die Tür offengelassen. Das heißt: Jetzt komm, wasch dich, zieh dich an, hilf mir, du bist die Älteste, wenn du Geburtstag hast, gibt es viel zu tun. Gratuliert hat sie nicht. Das Wort Liebe kennt Caroline nur aus der Kirche. Es hat mit dem lieben Gott zu tun, der aber sehr streng ist.
Lotte sitzt im Bett, reibt sich die Augen, Philipp rekelt sich. Luischen steht in der Tür, den Saum des Nachthemdes unter den Füßen, lächelt: „Hast du jetzt Geburtstag?“ Die Kleinste denkt daran!
Da hängt ihr Lotte am Hals: „Alles Gute, alles Gute! Mein Gott, nun bist du schon zwölf!“
Wie sich die kleine Heuchlerin vordrängt. Gestern noch wollte sie Caroline den Geburtstag auf drei Jahre verbieten, um aufzuholen.
Philipp vergisst die Floskel, die ihm eingeschärft worden ist. Er stellt sich breitbeinig hin: „Ich bin sieben!“
Louise klammert sich an Carolines Hüften: „Ich will auch Geburtstag haben!“ Sie stolpert über ihr zu langes Hemd, fällt, weint. Caroline nimmt sie auf den Arm. Es ist eine Plage, Geburtstag zu haben. Die Kleinste ist ihr die liebste. Und gern denkt sie an die anderen, die gesichtslosen Geschwister, die, eilig getauft am Tag nach der Geburt, schon gestorben sind.
Die Zeit, Puppen herumzuschleppen, Puppen zu kleiden, Zuckerwerk zu naschen, ist gerade vorbei. Mit der Kleinen auf dem Arm geht Caroline in Mutters Ankleidezimmer, wo auch ihre Sachen liegen. Die Kinderfähnchen aus gestärktem Leinen sind rasch übergestreift. Aber die Umstände, die Mutter und ihre Zofe mit Reifrock und Brusttüchern, gesteifter Taille und Korsett machen, das Auswählen von Schoßjäckchen und Schleife sind so respektabel, dass auch das Mädchen sich beim Ankleiden Zeit nimmt, in den Spiegel schaut, jedes Fältchen und Bändchen nutzt, um eine Zeremonie daraus werden zu lassen. Der Spiegel ist eine prickelnde Versuchung, aber auch ein schrecklicher Drache. Das Gesicht der Mutter, dem sie darin begegnet, wird ungeduldig, und mit dem eigenen ist sie nicht zufrieden: zu breit, zu rund, die Brauen zu schwach, das Näschen zu flach, die Augen zu feucht, die Lippen zu leicht, die Unterlippe nur etwas voller als die obere. Vom Unterlid bis an die Mundwinkel werden die großen Wangen immer gleich rot, wenn sie sich erregt. Der Ärger über ihr Spiegelbild macht es noch hässlicher. Gilt Mutters mürrischer Blick der Zofe, die ihr mit dem Kamm im Blondhaar die hochgewölbte Stirn nach hinten reißt, ehe sie ihr das Spitzenhäubchen aufdrückt, oder der Tochter, die ihre dunkelbraunen schulterlangen Locken noch einmal und noch einmal zurechtschüttelt? Caroline geht, ehe sie ermahnt wird. Sie kann auch die Puderquaste nicht ausstehen, die gleich ihre weißen Wölkchen durchs Boudoir stäuben wird.
Mutter kleidet sich mehr französisch, Vater mehr englisch. Mutter ist nie gereist und versetzt sich bei ihrer Morgentoilette gern nach Paris. Vater hat lange in London und Oxford gelebt. Seine englischen Manieren sind so geübt wie zwanglos. Er kann eine gewisse Lässigkeit und Großartigkeit nicht verleugnen und will es auch nicht. Aber es käme ihm nie in den Sinn, herauszustellen, dass das englisch ist. Er spottet über Mutters Garderobe, doch er bezahlt sie immer gern, denn der Professor mit dem größten und prächtigsten Haus in Göttingen will wenigstens hoffen, man halte seine Frau für die bestgekleidete. Wenn die Eltern einander morgens im Salon begegnen, geht er manchmal schmunzelnd um sie herum. „Steht ja mal wieder mächtig weit ab, dein cul de Paris! Da könnte der Teufel drauf reiten, und du merkst gar nicht, wen du auf der Weender Straße spazieren führst.“ Einmal hat Caroline ihn über die rückwärtige Erweiterung des Reifrockes philosophieren hören: „Bei anderen Frauenzimmern soll man nicht wissen, was sie damit verbergen, einen Kaninchenpopo oder einen fetten Arsch. Aber du“ – und er nannte sie bei allen ihren Vornamen: Louise Philippine Antoinette – „du hast doch einen ordentlichen Hintern.“
Die kleine Louise ist schon von der Waschschüssel weg zum Vater vorausgelaufen, die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock. Hofrat Johann David Michaelis, Ordinarius für orientalische Sprachen an der Universität, mächtig des Hebräischen und Aramäischen, des Persischen und des Arabischen wie andere des Lateinischen und Griechischen, sitzt, noch unfrisiert, mit langer weißer Tonpfeife und knisternder Zeitung allein am Frühstückstisch. Das Dienstmädchen zieht fast lautlos den Krümelteller, die Tasse, die Kanne und den Brotkorb vom Tisch aufs Tablett; die Konfitüre bleibt wie üblich noch stehen. Der Professor nascht, wenn die Pfeife aus ist.
Caroline wüsste gern, was am 2. September des Jahres 1775 in der Zeitung steht. An manchem Morgen hat sie schon gefragt und ein paar Worte über ein fernes, weites, schwaches Land gehört, Polen, das sich die Großen Europas teilen, anerkennende, ja bewundernde Bemerkungen über den Preußenkönig Friedrich, den Zweiten seines Namens, seine tapferen, disziplinierten Soldaten. Dass der Friede von Hubertusburg, das für Preußen glorreiche Ende des Siebenjährigen Krieges, in ihr Geburtsjahr fiel, hat der Vater ihr schon eingeschärft: „Kind, du bist in einen Frieden hineingeboren. Hoffentlich in einen langen.“ Das Französischtun der Göttinger Damen ist ein Relikt aus den Tagen der Besatzung und zu verschmerzen angesichts der militärischen Erfolge Friedrichs, weil sie die Kaiserin Maria Theresia in die Schranken wiesen, das Klatschweib in Wien, das nicht haushalten kann mit ihrem Sohn Joseph, inzwischen als kaiserlicher Mitregent gleichfalls der Zweite seines Namens, ein lasches Muttersöhnchen, das Ohrenbläsern nachgibt, weil es nur gelernt hat, brav zu sein. Der Effekt: In Böhmen werden die Bauern rebellisch. Außer den Nachrichten aus England, die gleichbleibend angenehm sind, interessieren den Vater die aus Berlin am meisten. Mitunter lässt er an der Abendtafel, wenn Gäste da sind, sonst hört nur die Mutter gehorsam zu, Neuigkeiten über die preußische Rangliste verlauten und zieht dazu ein Geheimkabinettsgesicht, als kennte er jeden Genannten persönlich. Über die Unruhen in den amerikanischen Kolonien der Engländer spricht er nur höhnisch. Die Siedler, die in der Nachbarschaft der Wilden verwildern, werden sich noch wundern, was sie davon haben, gegen die schützende Macht ihres noblen Mutterlandes aufzubegehren.
Wenn der Professor eine Weltstadt ehrt, indem er sie zuletzt beachtet, so ist das Paris, bewundert für seine Gabe, an Krawallen, Skandalen, Mätressenwirtschaft, Modetorheiten und politischen Trotteleien, die jede Macht längst ihre Existenz gekostet hätten, nicht unterzugehen. Kanada und Louisiana verlor Frankreich schon an England, gleichfalls im Geburtsjahr Carolines, und es geht weiter abwärts, das Volk hungert und prügelt sich herum in einem „Mehlkrieg“. Es gibt Namen von Franzosen, die Vater geradezu mit Ehrfurcht ausspricht: Voltaire, Diderot, d’Alembert. Andere nennt er nur mit Verachtung. Rousseau ist immer dabei. Ihn macht er verantwortlich für den Schwarmgeist, der unter den Studenten umgeht. Ein Laffe, ein Bauer, ein Trampel, ein Lausewenzel und Hosenhuster. Und der König ein gefährlicher Dummkopf, der sein Volk nicht leben lässt, eine Bande von Irrenhäuslern der Adel, der seine Alfanzereien nachäfft und überbietet. Das bringt den Mob in Rage, und das Unterste wird noch nach oben wollen. Des Französischen bedient sich Vater mit einer Art von traurigem Mitleid und einer Achtung, um die man sich noch bemüht, wenn einer Frau von Stand Fehltritte nachgesagt werden, während ihn der Gebrauch des Englischen mit Stolz erfüllt, als wäre Göttingen nur der Ort seines Exils. Nennt er die Mutter Antoinette statt Antonie, klingt es herablassend, und sagt er zur Kleinsten, die außer dem „Luischen“ oft nur das Lieschen ist, mit französischem Hauch „Louise“, hört man ihn herausstreichen, dass auch sie, so winzig sie ist, zur albernen Gattung der Weiber zählt. Caroline hingegen, seine Älteste, spricht er manchmal, als hielte er sie für eine Ausnahme, von der er anderes erwartet, Mannhaftigkeit vielleicht, auf Englisch mit „Kärolein“ an. Sie lässt sich das gern gefallen. Sie hat schon Englisch gesprochen, als sie noch ihr Bett nass machte: „There is no harm.“
Heute wagt Caroline keine Frage. Man macht nicht vorlaut auf sich aufmerksam. Luischen folgt der Kinderfrau, die sie in die Küche zum Füttern holt. In diesem Haus isst jeder, wann und wo er will, außer abends. Irgendwo muss doch ein Geschenk auf Caroline warten. Die Unordnung dieses Professorenhaushaltes birgt tausend Gefahren, dass man ihren Geburtstag vergisst. Sie muss sich doch bemerkbar machen.
„Ach du bist es, Kindchen. Hast du nicht Geburtstag? Bleib gesund und freu dich, bleib ein braves Mädchen mit deinen elf Jahren!“
„Zwölf!“
„Ah, dann habe ich doch nicht das Falsche gekauft! Hol dir die Schachtel von nebenan, aber lass dir erst einen Kuss geben.“
Der Vater spricht mit kratziger Stimme. Vielleicht hat der englische Pfeifentabak sie zerstört, nach dem sein Atem riecht.
Die runde Schachtel in seinem Ankleidezimmer enthält einen gelben Hut mit Bändern und künstlichen Blumen. Ihr Wunsch fand Vaters Ohr!
„Aber Vater, er wird nur auf hochfrisiertes Haar passen.“
Der Professor erscheint in der Tür, ein Manuskriptbündel unterm Arm; hinter ihm schmunzelt, soeben eingetroffen, der Friseur. Man solle nur zu ihm schicken, mit Toupets und anderem, Gestellen aus Draht und Fischbein, könne er aushelfen. Einer der Studenten, die im Seitenflügel des Michaelisschen Hauses am Leinekanal wohnen, hält sich für Botengänge in Rufweite. Caroline bleibt, den Hut in der Hand, oben in der Männerwelt. Mutter, die ihr so kalt begegnet ist, mag sie rufen; vorerst will sie sich unten nicht zeigen. Der Friseur seift Vater ein und rasiert ihn. Den Schaum streift er am Rand seines Rasierbeckens vom Messer. „Keine Perücke heute!“, befiehlt der Professor. Der Friseur löst den Zopf vom Vortag, nimmt Bündel aus dem dunklen, grau durchwachsenen Haar und kämmt die durch, schmiert Pomade hinein, flicht einen neuen Zopf, dreht auf Pflöcken die Schläfenlocken. Der Professor blättert in einem Wälzer mit hebräischen Schriftzeichen und geht seine Vorlesung noch einmal durch, wird unterbrochen von der Puderwolke, in die der Friseur ihn hüllt, bevor er die Schleife in den Zopf bindet, die er zwischen den Zähnen hält.
Wenn das Wetter schön werde, solle man die Geburtstagsschokolade im Garten trinken, meint der Vater, und wenn ihn niemand festhalte, werde er auch kommen. „Wen hast du denn eingeladen, Töchterchen?“
„Therese!“
Vater verzieht das Gesicht, vielleicht nur wegen des Pudermessers, mit dem ihm der Friseur das Mehl von der Haut schabt. Die Tochter seines Kollegen sieht er nicht gern. Die meisten Universitätsprofessoren mögen einander nicht. Sie führen, wie Vater oft auf Lateinisch sagt, ein „bellum omnium contra omnes“, einen Krieg aller gegen alle. Die Professoren werden Hofräte oder nicht, und wo zwei Hofräte sind, gibt es noch Unterschiede in der Herkunft. Professor Heynes Vater war ein hungernder Weber. Und dann sind da noch die Grade der Beliebtheit bei Obrigkeit und Untergebenen, die Orden, die Beziehungen. Caroline weiß sehr früh, wovon Vater spricht, wenn sie Ohrenzeugin seiner Selbstgespräche wird. An ihnen hat sie gelernt, sich in der Welt, die erst einmal Göttingen heißt, zurechtzufinden. Mit seinen nicht einmal zehntausend Einwohnern gehört es nicht zu den großen Städten, und seine Universität ist noch keine fünfzig Jahre alt. Desto mehr fällt auf, wie viele gescheite, aber auch eigensinnige und verfeindete Leute da in kurzer Zeit auf kleinem Raum zusammengefunden haben. Nie gibt Vater zu, dass er sich von dem Altphilologen Heyne, der mit seinen Griechen und Römern mehr in Mode ist, belächelt fühlt. Heynes Übersetzung des Pindar, in der Göttinger Verlagsbuchhandlung Dieterich erschienen, ist unvergleichlich weiter verbreitet als die „Dogmatik“ des Professors Michaelis, seine Zeitschriftenartikel über Witwenkassen, Blatternimpfung, Kindesmord, Todesstrafe, die Rechtsstellung der Juden, die Beschäftigung der Soldaten in Friedenszeiten und die Ausrottung der Diebesbanden. Unausgesetzt wird er in Journalen dafür angegriffen. Aber Pindars Oden, verdeutscht von Heyne, werden bei den studentischen Schwarmgeistern gelesen, die zum Fenster heraus die Dichter des Hainbundes und Klopstock vortragen, aber ihr Pensum nicht durcharbeiten. Recht hat der bucklige Lichtenberg, wenn er das „rasende Odengeschnaube“ verlästert. Freilich, die Buckligen sind von Natur aus frech, weil sie glauben, sie müssten jedem Spott zuvorkommen, oft sind sie bissig und ungerecht, und niemand, auch der nüchterne, redliche Michaelis nicht, kann sich vor ihnen sicher fühlen. Aber jetzt reist Lichtenberg durch England und schreibt den Göttinger Kollegen sehr verständige Briefe. Jedem klugen Kopf bekommt England gut.
Nichts gegen Oden, aber sie machen bei den Studenten zu leicht beliebt, während ein Orientalist sich ihren Beifall sauer verdienen muss mit bis zur Unanständigkeit offenherzigen Bibelauslegungen und allerlei zotigen Anspielungen, möglichst am Schluss der Vorlesung, um in ähnlichem Triumph den Hörsaal zu verlassen wie der umjubelte Kollege, der auf der nächsten Sitzung nur ein mokantes Lächeln hat für die neueste Frucht Michaelisscher „Zotologie“. Wer wartet schon auf eine neue, erläuterte Übersetzung des Alten Testaments, mit der ein Kenner des Hebräischen sich abmüht Jahr um Jahr, außer den ungelehrten, ungelehrigen Pfaffen, die dem aufgeklärten Universitätslehrer dann doch nicht glauben, dass Luther irrte.
Caroline setzt sich aus aufgeschnappten Bemerkungen, Frozzeleien, Tiraden ihr Bild zusammen. Sie weiß auch, dass Vater von seinem Ärger mit dem Kollegen ablenken möchte, wenn er Thereses Mutter schmäht, sie eine Kanaille, Schlampe, Trulle, Vettel, Regimentshure nennt, weil ihr Liebschaften mit dem gothaischen Theaterdichter Gotter und mit dem Göttinger Universitätsmusikdirektor Forkel nachgesagt werden. Auf Moral pocht sein Mundwerk nur, wenn es um Künstler geht. Wenn seine Schadenfreude gegen den gehörnten Professor Heyne beredt wird, muss ihn die Mutter bitten, die Ohren der Kinder zu schonen.
Aber Caroline besteht auf ihrer Mädchenfreundschaft, gerade weil die Hofrätin Heyne unlängst an der Schwindsucht gestorben ist. Therese ist viel allein. Niemand soll zur Geburtstagsschokolade kommen, wenn sie nicht darf. „Vielleicht sehen wir uns das letzte Mal, denn sie wird noch eher als ich Göttingen verlassen.“
Sie genießt es, dass Vater fragen muss, weshalb. Der Friseur empfiehlt sich. „Soll sie auch in eine Mädchenpension?“ Der Vater errät es. Die Universitätsmamsellen sind alle frühreif.
„Ja. Aber nach Hannover, zu den französischen Fräuleins.“
„Da wird sie was Rechtes lernen.“ Vater lächelt süffisant.
„Mit dir nach Gotha kann sie freilich nicht gehen, weil dort der Gotter sich mit den Hörnern ihres Vaters brüstet.“
„Was für Hörner meinst du da eigentlich immer?“
„Vergiss das, Mädchen.“ Vater lauscht auf das Rumoren im Haus, als versuche er die Störung zu bannen, die er immer gewärtigen muss. Türen klappen, Treppen knarren, Studenten rufen, die Waschfrau keift dazwischen. Das Lieschen schreit, Lotte schreit zurück, Philipp beklagt sich, die Mutter schilt mit der scheppernden Stimme, die sie stets bekommt, wenn ihr die Schnürbrust zu eng wird.
„Therese wird wohl nicht kommen, Kind, ihr Vater lässt sie nicht.“
„Ich weiß, er neidet dir den Nordstern-Orden.“
Der Professor schmunzelt geschmeichelt. Der König von Dänemark weiß seine Arbeit zu schätzen. Mögen sie hinter seinem Rücken sich die Mäuler zerreißen: Der muss alles haben! Wo hat man das je erlebt, dass einer zum Ritter geschlagen wird, weil er eine Dogmatik geschrieben hat und ein Monarch sich dafür schämt, dass sie unter seinem Vorgänger verboten war. Der Gesandte Gustavs III. ist noch nicht lange aus dem Haus. „Das wäre kleinlich. Aber so ist der Heyne.“
Jemand steht in der Tür. Der Student bringt auf einem Drahtkorb das bestellte Toupet. Caroline rafft ihr Haar zusammen, um es zu probieren. Es fehlt ihr an Geschick; wäre der Friseur noch da. Aber sieh an, der Student kann damit umgehen! Vater krönt es mit dem Hut. Sie erscheint sich im Spiegel, und Vater findet sie entzückend. Sie erblickt neben ihrem Mondlärvchen sein alterndes Gesicht. Auch das dunkle, braun eingesprenkelte Graublau der Augen hat sie vom Vater. Mit diesen Augen kann man nicht schön werden. Der Hut mag manchen täuschen. Wäre sie doch ein Junge geworden.
Wieder steht jemand in der Tür, noch ehe das Dienstmädchen ihn melden kann. Ein armer Student bittet um „collegia frei“ und fragt, ob er im Hinterhaus ein Stübchen bekomme. Er streicht heraus, dass er aus Halle hergewandert ist, wissend, es ist die Vaterstadt des Professors, nennt auch gleich siegessicher sein Fach, Theologie, gesteht dann erst, dass er zuvor in Jena studiert hat, aber fort musste und auch in Halle nicht weiterkam. Er hat Briefe von der Michaelisverwandtschaft. Man muss ihm verraten haben, so bekomme man ihn weich, denn des Professors Vater Christian Benedikt Michaelis ist Theologe in Halle gewesen.
Der Professor nimmt den Studenten freundlich beim Oberarm. Warum denn das teure Göttingen? Warum kam er denn in Jena und Halle nicht weiter? Scherereien? „Dies Haus, wohlgemerkt, ist zwar belebt und laut und war, bevor ich’s kaufte, die ‚Londonschenke’. Aber gesoffen und duelliert wird hier nicht! Das Duell vor neun Jahren mit einem Toten war genau eins zu viel. Hier ist nicht Jena und nicht Gießen!“
„Ein armer Theologe, Herr Professor, duelliert sich nicht. Er macht nur Schulden.“
Die gefallen dem Professor auch nicht. „Für ihre Kost kommen meine Gäste selber auf. Wem nach was Warmem ist, der geht zu einer Witwe und verdient sich sein Schürzenstipendium und seinen Schwanzdukaten.“
Caroline weiß, welche Kammer leer steht. Doch der Vater verweist alles an die Mutter. Dann wendet er sich, obwohl er den Hörsaal im eigenen Haus hat, seinen sporenklirrenden Reitstiefeln, seinem Ausgehhabit und seinem Degen zu, ruft den Studenten, der zum Stiefeldienst bereitsteht, und brummt: „So verdient man frei collegia!“
Die Mutter bearbeitet im Hausflur die Leuchter mit Woodstockschen Lichtputzern aus England. „Wo hast du gesteckt, Caroline? Lass dir alles Gute wünschen fürs neue Lebensjahr und für Gotha!“
„Gotha ist trefflich!“, sagt der Student. „Da stamme ich her. Ich heiße Blumenbach und möchte …“
Die Mutter bedeutet ihm zu warten und zieht die Tochter in die Wäschekammer. Dort hat sie, wie erwartet, neue Stücke für Carolines Aussteuer ausgebreitet, die gebührend bewundert werden müssen. Es ist das dritte Geburtstagsgeschenk dieser Art. „Die Jahre, Mädchen, bis einer kommt und dich heiratet, sind schnell dahin.“
Da steht sie und erwartet Freude, die helläugige, gepuderte Blondine mit der gewölbten Stirn, den herrischen Fettpölsterchen unter den Brauen und dem Ansatz zum selbstgefälligen Doppelkinn, Frau Hofrätin und Frau Professor, die sich dennoch bestimmten Besuchern gegenüber als geborene Schröder zu erkennen gibt, weil sie ihren Vater, den Oberpostkommissär, für mehr hält als einen Gelehrten. Und sie erwartet, dass Caroline den gelben Hut, den sie noch aufhat, übertrieben findet und Vaters Geschmack herabsetzt. „Der hat gefehlt! Dem Michaelis ist, glaub ich, der Ritter zu Kopf gestiegen, und er will unbedingt ein Fräulein aus dir machen, ein Prinzesschen. Wie in den englischen Romanen, die er übersetzt!“ Die Prinzessinnen in Samuel Richardsons Romanen sind kokett und lasterhaft. Caroline weiß nicht, was das ist, aber schlecht ist es, und das Herz des Lesers schlägt stets für die einfachen, unschuldigen Bürgermädchen.
Irgendein unangenehmes Gefühl quält die Mutter. Aber Caroline hat kein Mitleid: „Ein Fräulein findet leichter einen Mann.“
Die Mutter ist ihr über: „Ein Hut macht noch kein Fräulein!“
Bis zum Mittag, wenn jeder, den hungert, auf seine Weise einen Imbiss nimmt, hat Caroline Unterricht bei Studenten ihres Vaters, die im Haus wohnen, gelehrte Handlanger, genannt Amanuensen, Latein und Griechisch bei Borchers, Englisch, Französisch und Mathematik bei Kleuker. Nächstens wird sie Italienisch hinzubekommen. Der arme Student, dem sie noch zu Kammer und Bettzeug verhelfen konnte, hat es den Eltern angeboten.
Der Tag spannt einen blassblauen Spätsommerhimmel über Göttingen. Nach kurzer Ruhe geht die Mutter mit den Kindern spazieren, durch die Allee Auf der Marsch vor zur Langen Marschstraße und bis zum Groner Tor, dann auf dem Stadtwall hinüber zum Weender Tor und die Weender Straße zurück. Vater musste in die Universität, Verwaltungsdinge. Die Mutter trägt einen himmelblauen Redingote und einen Sonnenschirm mit selbstgefertigter Stickerei. „Dafür bekommt man keinen Studenten“, murrt sie, den schweren Stab aus der einen Hand in die andere wechselnd, ein Schweißtuch zerknüllend. Der Dunst hüllt die hufeisenförmig um die Stadt gescharten Waldhügel und die Weiden mit ihren Kuhherden in Schleier. Von der Höhe des Walls, der mit Linden bepflanzt ist, schaut man in Hausgärten, Höfe, Winkel voller Gerümpel, auf eine Gänseweide, in einen stinkenden Graben. Über den Dachfirsten zeigen die Kirchtürme gen Himmel. Auf der Weender Straße muss man auf Kuhfladen achten und auf die ehrfürchtigen Grüße von Handwerkern, Ladenbesitzern und Studenten.
Das Wetter hat entschieden: Die Geburtstagsschokolade wird im Garten gereicht. Eine Kinderfrau bringt das kleine Dortchen Schlözer, damit es mit dem Luischen spiele; im Nachbargarten tauchen die Böhmerschen Kinder auf. Es versteht sich, dass sie herüberkommen. Mutter Böhmerin gratuliert fröhlich über den Zaun und gibt ihren Sprösslingen eine Schüssel Pflaumen mit. Charlotte Dorothea ist in Carolines Alter, und sie sind sonst gern beieinander. Aber der brennende Wunsch, dass Therese Heyne kommt, den Eltern zum Trotz, macht Caroline wortkarg. Sie spannt auf das Klappen der Haustür. Es ist aber Fritz, der große Bruder, schon über die Zwanzig, Student der Medizin. Caroline schaut zu ihm auf; an ihm gefällt ihr alles, auch das Fremde, das er vielleicht von seiner anderen Mutter hat. Er kleidet sich sorgfältig und modisch, lärmt und trinkt nicht, hält sich allem studentischen Kommers fern, ist nie schroff zu seinen Halbgeschwistern, immer gut aufgelegt. Seine Mutter starb, als er fünf Jahre alt war. Wie ist diese Friederike wohl gewesen? Jung Verstorbenen sagt man Gutes nach. In Gotha, denkt Caroline, werde ich mich prüfen können, ob ich meine Mutter liebe.
Wieder klappt die Haustür, wieder ist es nicht Therese.
Der Vater bringt seinen Kollegen, den Historiker Gatterer, mit, den seine Tochter Philippine begleitet. Das stadtbekannt gescheite, aber nicht hübsche Mädchen hat keine gleichaltrige Freundin und macht sich aus jungen Männern nichts. Viel lieber hat sie Caroline und Therese bei Spaziergängen und Handarbeiten um sich, und wer ihr nachsagt, sie sei ein wenig kindlich zurückgeblieben, weiß nicht, dass sie Gedichte schreibt und daran denkt, sie bei Dieterich drucken zu lassen. Sie zeigt ihr weit vorfahrendes Wurzelnäschen, während sie, die Röcke ausbreitend, Platz nimmt, grüßend am Tisch herum, und ihr Lächeln macht das große Kinn noch größer. Sie trägt ein Geburtstagsgedicht vor, genießt den Beifall und hört, während die Kinder spielen gehen, unabkömmlich mit Caroline den Vätern zu. Bei der Obrigkeit in Hannover wisse die eine Hand nicht, was die andere tue, weil der Landesherr, der Kurfürst, viel lieber König von England sei und nur prätentiöse junge Adlige nach Göttingen schicke, um die Professoren zu ärgern. Was denn zu halten sei von Johann Kaspar Lavaters „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, von der ein erster Band erschienen. Ob sie nicht Misstrauen und Vorurteil nähren, Unschuldige zu Verbrechern stempeln und Lumpen Komplimente machen, so dass sie das Gegenteil von dem bewirken, was sie zu befördern vorgeben. Alle Welt lasse sich die Silhouette schneiden, um sie entweder verschämt in der Schublade verschwinden zu lassen oder aufdringlich herumzuzeigen und zu verschenken. Philippine Gatterer weiß von einem neuen Roman Christoph Martin Wielands, von den Abderiten handelnd, sprichwörtlichen Tölpeln, deren auch in Göttingen nicht wenige herumliefen; vielleicht dürfe sich jede deutsche Stadt in Abdera wiedererkennen. Christoph Friedrich Nicolai, bemerkt Vater Michaelis, bringe einen sehr aufgeklärten Roman über einen von der Orthodoxie verfolgten Geistlichen heraus, mit Namen Sebaldus Nothanker. Goethe wolle nach Weimar gehen. „Er hat den Herzog erhört“, sagt Gatterer. – „Oder eine schöne Frau ihn“, entgegnet Michaelis und lacht mit kratziger Stimme. Das Pfänderspiel, das er vorschlägt, kommt nicht in Gang.
Fritz unterhält sich am Zaun mit Franz, dem Ältesten der Böhmerschar, der, gleichfalls angehender Medikus, aber ein Jahr weiter, mit ihm aus dem Kolleg gekommen ist, über chirurgische Dinge, fährt Caroline, die sich hinzugesellt, sanft übers Haar und sagt, sie brauche sich nicht zu genieren. Einen Menschen aufschneiden und wieder zunähen könne ihm das Leben retten. Sie wendet sich ab.
Im Garten steht Therese Heyne, den Arm voll Blumen, ein Päckchen mit Schleife obenauf, vermutlich ein Buch. Ja, Vater wollte sie nicht lassen, aber sie hat ihren Kopf durchgesetzt. Caroline, starr vom Warten, lässt sich umarmen, erwärmen, führt sie herum, weil Therese gut knicksen kann, das macht Stimmung für sie. Dabei erscheint ihr Professor Heynes lauernder Einsiedlerblick: Ich weiß, was für eine du bist, bei so einem Vater. Ich weiß, was für eine du wirst. Den Blick wird sie nicht los, seit sie einmal arglos aus ihres Vaters Zotologie zitiert hat. Auch der Geheime Justizrat Böhmer mag Professor Michaelis nicht sonderlich. Aber seine Kinder dürfen herüber, sooft sie wollen. Müssen denn kritische Nachbarschaften auch die Kinder entzweien?
Philippine bittet Therese, ein Gedicht aufzusagen. Sogar lateinische und griechische Verse lernt das Mädchen unglaublich schnell. Carolines Freude trübt sich: Auch sie wird Philippine auffordern, und sie wird es nicht so gut machen. Vater Heyne nennt sein gelehriges Äffchen in Ermangelung eines Sohnes sein „Ruschelhänschen“. Therese ziert sich nicht. Wie sie sich zurechtstellt und wartet, bis alle zuhören. Sie weiß, schon ihre melodiöse Stimme gefällt.
„Des Waldes Tiere sind dem Löwen untertan;
Der Eber schäumt und droht mit groß gewachsnem Zahn
Des Jägers stark gewordnen Gliedern:
Ich bin ein schwaches Weib und wehre mich mit Liedern.“
Das hat Philippine ihr ausgesucht! denkt Caroline. Denken die beiden bei dem Löwen und dem Eber etwa an unsere Väter? Abscheulich. Dann wäre Therese besser nicht gekommen. Caroline ist verstimmt, und ihr erscheint wieder der Hund, der den Geburtstagskuchen auffrisst. Hat sie sich zu heftig, zu trotzig auf Therese gefreut? Hat sie zu lange warten müssen, zu tief gezweifelt?
Die Verse sollen von der Karschin in Berlin sein, der berühmten Dichterin.
„Dem Vorbild aller Weiber, die mit Literatur glänzen möchten, weil sie sonst über keine Reize verfügen“, sagt die Mutter kalt.
Philippine Gatterer, in ihrer Erklärung unterbrochen, blickt erstaunt, macht aber keine Miene, die Bosheit auf sich zu beziehen, und bleibt sitzen. Caroline schaut sie dankbar an. Philippine ist in allen Journalen belesen und kennt jede neue Bucherscheinung. Und was Therese schon verschlungen hat. Caroline beschließt, in Gotha noch mehr zu lesen. Aber sie hofft auch, dort neue Freundinnen zu finden.
Zwölf Kinder machen gesellig. Mutter Böhmerin und ihr Gatte, der Geheime Justizrat, laden an manchem Sonnabend zu einem Ball ein und achten leidlich darauf, dass sich Paare für den Tanz fügen, zu dem Studenten aufspielen, Mitglieder des „Collegium musicum“ der Georgia Augusta, geleitet von dem Universitätsmusikdirektor Johann Nicolaus Forkel.
Solange es hell ist und nicht zu kühl, der Frühling ist weit genug fortgeschritten, dass die Abende lang werden und mild bleiben, sitzt man im Garten. Nahe bei der geöffneten Flügeltür locken die Musiker mit Geigen, Oboe, Fagott zu Menuett und Gavotte auf die frischgewachsten Dielen des Böhmerschen Hörsaals, dessen geweißte Wände sonst von der verschrienen „Pandektenseligkeit“ des Juristen, von den Satzungen des kanonischen Rechts, des Kirchenrechts, des römischen Rechts und ihren Erläuterungen widerhallen. Es geht familiär zu. Zwei Elternpaare lassen ihre Söhne und Töchter wie im Spiel einander den Hof machen, damit sie Manieren lernen. Auch gute Freunde sind zugelassen. Aus dem Spiel kann, wenn es sich ergibt, auch Ernst werden. Der elfjährige Philipp Michaelis und das neunjährige Dortchen Schlözer bemühen sich noch mehr um ihre Füßchen als umeinander. Aber Meta Wedekind, noch keine vierzehn, und der Musikdirektor machen einander Augen. Überhaupt sind auf der Damenseite in seltener Vollzähligkeit die unzertrennlichen Professorentöchter beieinander, die Göttingen als „Universitätsmamsellen“ kennt, unzertrennlich und doch oft getrennt durch Internatsjahre, Reisen, elterliche Gegnerschaft, eigenen Zank.
Philippine Gatterer, die Älteste, geht am Arm ihres Verlobten, eines Beamten aus Kassel. Ihr erstes Gedichtbüchlein ist seit gut einem halben Jahr unter den Leuten. Nicht jeder findet das schicklich, doch ihr Verlöbnis nahm keinen Schaden. Aus dem Wurzelnäschen ist eine Wurzelnase geworden. Die Tanzerei wirft auf ihr Lächeln den Schatten einer unerfreulichen, aber notwendigen Mühe.
Therese Heyne und ihre Schwester Marianne verdrehen angestrengt ihre Augen, als wünschten sie sich größere, um jedem Herrn, mit dem eine Figur sie zusammenbringt, den Kopf zu verdrehen. Das haben die mageren, kaum sechzehnjährigen Hühnchen der Sängerin Mara abgesehen, die im Vorjahr zwei Konzertabende in Göttingen gab. Nur Charlotte Böhmer, an die Caroline sich hält, wenn Therese sie ärgert, bewegt sich, sie ist ja zu Hause, natürlich.
Caroline wünscht sich, ebenso natürlich zu wirken. Aber etwas nachtun, um zu imponieren, ist nicht mehr natürlich. Wem auch imponieren, da der, den sie still ihren Auserwählten nennt, nicht dabei ist, da die Eltern, die ihn nicht präsentabel finden, ihr den Menschen auszureden versuchen. Sie langweilt sich und genießt es, das Gehabe der Feindinnen, mit denen sie befreundet ist, zu durchschauen. Sie hat allen etwas voraus. Ein heimliches Treffen ist eingefädelt; man wird es nicht bemerken, wenn sie ein Weilchen fehlt.
Ihr langes braunes Haar ist jetzt straff aus der Stirn zurückgenommen. Das Toupet verlängert ihren rundlichen Kopf nach hinten. Wenn Mutter sie tadelt, sie schaue zu oft in den Spiegel, erwidert sie, ein ordentliches Frauenzimmer müsse auf sich achten. Sie betrachtet sich ohne Nachsicht, auch wenn sie den zweiten Spiegel hinzunimmt, um ihr Profil zu sehen, die hochgewölbte Stirn, die leider zu flache Nase, das Mündchen. Männer mögen dickere Lippen, breitere Münder, auch wenn sie es nicht zugeben. Bruder Fritz, nun Doktor der Medizin, hat es ihr verraten, ohne zu ahnen, dass sie danach zweifelt, ob sie so küssen könne, wie es Männern gefällt. Thereses Lippen sind voller.
Sie achtet auch auf ihren Gang. Er soll nicht schlaksig sein, wie man es Marianne Heyne nachsagt. Und das gezierte Kopfwerfen versagt sie sich. Die Locken, die dazugehören, enthält ihr die Frisur, von der Mutter befohlen, ohnehin vor. Therese aber darf sich diese verführerischen Schläfenkringel drehen. Da sag einer, eine Stiefmutter sei böse. Und dieses übertriebene Zucken und Schütteln der Schultern beim Lachen. Albern. Hübsche neue Kleider sind nicht zu verachten. Sie lenken die Blicke auf das, was man ist, und wären es nur die der befreundeten Feindinnen. Denn Freundinnen, gibt es die? Man kann niemandem alles sagen. Sich selbst darf man nichts verschweigen. Sonst bleibt man dumm und tollpatschig. Sogar Mutter verstellt sich. Das gehorsame Eheweib, die fürsorgliche Mutter will nicht immer nur Vater gefallen haben: „Französische Offiziere machten mir den Hof, als ich schon mit dir schwanger ging.“ Erfolgreich verstellt sich nur, wer seine Eitelkeit bezähmt und sich nicht über sich selber täuscht. Man müsse sich selbst erkennen, sagen die alten Griechen. Caroline seufzt: Wir Weiber nasführen uns immer selbst, wenn wir uns erkennen wollen.
Philippine hat gut Männer ignorieren, sie ist unter der Haube. Ist man unter der Haube, kann es einem gleich sein, ob man eine Wurzelnase hat oder ein flaches, spitzes Näschen, das keck genannt wird. Wer der Männerwelt nie gefallen hat, nennt alle Männer fade. Kann eine Wurzelnase von ihrem Gatten Treue erwarten? Wenn sie das Dichten nicht lässt, wird sie es nicht leicht haben mit ihrem Beamten. Nur keine gehässige Nachrede! Die Mèdisance sieht das glänzende Los. Aber es ist noch gar nicht ganz aufgerollt.
Diese Männerwelt verdient ja auch kaum Beachtung. Weshalb finden sich diese dummen, eitlen Laffen unwiderstehlich? Nichts als Flausen unterm Haarbeutel, faul, versoffen, korrupt, ohne Achtung fürs weibliche Geschlecht. Die Fleißigen, die etwas werden wollen und sich pflegen, sind wählerisch. Höfliche Tändeleien, anspruchsvoll im Nehmen, voller Ausflüchte im Geben, außer wenn es nichts kostet, und die Gescheiten sind allenfalls gescheite Windbeutel.
Bei dem armen, gewitzten Blumenbach hat Caroline im Italienischen raschere Fortschritte gemacht als im Englischen und Französischen. Sie ließ sich ermuntern, vor Jahresfrist, ein Stück von Goldoni zu übersetzen, gewissermaßen unter seiner Aufsicht, und auf dem Papier kam seine korrigierende Hand der ihren oft recht nahe, Berührungen waren unvermeidlich. Ihm ihre Hand zu überlassen, fand sie noch angenehm und unverfänglich; als er ihren Handrücken küsste, hat sie ihm groß ins Gesicht gesehen, das zu leiden schien. Ohne Empörung, mit einem Ausdruck des Mitleids fast, hat sie sich gewehrt. In der nächsten Stunde blieb er ganz kalt, bis sie ihm ihre Hand aufdrängte. Das Grinsen, mit dem er jeden Finger einzeln abküsste, war ihr nicht geheuer. Als sein Mund näher kam, musste sie tun, was sie spielerisch mit Therese durchprobiert hatte: Lärvchen abwenden, aufspringen, sich entrüsten. Aber es lief nicht wie eingeübt, sein Mund fand ihren Hals, der spürte seine Lippen, wurde heiß und unbeweglich, seine großen Hände hielten ihre Schultern, glitten ihr unter die Achseln. Ein kaltes Zucken entriss sie wie von selbst seinen Fingern. Sie hatte sich schon verloren geglaubt, ohne recht zu wissen, was das sei. Doch der Magister, der die Theologie längst verabschiedet und sich naturkundlichen Fächern zugewandt hatte, der, seit er des emeritierten Professors Büttner Naturalienkabinett ordnete und daneben eine Kammer bewohnte, auf eine Professur zu hoffen wagte, Magister Blumenbach war eher an der Flügeltür als die flüchtende Caroline und keuchte krebsrot: „Kätzchen, wolltest du baden, ohne nass zu werden?“
Seither hat sie diesen Wurm im Herzen, den sich krümmenden, ringelnden, schlängelnden, den nagenden Wurm, der sich regt, sobald ein Mann ihr nicht unbefangen gegenübertritt. Sie will immer nur wissen, wie sie auf Männer wirkt, erfahren, auf wen sie Eindruck macht, denn das ist wichtig für ihre Zukunft. Aber nun ahnt sie auch: Was solch ein Mann mit ihr machen möchte, ist betörend süß. Und das darf sie nicht zulassen.
Sie kam an Blumenbach noch vorbei; aber es war schon zu viel, um es der Mutter zu sagen. Den Vater bat sie, die Italienischstunden zu beenden; ihre Kenntnisse rechtfertigten das. Nur eins fürchtet sie noch: dass er unter Freunden herumerzählt, was sie mit sich machen ließ, und einiges dazutut. Wenn sie durch Göttingen geht, argwöhnt sie wissende Blicke, spöttische, verächtliche. Wenn sie Therese glaubt, ist sie schon ganz unmöglich: Denkst du, dich nimmt noch einer, wenn dich ein anderer gehabt hat? – Was ist das: gehabt hat? – Man ist eben entehrt und unwürdig. Die Ehre hin, die Ehe hin. – Und seine Ehre? – Bei einem Mädchen lässt sich nachprüfen, ob es unbescholten ist, bei einem Mann denkt niemand daran, Männer dürfen eben mehr. Therese, obschon ein Jahr jünger, weiß mehr über geheime Weibersachen. Warum bleibt ihr nur diese vertraute Feindin, um darüber zu sprechen? Und dann sagt Therese nicht einmal alles, um noch etwas vorauszubehalten. Das Blut im Bett, von dem sie in Gotha überrascht wurde, musste ihr die Pensionatsmutter Schläger erklären. Von der eigenen Mutter kein Wort, und Therese hatte längst alles gewusst. Vater sagt noch immer Anzügliches über Thereses verstorbene Mutter, doch ein selbstdenkendes Frauenzimmer wird ihm nichts nachplappern. Hätte sie nur nicht immer Thereses anzügliches Geschwätz in den Ohren. Göttingen runzelte die Stirnen, und wer davon sprach, tat es mit einem Räuspern, als der bucklige Lichtenberg das zwölfjährige Blumenmädchen Maria Dorothea Stechard in sein Haus nahm. Therese sagte in ihrer Kammer hochnäsig schmunzelnd zu Caroline: „Du denkst doch nicht etwa, er will eine Philosophin aus ihr machen? Er macht mit ihr das und das.“ Gern hätte Caroline gefragt, was das und das sei, aber lieber gab sie vor, es längst zu wissen. Inzwischen weiß sie es von der Mutter, konnte es aus Umschreibungen mit abgewandtem Gesicht, als wäre der Ofen zu belehren, zusammenreimen. In ihrer Erregung hat sie kaum zuhören können, und ihr ist, als hätte sie das Wichtigste gleich wieder vergessen.
Ob Therese daran denkt, wenn sie jetzt Meyer anschielt bei der Figur, die sie im Tanz einander zuführt zu Verbeugung, Knicks, Drehung? Meyer in seinem Zebrarock, der ihm so steht, ist oft mit ihr gesehen worden, auf dem Wall, im Garten, ein langer, stattlicher Mann, weit gereist und selbstbewusst, gesellig, belesen, reich an Kenntnissen, überall gern gesehen als unterhaltsamer Causeur, wohl der gescheiteste unter den Windbeuteln und ein Dichter dazu. Als Jurist absolviert er sein Praktikum bei Pütter, in dessen Salon Konzerte gegeben werden, und immer hat Therese einen Platz in der ersten Reihe. Wahrhaftig, der Theseus, den Meyer in Bendas „Ariadne auf Naxos“ sang, wirkte hinreißend in seinem blinkenden Brustharnisch. Nur sollte Therese sich vor einem wackelnden Helmbusch hüten, heiße er nun Theseus oder Friedrich Wilhelm Ludwig Meyer, der aus dem rauen, treuherzigen Norden kommt, wo man mit verhaltener Polterstimme „übern spitzen Stein stolpert“. Vielleicht lässt er sich von Ariadnes rotem Faden durch die Labyrinthe der Göttinger Universität geleiten, um sie, hat er seine Ziele erreicht, gleich zu vergessen? Therese sollte sich ihm nicht so anbieten! Sie sollte Gott fürchten! O gäbe es ihn, man wüsste, woran man sich halten kann, hätte verlässliche Urteile über andere, über sich selbst.
Die Kopfverdreher lauern überall. Lotte mit ihren dreizehn Jahren, Caroline sieht sie in unbeweglicher Melancholie bei der Mutter sitzen, verwindet es nicht, dass ihr Pedro auf Böhmers Ball nicht zugelassen ist. Welcher Wind hat auch den Portugiesen aus Lissabon hergeweht, den Kaufmannssohn mit deutschen Verwandten, die ihn an Professor Michaelis empfahlen. Kaum hatte Blumenbach die Kammer überm Leinekanal geräumt, bezog sie Pedro Hockel, der sich auch Hocquel zu schreiben beliebt, weil ihm die deutsche Abkunft weniger bedeutet als der Verkehr mit englischen und französischen Gecken. Er hat Geld, ist hübsch und verschlagen und kann gute Manieren heucheln. Das genügt, dass Lottchen, kaum von den Puppen weg, ihm an den Hals fliegt; und er lässt sich genüsslich um den Bart gehen. Die kleine Lügnerin belügt sich selbst, wenn sie dem pomadisierten Südländer ernste Absichten zutraut. Wer sich mit ernsten Absichten trägt, hält es für schicklich, zu warten, bis aus dem Kind ein Mädchen geworden ist, mit dem man sich verloben kann, ohne dass alle Welt die Stirn runzelt und sich räuspert wie über Lichtenberg und die Stechard, lässt sich nicht dabei erwischen, wie er das frühreife Ding hinter einen Vorhang zieht, lässt sich nicht Briefe schreiben von der Art, wie Caroline einen in seiner Rocktasche fand: „Ich bin mit Leib und Seele Dein!“ Das im Kommers beim „Generaldampf“ herumgezeigt, und die Familie Michaelis ist hinten runter. Blumenbach würde nicht nur Pfeifenqualm beisteuern.
Caroline, aus dem Tanz entlassen, fühlt sich von ihrer Verantwortung für den Ruf der Michaelistöchter peinlich berührt. Täuscht nicht auch sie sich bei ihrem „Auserwählten“, der, da es dämmert, schon zwischen Papendiek und Petersilienstraße hin und her geht? Hört sie auf Mutter, die ihr die jüngeren Geschwister schamlos vorzieht, darf sie keinem Mannsbild trauen. Doch was kann ihr Vater über Männer sagen? Er will ein gelehrtes Frauenzimmer aus ihr machen. Richardsons Romane hat sie gelesen und Johann Martin Millers „Siegwart“. Von Christoph Friedrich Nicolais „Leben und Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker“ liest sie schon den dritten Band. Doch Goethes „Werther“, ein schmales Buch, das sich so mühelos und mit viel schöner Empfindung las, nennt er unzüchtig.