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Wünsch dich ins Märchen-Wunderland
Märchen für Herz und Seele im Jahresreigen
Band 3
Martina Meier (Hrsg.)
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Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2021 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR
Mühlstr. 10, 88085 Langenargen
Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2021.
Herstellung und Lektorat: CAT creativ - cat-creativ.at
Illustrationen und Cover: © Elena Schweitzer
alle Bilder Adobe Stock lizenziert
ISBN: 978-3-99051-057-5 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-99051-045-2 - E-Book
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Januar
Samuel und Caspar
Die drei Königsbrüder
Die drei, die dem Licht folgten
Die weise Königin
Februar
Mia und der Stern
Die Sternenbeschwörerin
Der Duft der Sterne
Die Sternenprinzessin
Der Wunschstern
Herz aus Gold
Februar
Das Mädchen auf dem Stern
März
Das Lächeln
Seefee, die Mondelfe
Eine intergalaktische Liebesgeschichte
Der Katzenmond
Träume werden wahr
April
Der größte Schatz
Ein unglaublicher Wunsch
Die kleine Meerjungfrau
Ayana
Nixi in Nöten
Der größte Schatz
Die Meeresprinzessin
Milly, die mutige Meerjungfrau
Prinzessin Karolina
Mai
Herz aus Stein
Die Nacht, in der die Motte das Licht fand
Das Mädchen und die Kröte
Wie die Muscheln ins Meer kamen
Die Rettung der Eichhörnchen
Das verlorene Herz
Clara und der Troll
Das Wunschtraum-Herzmädchen
Juni
Der König und die Nachtigall
Wo ist das Märchen-Wunderland?
Die Geschichte von Melina und Alicia
Das Buch der Wahrheit
Die verzauberte Muschel
Aus dem alten Märchenbuch
Eine ganz andere Welt
Das Buch
Die fliegende Prinzessin
Aras, M und alle die anderen
Süßer Brei
Das geheimnisvolle Buch
Die Pforte des Wissens
Hilfst du mir, helfe ich dir
Die Buchstabensammlerin
Das fremde Reich
Wie das Feenhaus ins Lexikon kam
Die zwei Spatzen
Die große Rettung
Juli
Der Geist der alten Villa
Das Haus der Rattendrachen Familie
Die Sage von den Zeterklippen
Mein Märchenschloss
Das Haus der Zeit
Trollregen
August
Herzlich willkommen!
Das Märchen vom klugen Schaf
Wolf und Geißlein
Die kleine Hexe Ringelschlingel
September
Eine erleuchtete Nacht
Alena, Mädchen der Sterne
Die Drachengeschichte
Mein Freund, der Wolf
Oktober
Der Wald der Erinnerungen
Fleur zaubert wieder
Der verzauberte Stein
Königssohn und Bauerntochter
Die kluge Kräuterfrau
Streiten macht einsam
Die verzauberte Prinzessin
Fee Laras Wunsch
Oktober
November
Der Diamant der Erde
Das kleine Monster, das nicht grün sein wollte
Das seegrasgrüne Seemonster
Das Kuschelmonster
Das Ungeheuer auf dem Dachboden
Das Monster im Schrank
Schneety
Darko und das Zauberwort
Monsteralarm im Märchenland
Der Wecker
Im Märchenland
Niko und die Hexe
Dezember
Die Schneeprinzessin Kristella
Gustje auf dem Weihnachtsmarkt
Das 24. Türchen
Das Märchen von der Schneeprinzessin
Rotkäppchens Glück
Mias großer Wunsch
Die verschwundene Adventsglocke
Käthe, die mutige Christbaumkugel
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*
Es war einmal ein kleiner Hirtenjunge, sein Name war Samuel. Er lebte in der Nähe von Bethlehem zusammen mit einigen anderen Hirten und den Schafen auf den Weiden. Samuel war sehr traurig, die anderen Hirten waren raue Gesellen und bis auf den alten Jakob nicht gut zu ihm. Außer dem alten Mann gab es niemanden, der sich um ihn kümmerte. Selbst seine Mutter nicht, für die war er eine Last und deshalb hatte sie ihn zu den Hirten gebracht.
Und so saß Samuel wieder einmal in einer kalten Nacht am Feuer, das er bewachen sollte, und grübelte. Da war doch in seinem Kopf und auch in seinem Herzen ein kleiner Funke Hoffnung. Er hatte etwas Großes erleben dürfen, den Besuch an der Krippe, gleich nach der Geburt des Jesuskindes, von dem man sagte, dass es der Retter der Welt sei.
Es waren noch andere Besucher im Stall von Bethlehem gewesen. Da waren drei Männer, man sagte, sie kämen aus dem Morgenland. Prächtige Gewänder trugen sie, nicht so dreckige stinkende Lumpen wie er und die anderen Hirten. Wertvolle Geschenke hatten sie dem Jesuskind mitgebracht, Weihrauch, Myrrhe und Gold. Es mussten schlaue reiche Leute sein. Einer von ihnen fiel Samuel besonders auf. Er hatte eine ganz dunkle Hautfarbe, so einen Menschen hatte Samuel noch nie gesehen. Die anderen Hirten hatten ihn auch bemerkt und machten sich lustig über ihn. Das fand Samuel nicht gut, er ging zu dem dunkelhäutigen Mann und wollte ihn trösten.
„Mach dir nichts daraus, sie wissen es nicht besser“, sagte er, „mich hänseln sie auch immer. Darf ich dich etwas fragen: Wo kommt ihr her, wer seid ihr und warum siehst du so anders aus?“
Der dunkle Mann lächelte und begann zu erzählen: „Ich bin Caspar, die beiden andern heißen Melchior und Balthasar. Wir kommen aus dem Morgenland und sind einem Stern gefolgt und der hat uns hierhergeführt zum Jesuskind. Weißt du, jeder Stern am Himmel hat eine Aufgabe. Oft nur eine ganz kleine, manchmal eine größere und dieser Stern hatte eine ganz große wichtige Aufgabe. Du siehst so traurig aus, was ist los, willst du es mir erzählen?“
Samuel war erstaunt, wie kam es, dass dieser fremdländische Mann bemerkte, dass es ihm nicht gut ging. Er fasste sich ein Herz, berichtete von seiner Mutter, die ihn nicht haben wollte, von Hirten, die ihn ausnutzen, auslachten und herumkommandierten. Und er erzählte sogar von seinem größten und geheimsten Wunschtraum, das Schreiben zu erlernen und ein gebildeter, wohlhabender Mann zu werden.
Caspar hatte gut zugehört und sprach: „Es gab vor einigen Jahren einen Jungen, ungefähr so alt wie du, nennen wir ihn Ben, dessen Geschichte möchte ich dir erzählen. Da, wo er lebte, war es gerade für Kinder sehr gefährlich. Böse Männer aus einem fernen Land, in dem es Kannibalen gab, waren gekommen, um kleine Jungen zu entführen. Bens Eltern wollten ihren Sohn schützen und gingen mit ihm an den großen Fluss, der nordwärts zum Meer fließt, zu einem Mann mit einem Boot. Dem gaben sie viel Geld und der Mann brachte Ben und noch einige andere Kinder in eine große Stadt am Meer. Da stand er, ohne Geld und ohne Essen. Was nun? Er irrte ein paar Tage durch die Stadt, klaute sich etwas zu essen und schlief in dunklen Ecken. Schließlich traf er einen Mann, eine finstere Gestalt. Der wollte Güter, die auf einem Boot im Hafen angekommen waren, durch die Wüste ostwärts an einen der größten Flüsse des Morgenlandes bringen. Dafür suchte er Kamele und Helfer und einen Jungen der nachts auf die Kamele aufpasste. Und dieser Junge sollte Ben sein. So zog er also mit der Karawane durch die Wüste und hatte wenigstens etwas zu essen. Die Männer waren nicht gut zu ihm, hänselten ihn, weil er so eine dunkle Haut hatte, ganz anders als alle andern aussah und er ihre Sprache nicht verstand. Wenn er nachts Wache hielt, kamen wilde Tiere oder Räuberbanden, welche die Karawane überfallen wollten. Ben musste höllisch aufpassen und rechtzeitig die anderen warnen. Zum Glück gelang ihm das immer. Wenn es ruhig war und er am Feuer saß, versuchte er, die fremde Sprache zu lernen. Als sie nach vielen Tagen in der Stadt am großen Fluss ankamen, stand dort ein Herr, der die Waren haben wollte. Ben half ihm, die Güter in sein Haus zu tragen, und machte sich gleichzeitig große Sorgen, weil er nicht wusste, wie es mit ihm weitergehen sollte. Das musste der Herr bemerkt haben, denn plötzlich bot er ihm einen Platz in seinem Hause an. Leichte Arbeiten und Botengänge sollte er verrichten, weil er so fleißig und so geschickt war. Von nun an ging es Ben gut und es kam noch besser. Eines Tages meinte der Herr, er hätte bemerkt, dass Ben ein intelligenter Junge sei und es wäre doch gut, wenn er schreiben und lesen lernte. Und er brachte ihn in ein Haus, das fast ein Palast war, dort gab es Gelehrte und Jungen, die etwas lernen wollten. Es waren Söhne von wohlhabenden einflussreichen Menschen und wieder bekam Ben zu spüren, dass er anders aussah und aus einem fremden Land kam, diesmal waren es Neid und Missgunst. Aber Ben ließ sich nicht beirren, er lernte schnell und viel. Die Sternenkunde interessierte ihn besonders. Es dauerte nicht lange, bis einer der wichtigsten Sterndeuter weit und breit war. Er wurde wohlhabend und hatte ein eigenes Haus und gab sein Wissen weiter, ohne etwas dafür zu verlangen. Jungen, die in Not waren, wurden seine Schüler. Ab und zu ging er mit anderen Sterndeutern einem Stern nach.“
Caspar holte tief Luft, bevor er weitersprach: „Ich muss nun gehen, Balthasar und Melchior wollen weiterziehen. Ich wünsche dir alles Gute und dass du aus deiner kläglichen Lage herauskommst. Denk mal über die Geschichte von Ben nach.“
Die Nacht war fast herum und Samuel hatte etwas beschlossen. Je länger er nachdachte, umso mehr wurde ihm klar, dass Caspar seine eigene Geschichte erzählt hatte und ihm Hoffnung machen wollte. Ben war nun bereit, sein kümmerliches Leben bei den Hirten aufzugeben und loszuziehen in eine hoffnungsvollere Zeit.
Der alte Jakob war aufgewacht und kam zu ihm. Samuel fragte: „Jakob, wo ist das Morgenland?“
„Im Osten“, antwortete Jakob, „da, wo gerade die Sonne aufgeht, deshalb heißt es Morgenland.“
„Dann gehe ich jetzt der Sonne entgegen“, sagte Samuel. „Schalom Jakob.“
Margret Küllmar, geb. 20.06. 1950, aufgewachsen auf einem Bauernhof in Nordhessen, nach der Schule Ausbildung in der Hauswirtschaft, dann Lehrerin an einer Berufsschule, jetzt im Ruhestand, schreibt Kurzgeschichten und Gedichte. Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und von drei eigenen Lyrikbänden.
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Es waren einmal drei Brüder, von denen herrschte jeder über ein eigenes Königreich. Denn die drei waren Drillinge, und als ihr Vater, der König, vor einigen Jahren gestorben war, wurde das Königreich unter den drei Brüdern aufgeteilt.
Nun begab es sich eines Tages, dass ein fremder Bote in alle drei Königreiche reiste und jedem der Brüder dieselbe Nachricht überbrachte. Sie war von einem mächtigen König aus einem fernen Land, der verzweifelt nach einem Ehemann für seine Tochter suchte. Daher lud er die drei Brüder zu sich in den Palast ein und jeder von ihnen sollte der Prinzessin ein Geschenk mitbringen. Da keiner der drei bisher eine Frau gefunden hatte, waren sie glücklich über diese Botschaft und machten sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg zum Palast des Königs.
Nach einer Reise von drei Tagen erreichten sie endlich das fremde Königreich. Dort im Palast wurden sie festlich empfangen und sahen zum ersten Mal die Prinzessin. Sie saß dort neben dem König und war wunderschön in ihrem prunkvollen blauen Kleid. Doch ihr Blick war traurig und sie lächelte nicht ein einziges Mal, seit die drei Brüder da waren.
„Willkommen in meinem Königreich, weit gereiste Freunde“, sagte der König zu den dreien. „Ich hoffe, eure Reise war angenehm. Dies ist mein ganzer Stolz. Meine Tochter Mirella.“ Er zeigte zu seiner Rechten. „Schon viele Könige und Fürsten kamen hierher, um meine Tochter zu gewinnen. Doch keiner hat es bisher geschafft. Seid also gewarnt. Mirella ist nicht leicht zu beeindrucken. Nun, tretet vor und zeigt uns, was ihr für Geschenke mitgebracht habt.“
Es machte also der erste Bruder einen Schritt auf die Prinzessin zu und holte eine kleine, juwelenbesetzte Schmuckkiste aus seinem Rucksack hervor. „Schöne Mirella, in meinem Königreich blühen der Handel und das Geschäft. Ich bin der reichste der Brüder und mit mir an deiner Seite werden dir die schönsten Schätze dieser Welt gehören“, sagte er und als er zu Ende gesprochen hatte, öffnete er die Schmuckkiste. Zum Vorschein kam eine strahlende Kette aus purem Gold.
„Das nenn ich mal ein Geschenk einer Königstochter würdig“, sagte der Vater der Prinzessin erfreut.
„Es ist die beste Arbeit meines teuersten Goldschmiedes. Ein ganzes Jahr hat er daran gearbeitet“, sagte der erste Bruder und legte der Prinzessin die Kette um den Hals. Da sie aus purem Gold war, war sie sehr schwer und zog ihren Kopf ein wenig Richtung Boden. Die Prinzessin sprach kein Wort und bedankte sich nur mit einem kurzen Nicken. Verwundert und enttäuscht entfernte sich der erste Bruder und der zweite Bruder trat hervor.
Der zweite Bruder öffnete seinen Mantel und zog ein großes Schwert aus der Scheide hervor. „Teuerste Prinzessin, in meinem Königreich werden die besten Soldaten und Waffenschmiede des ganzen Landes ausgebildet. Mit mir an deiner Seite seid Ihr stets sicher und wir werden die Stärke haben, andere Königreiche zu erobern. Nehmt dieses Schwert aus Drachenstahl als Symbol meiner Macht“, sagte der zweite Bruder, kniete sich vor die Prinzessin und bot ihr das Schwert an.
Wieder war der Vater der Prinzessin erfreut und sagte: „Mit ihm könntest du eine mächtige Königin werden, Mirella.“
Die Prinzessin nahm das Schwert zwar in die Hand, bedankte sich jedoch wieder nur wortlos mit einem kurzen Nicken. Da das Schwert viel zu schwer für sie war, wurde ihr gesamter Körper zur rechten Seite gezogen. Auch der zweite Bruder hatte scheinbar mehr erwartet und ging enttäuscht zurück.
Nun trat der dritte und letzte Bruder zögerlich hervor. „Liebe Mirella, mein Königreich ist weder besonders reich noch besonders mächtig“, sagte er und holte ein braunes Tuch aus seinem Rucksack. Er wickelte es aus und hielt nun eine kleine hölzerne Sanduhr in seiner Hand.
„So willst du eine Prinzessin beeindrucken?“, fragte der Vater empört und die beiden anderen Brüder lachten darauf im Hintergrund.
„Ich habe diese Sanduhr für euch geschnitzt“, sagte der dritte Bruder. „Denn ich möchte dir meine Zeit schenken. Wir können uns kennenlernen und durch die wunderschöne Natur meines Königreiches streifen.“
Als die Prinzessin ihn bloß starr und wortlos anblickte, senkte der dritte Bruder enttäuscht den Kopf und entfernte sich mit der Sanduhr in der Hand. Doch auf einmal war ein Klirren und Scheppern im Palast zu hören. Der dritte Bruder drehte sich noch einmal um und sah, dass die Prinzessin sowohl die Kette als auch das Schwert zu Boden geworfen hatte. Und noch etwas sah er. Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte die Prinzessin.
„Sehr gerne nehme ich dein Geschenk an und verbringe Zeit mit dir in deinem Königreich“, sagte die Prinzessin und streckte ihre Hand aus.
Daraufhin ging der dritte Bruder glücklich zu ihr und überreichte ihr die kleine Sanduhr.
„Auch wenn ich deine Entscheidung nicht verstehe, heiße ich sie trotzdem gut, denn selten habe ich dich so glücklich gesehen, meine Tochter“, sagte der Vater der Prinzessin.
So ging die Prinzessin Mirella mit dem dritten Bruder zurück in sein Königreich und sie verbrachten viel Zeit miteinander. Nach etwa einem Jahr heirateten die beiden und verbrachten ein ruhiges und glückliches Leben zusammen.
Marvin Czerlinski wurde 1993 in Witten geboren und lebt, studiert und schreibt in Kassel.
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Einst sagte man, dass ein kleiner Junge zur Welt kommen sollte, den man schon ungeduldig erwartete. Leute erzählten von ihm, dass er der Größte der Größten würde, ein richtiger Halbgott. Man sagte, dass er die Menschen von der Dunkelheit zurück ins Licht führen und ihre Schulden erlassen könnte. Keiner konnte sich wirklich vorstellen, was das bedeuten würde. Und niemand wusste, dass sie ohne ihn verloren wären. Die Menschen hatten so viel Böses getan, dass ihre Schuld sie träge und traurig machte. Und da sie nun alle so träge und traurig waren, taten sie noch mehr Böses und vergaßen ganz und gar, was eigentlich wichtig war im Leben. Doch der kleine Halbgott wurde schon im Himmel darauf vorbereitet, es sie zu lehren.
So viel wurde von dem Jungen geredet, noch bevor er zur Welt gekommen war, dass der Machthaber sich Sorgen um seinen eigenen Ruhm machte und eifersüchtig auf das Baby wurde. Der böse Herrscher schickte nach dem unbekannten Jungen, ließ Tausende Neugeborene entführen und bedrohte die armen Bürger. Er wollte nicht, dass ein Knabe in seinem Reich lebte, der mächtiger werden könnte, als er es selbst war. Die Bauern und Arbeiter, die in dem Land lebten, fürchteten sich und versteckten ihre Kinder, um sie vor dem sicheren Tod zu bewahren.
Doch ungeachtet der schaurigen Geschehnisse ließen sich drei weise Männer nicht davon abhalten, den kleinen Halbgott zu finden. Sie waren es nämlich, die all die großen Prophezeiungen in die Welt gesetzt hatten. Sie waren es, die wussten, was passieren würde, noch bevor es so weit war. Alt und weise, wie sie waren, hatten sie sich schon frühzeitig auf den weiten Weg in die Wüste gemacht, wo der kleine Junge bald zur Welt kommen sollte. Sie wanderten monatelang, nur mithilfe eines großen Lichtes am Himmel, in eine Richtung. Nichts konnte sie aufhalten und niemand konnte sie von ihrem Vorhaben, den kleinen Jungen mit eigenen Augen zu sehen, abhalten. Sie wollten ihm unbedingt ihre Geschenke bringen und sein Leben segnen, sodass er seine Aufgabe erfüllen konnte, wie es vorausgesagt worden war. Und sie hatten so viel Liebe für ihn im Gepäck, dass sie beinahe platzten. Denn sie kannten ihn, bevor er geboren war. Und sie liebten ihn, bevor er sie hätte lieben können.
Aber es gab ein Problem. Denn so reich sie auch an Weisheit und Alter waren, so fehlte es ihnen doch an allem anderen. Niemand kannte sie, denn sie lebten im Verborgenen. Und niemand half ihnen, denn man hielt sie für Bettler. Engstirnig und stur, wie die Leute waren, kamen sie nicht auf die Idee, fremden Reisenden Hilfe anzubieten, ihnen Essen oder einen Schlafplatz zu geben. Und so war ihre Reise lange und beschwerlich. Der eine war weither aus dem Osten gekommen, der andere aus einem anderen Reich weiter nördlich und der dritte aus den höchsten Bergen der Welt. Sie hofften und bangten, dass sie es rechtzeitig zur Geburt des Kleinen schaffen würden, ihr Ziel zu erreichen. Denn nur sie wussten, wie wichtig es sein würde, dass der Junge ihren Segen erhielt, bevor ihn die Soldaten des Machthabers entdeckten. Und sie durften es niemandem erzählen. Hätte auch nur einer der Soldaten erfahren, dass der Halbgott ihren Segen benötigte, um in der Welt groß zu werden, wäre alles getan worden, um die drei Weisen aufzuhalten. Mit Sicherheit hätte man sie ins Gefängnis gebracht und dort verrotten lassen. Also ließen sie sich nicht anmerken, dass sie heimliche Könige waren. Sie kleideten sich unauffällig und sahen aus wie arme Leute.
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als Tag um Tag weiterzugehen und darauf zu vertrauen, dass ihr Bauchgefühl stimmte, dass das Licht am Himmel sie an den rechten Ort bringen würde.
Eines Tages, sie waren schon weit gekommen, hörten sie die ersten Gerüchte der Geburt des Jungen. Sie wurden unsicher und dachten bei sich, dass sie zu spät wären und der Kleine verloren wäre. Doch der unter ihnen mit der dunklen Haut, der weit aus dem Osten gekommen war, redete den anderen beiden gut zu. Er erinnerte sie daran, wie wichtig ihr Beitrag für den Erfolg der Mission war und dass der Halbgott bestimmt nicht schon zur Welt gekommen wäre, ohne sie darüber zu informieren. Das half den anderen sehr und sie fassten neuen Mut, weiterzureisen. Doch insgeheim machte auch er sich Sorgen.
Immer mehr kleine Jungen wurden entführt und immer mehr Familien auseinandergerissen. So schlimm wurde es, dass die drei Weisen an ihrem Plan zu zweifeln begannen. Was, wenn ihr Vorhaben falsch war? Was, wenn sie mehr Übel verursachen denn Gutes auslösen würden? Sie wollten ihre Prophezeiungen rückgängig machen, sodass niemand mehr sein Leben deshalb verlieren müsste. Doch es war zu spät und das wussten sie. Die Bosheit der Menschen nahm zu, alle dachten nur noch an sich selbst und Nächstenliebe wurde zum Fremdwort. Übel um Übel wurde getan und scheinbar unbestraft gelassen. So sehr geriet die Welt in Ungleichgewicht, dass die Ankunft des Halbgottes nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte.
„Beeilen wir uns!“, sagten die drei Weisen sich und nahmen sich Esel, um schneller voranzukommen. Doch es war mitten im Sommer und heiß am Rande der Wüste. Die Esel schleppten sich mutig voran, denn auch sie wollten ihren Beitrag leisten und nicht versagen.
Und dann war es endlich so weit. Das große Licht am Himmel hielt an und zeigte damit den drei Weisen, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren. Bei einem abgelegenen, kleinen Ort machten sie Halt und erkundigten sich nach dem frisch geborenen Jungen. Doch niemand wusste etwas, denn die Mutter fürchtete um sein Leben und hatte die Geburt geheim gehalten.
Mitten in der Nacht fanden die drei Weisen schließlich den Eingang zu einer versteckten Scheune, in der der kleine Halbgott still und heimlich lag. Gebettet inmitten von Stroh, umgeben von Tieren, lag er da und wartete auf sie.
„Wir haben es geschafft! Er ist es! Jetzt wird alles gut!“, riefen sie, sprangen zu ihm und zeigten sich schließlich in ihrer wahren Gestalt. Ein jeder von ihnen war nun hübsch und reich gekleidet. Einer trug ein rotes Gewand und eine rote Krone, der andere hatte ein aufwendiges grünes Gewand und eine goldene Krone und der letzte war von Kopf bis Fuß in königlichem Violett gekleidet. Sie übergaben dem kleinen Jungen ihre Geschenke und knieten vor ihm nieder.
„Wir segnen dich und dein Leben, oh kleiner Gott! Von weit her sind wir gekommen, um dich in der Welt willkommen zu heißen. Mögest du genug lange leben, dass alle Prophezeiungen erfüllt werden können, und mögest du die Menschen lehren, was wichtig ist im Leben. Denn wir haben dich geliebt, bevor du bei uns warst. Und sie werden dich lieben, nachdem du wieder gegangen sein wirst.“
Und so wurde doch noch alles gut.
Adhikari Nadine wurde 1992 in Muttenz geboren und wuchs im schönen Baselland auf. Das Schreiben ist ihre Leidenschaft und größte Passion.
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Es war einmal in einer Zeit, in der die Menschheit gierig und unersättlich war, da lebte einst eine Königin in einem weit entfernten Land. Sie war wunderschön, ausgesprochen klug und besaß alles, was man sich nur vorstellen konnte.
Eines Tages plagte sie das Gefühl, ihr würde irgendetwas in ihrem Leben fehlen. Doch sie wusste nicht, was es war. Drum schickte sie ihre Ritter los, um danach zu suchen, und als der Nordstern seinen höchsten Punkt am Himmelszelt erreichte, kamen ihre Ritter mit drei Königen zurück. Die drei Könige lebten in weit entfernten Ländern und wollten die schöne Königin zur Frau haben. Jeder einzelne brachte der Königin ein Geschenk aus seinem Land mit, um sie von sich zu überzeugen.
„Der König mit dem schönsten Geschenk soll mein Gatte werden“, verkündete die Königin. Ein Raunen ging durch ihr Volk und jeder war gespannt darauf, für wen sich die kluge Königin entscheiden würde.
So schritt der erste König hervor. Die Menge staunte, denn seine Kleidung war mit vergoldeten Fäden genäht, die im Licht des Nordsterns hell leuchteten. Der König berichtete, dass es in seinem Land Flüsse voller Gold gäbe. So öffnete er seine Schatulle und zum Vorschein kamen die schönsten und größten Goldnuggets, die die Menschheit je gesehen hatte. Das Volk war sich sicher, dass die Königin ihn auserwählen würde und auch die schlaue Königin war sehr beeindruckt. Sie war sich jedoch nicht sicher, das gefunden zu haben, wonach sie suchte.
Dann schritt der zweite König hervor. Erneut staunte die Menge, denn seine Kleidung war mit glitzernden Diamanten besetzt, die im Licht des Nordsterns hell funkelten. Der König berichtete, dass es in seinem Land vielen Bodenschätzen gäbe. So öffnete er seine Schatulle und zum Vorschein kamen die schönsten und größten Diamanten, die die Menschheit je gesehen hatte.
Das Volk war sich sicher, dass die Königin nun ihn auserwählen würde und auch die Königin war wieder sehr beeindruckt. Sie war sich jedoch immer noch nicht sicher, das gefunden zu haben, wonach sie suchte.
Zum Schluss schritt der letzte der drei Könige hervor. Seine Kleidung war weniger leuchtend und weniger funkelnd, denn in seinem Land gab es weder Gold noch Diamanten. Die Menge spottete über den armen König und war sich sicher, dass er nicht der König ihrer Königin werden würde. Doch auch er öffnete seine Schatulle und zum Vorschein kam nichts. Die Schatulle war vollkommen leer.
Der König ging auf die Königin zu und sagte: „Meine Schatulle ist leer, doch wenn du mich zum Manne nimmst, will ich dir mein Herz mit all meiner Liebe schenken.“
Die zwei anderen Könige lachten ihn höhnisch aus und auch das Volk der Königin machte sich über den letzten der drei Könige lustig.
Die weise Königin jedoch war sich sicher, dass sie nun gefunden hatte, wonach sie sich in all den Jahren der Einsamkeit gesehnt hatte. Drum brachte sie Menge zum Schweigen und sagte: „Ich habe mich entschieden. Ich werde den letzten der drei Könige heiraten. Denn lieber lebe ich ein Leben voller Liebe, als reich und lieblos zu sterben.“
Märchen enden mit den Worten: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch dies ist kein gewöhnliches Märchen und so kam einst der Tag aller Tage, an dem die Königin im sehr hohen Alter umringt von all ihren Kindern und Enkelkindern starb. Während ein Lächeln ihre Lippen umspielte, schlief sie Hand in Hand mit der Liebe ihres Lebens ein und blickte zurück auf ein Leben voller Geborgenheit, Freude und Liebe.
Michéle Schröder, geboren 1991 in NRW, erfindet gerne Gutenachtgeschichten für ihre Töchter Hannah und Clara.
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Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Mia. Mia lebte allein mit ihrer Großmutter mitten im Wald in einer kleinen Holzhütte. Sie war fünf Jahre alt und fühlte sich oft sehr einsam, denn die Großmutter duldete es nicht, wenn Kinder aus dem Dorf zum Spielen vorbeikamen. „Mia, die Menschen sind schlecht, du kannst ihnen nicht vertrauen!“, antwortete die Großmutter jedes Mal, wenn Mia darum bat, eine Freundin einladen zu dürfen.
Mia wünschte sich so sehr eine Freundin, mit der sie alles teilen konnte. Sie stellte sich vor, was sie alles mit der Freundin machen würde: Blumen pflücken, Geschichten erzählen, schöne Bilder malen, Stöcke in den Bach werfen und bis ganz weit in den Himmel schaukeln, sodass es sich im Bauch anfühlte wie Brausepulver.
Oft saß sie nachts am Fenster und schaute hinaus. Sie liebte das Rauschen der Tannen und den Geruch nach Fichtennadeln. Ab und zu hüpfte ein Eichhörnchen von Baum zu Baum oder ein Specht klopfte. Mia fühlte sich sehr mit den Tieren des Waldes verbunden und spürte, dass sie irgendwie eine besondere Gabe hatte.
An einem Abend war die Großmutter schon früh zu Bett gegangen und Mia stand wieder am Fenster und spähte hinaus. Es war kalter Abend im Februar und die Tannen waren mit einer Schneedecke zugedeckt, fast so, als wollten sie den kalten Winter einfach verschlafen, um sich dann im Frühling wieder mit neuer Kraft der Sonne zuzustrecken. Ein heller Mond leuchtete am Himmel und neben dem Mond strahlte ein ganz besonders heller Stern. Mia betrachtete den Stern und fühlte sich magisch zu ihm hingezogen. So etwas hatte sie noch nie zuvor erlebt, es war wie Zauberei. Der Stern schien plötzlich ein Gesicht zu bekommen und lächelte Mia an.
„Du bist die kleine Mia, ich kenne dich gut!“, sagte er.
Mias Herz fing an zu klopfen. Das war doch alles gar nicht möglich, oder doch?
„Ich weiß, dass du sehr traurig bist, weil du niemanden zum Spielen hast!“, fuhr der Stern fort.
Mia nickte. Der Stern hatte genau recht. „Lieber Stern, wie kann ich das ändern? Meine Großmutter ist so menschenscheu, sie vertraut keinem!“, erklärte Mia.
„Ich weiß. Das ist eine lange Geschichte. Ich kenne deine Großmutter auch sehr gut. Sie wurde in ihrem Leben einmal sehr enttäuscht und ist nicht darüber hinweggekommen!“
Mia schluckte. Das hatte sie nicht gewusst.
„Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis!“, flüsterte der Stern. „Dein Großvater ist damals aufgebrochen, um Geld zu verdienen und als reicher Mann zu deiner Großmutter zurückzukehren. Er fällte Bäume in einem entlegenen Wald und arbeitete bis spät in die Nacht. Als er sehr viel Geld zusammen hatte, machte er sich glücklich auf den Weg nach Hause. Doch am dritten Tag seiner Wanderung wurde er von Räubern überfallen, die ihm alles nahmen bis auf das Hemd, das er am Leibe trug. Dein Großvater hatte keine Kraft mehr und wollte nicht mit leeren Händen als Bettelmann nach Hause zurückkehren. Er schämte sich so sehr. Deshalb lief er weit fort und kam nie mehr zurück. Deine Großmutter weinte viele Tage lang, denn sie dachte, ihr Mann hätte sie verlassen und irgendwo mit einer anderen Frau ein neues Leben angefangen. Dann beschloss sie, deine Mutter alleine großzuziehen, und ihr Herz wurde zu Stein!“
Mia lauschte angestrengt. Das war also der Grund, warum die Großmutter keinem Menschen traute. „Lieber Stern, wie kann ich Großmutters Herz wieder erweichen?“, fragte Mia. Ein kalter Luftzug wehte durch das Fenster und Mia schlotterte. Doch sie spürte, dass sie eine Antwort bekommen würde, und rührte sich nicht vom Fleck.
„Du musst deinen Großvater finden und ihn nach Hause holen!“, antwortete der Stern.
Mia erschrak. Wie sollte sie das schaffen? Sie war doch ein kleines Mädchen.
„Folge mir in der nächsten Nacht. Komm zu diesem Fenster und ich führe dich zu deinem Großvater! Zieh dich warm an und hab Vertrauen!“ Mia nickte und schloss das Fenster. Eine kleine Wolke hatte sich vor den Stern geschoben. Schnell huschte Mia in ihr Bett. Einschlafen konnte sie noch lange nicht.
Am nächsten Abend, nachdem die Großmutter sich schlafen gelegt hatte, zog Mia ihren dicken Wintermantel an und lief hinaus. Der Stern leuchtete hell über ihr und plötzlich war wieder sein Gesicht zu sehen.
„Liebe Mia, bist du bereit für deine große Reise?“, fragte er freundlich. Mia nickte.
„Vertraust du mir?“, fragte er weiter.
Auch jetzt nickte das Mädchen.
Der liebe Stern strahlte auf Mia hinab und sie spürte eine angenehme Wärme. Zwei große leuchtende Hände nahmen sie behutsam auf und Mia fühlte sich sehr geborgen. Dann flog sie wie auf einem fliegenden Teppich durch die Nacht. Der Wald unter ihr schlief unter seiner Schneedecke und die Hütte wurde kleiner und kleiner. Mia spürte den kalten Wind auf ihrem Gesicht, doch sie wusste, dass sie in Sicherheit war und dass ihr nichts passieren konnte. Ihr Stern war bei ihr. Er brachte sie zu ihrem Großvater.
Der Flug dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Der Himmel färbte sich von Schwarz zu Blau und dann zu Rot Violett. Am Horizont leuchtete er gelb. Mia wusste, dass dort ihr Ziel lag.
Der Stern brachte sie behutsam zurück zur Erde und sie hüpfte aus den schützenden Händen heraus. Neugierig sah sie sich um. Wo war sie hier gelandet? Sie stand vor einem alten Haus. War das das Haus des Großvaters? Es wurde langsam hell und der Stern verabschiedete sich.
„Lieber Stern, geh nicht weg! Was soll ich jetzt tun?“, rief Mia mit zitternder Stimme.
„Tu das, was dein Herz dir sagt!“, antwortete der Stern und verschwand hinter einer Wolke. Es war inzwischen hell geworden.
Mia wusste sich keinen anderen Rat, als an die Tür zu klopfen. „Hoffentlich ist es nicht zu früh!“, dachte sie bei sich.
Niemand öffnete. Doch dann hörte Mia Schritte, die immer näher kamen. Kurze Zeit später ging die Tür auf und ein alter Mann sah sie neugierig an.
Jetzt wusste Mia nicht, was sie sagen sollte. Die Geschichte, die eben passiert war, würde ihr sowieso keiner glauben. Der alte Mann und Mia wussten nicht, was sie sagen sollten. Da dachte Mia an die letzten Worte des Sternes: „Tu das, was dein Herz dir sagt!“ Mia lächelte und dann umarmte sie den alten Mann. „Opa!“, flüsterte sie.
Der alte Mann wusste nicht, wie ihm geschah. Doch dann traten Tränen in seine Augen und sein Herz wurde schwer. Er dachte an das Schreckliche, was vor vielen, vielen Jahren passiert war. Dann flüsterte er: „Ich bin so froh, dass du gekommen bist! Es wird höchste Zeit, dass ich deine Großmutter wiedersehe!“
Mia nickte und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann spürte sie eine große Müdigkeit in sich aufsteigen.
„Ich muss mich kurz hinlegen!“, sagte sie und der Großvater holte eine warme Decke und trug die kleine Mia auf sein altes Sofa vor dem Kamin.
„Heute Nacht musst du dich warm anziehen. Dann warten wir auf den Stern. Er bringt uns nach Hause!“, flüsterte Mia, bevor sie einschlief.
Der alte Mann nickte und holte seinen warmen Mantel. Er wusste, jetzt war alles gut.
Dörte Müller: (geboren 1967) schreibt und illustriert Kinderbücher. Sie lebt mit ihrer Familie in Bonn und unterrichtet an einer Gesamtschule.
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Es war einmal in einer Zeit, in der noch gar nichts war – außer ein paar Ideen und wenigen Personen. Es war eine Zeit, in der noch alles möglich war. In dieser Zeit lebte ein Mädchen namens Ada. Ada war von unglaublicher Schönheit, doch das spielte keine Rolle, denn in jener Zeit wurden die Menschen nicht nach ihrem Aussehen bewertet, sondern nach den Dingen, für die sie sich begeisterten. Ada begeisterte sich für Musik und Literatur. Jeden Morgen begann sie mit Gesang, sie trällerte, wonach sie sich fühlte, summte die Töne, die sie in ihrem Herzen fühlte. Danach setzte sie sich an ihren Lieblingsplatz und las. Sie las und las, bis es Abend wurde. Dann begrüßte sie die Nacht mit weiterem Gesang und legte sich anschließend zum Schlafen nieder.
So hätte Adas Leben harmonisch verlaufen können, doch leider gab es zu jener Zeit auch eine Fee. Die Fee war so fies, dass sie gar keinen Namen hatte, sondern von allen nur die fiese Fee genannt wurde. So namenlos, wie sie war, so groß war ihr Wille. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, sich das ganze Universum untertan zu machen. Vom Mond bis zu den Sternen und zurück. Jeden Tag übte sie fleißig neue Zaubersprüche und schrie Beschwörungen in den Himmel, damit die Sterne ihr gehorchten und ihren funkelnden Tanz nach den Wünschen der fiesen Fee ausrichteten.
Jedoch waren die Sterne nicht gewillt, sich beherrschen zu lassen. Sie zogen unbeirrt ihre Bahnen und strahlten gegen die Beschwörungen der fiesen Fee an, als wollten sie sagen: „Schrei doch so viel, wie du willst. Wir bleiben unbeeindruckt.“
Nur manchmal löste sich ein besonders schwacher Stern vom Himmel und fiel als Sternschnuppe ins schwarze Nichts des Universums hinab. Dann triumphierte die fiese Fee und veranstaltete ein Freudenfest, sie schwang ihren Zauberstab, hüpfte auf und ab und kreischte schaurige Melodien.
Grundsätzlich bot das Land in jenen Tag genug Platz, dass Ada und die Fee ohne Schwierigkeiten nebeneinander leben konnten. Allerdings gab es diese Tage, an denen Ada sich durch das Verhalten der Fee gestört fühlte. Sie konnte sich nicht auf ihre Bücher konzentrieren, wenn die Fee wilde Verwünschungen ausstieß, und sie konnte nicht schlafen, wenn die Fee Freudengesänge durch die Nacht kreischte. Deshalb klappte Ada eines Tages seufzend ihr Buch zu und ging zu der Fee hinüber. Mit spitzem Fingerknöchel klopfte sie an deren Haustür.
Die Fee öffnete überrascht.
„Hallo“, sagte Ada. „Ich wohne nebenan und fühle mich durch den Lärm, den du veranstaltest, gestört. Ehrlich gesagt“, schob sie hinterher, weil sie das Gefühl hatte, dass es dann höflicher wäre. Was es natürlich nicht war.
Jedenfalls fand die fiese Fee Adas Besuch extrem unhöflich. „Ich mache, was ich will“, kreischte sie schrill und warf die Tür zu.
Ada ging frustriert nach Hause, doch lesen konnte sie nicht mehr. Zu sehr drängte sich ihr eine Frage auf. Also erhob sie sich wieder von ihrem Lieblingsplatz und ging erneut zur Fee. Sie klopfte.
Die Fee riss umgehend die Tür auf. „Was willst du?“, blaffte sie.
„Genau diese Frage möchte ich dir stellen“, antwortete Ada freundlich. „Du hast gesagt, dass du tust, was du willst, und seitdem frage ich mich: Was will sie wohl machen?“
„Ich übe. Ich will mir das Universum untertan machen“, antwortete die Fee und wollte die Tür schon wieder schließen, doch Ada stellte einen Fuß dazwischen.
„Das geht?“, fragte sie. „Ich dachte immer, das wäre unmöglich.“
„Natürlich geht das“, erwiderte die Fee irritiert über so viel Interesse an ihren Plänen.
Es entstand eine unangenehme Pause.
„Ähm“, begann die Fee, „willst du vielleicht reinkommen? Ich könnte es dir erklären.“
„Das wäre wunderbar.“
Die Fee öffnete ihre Eingangstür weit und ließ Ada eintreten. Ada sah sich begeistert um. „Du hast ja viele Bücher!“
„Alle mit Zaubersprüchen.“ Die Fee nickte stolz. „Möchtest du einen Tee trinken?“
„Gern.“ Ada nahm vorsichtig am Tisch Platz, bemüht, keinen der zahlreichen Notizzettel, die darauf verstreut lagen, durcheinanderzubringen. „Entwickelst du eigene Zaubersprüche?“, fragte sie.
„Ja, natürlich“, entgegnete die Fee. „In den Büchern findet man keine Formel, um sich das Universum untertan zu machen. Das ist jahrelange Forschungsarbeit.“ Sie stellte einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit vor Ada hin. „Womit beschäftigst du dich den ganzen Tag?“
„Ich lese Märchen.“
„Was ist das?“
„Wunderbare Geschichten über die Ordnung des Universums, es gibt immer einen guten und einen bösen Charakter, die sich bekämpfen, das ist sehr lehrreich.“
„Ordnung des Universums, sagst du? Spannend …“ Die fiese Fee rieb sich nachdenklich das Kinn. „Vielleicht wären diese Bücher auch interessant für mich.“
„Ich kann dir gerne mal welche leihen“, lächelte Ada und legte die Hände um den Teebecher. „Aber vermutlich werden sie dir nicht gefallen.“
„Warum nicht?“
„Am Ende gewinnen immer die Guten. Das passt wohl nicht so zu deinen Plänen, dir das Universum untertan zu machen.“
„Woran erkennt man, wer der gute und wer der böse Charakter ist?“
„Oft schon am Aussehen“, erwiderte Ada, „die Guten sehen meist atemberaubend schön aus.“
„Ach …“ Die fiese Fee betrachtete Ada nachdenklich, wie sie einen Schluck Tee nahm. „Und die Guten gewinnen? Immer?“
„Ja. Aber selbst wenn man das vorher weiß, macht es Freude, die Märchen zu lesen. Die Sprache ist so anmutig.“ Ada nahm noch einen Schluck Tee, dann sprach sie aus, welcher Gedanke ihr gerade gekommen war. „Ich denke, wenn du Teil einer Geschichte wärst und würdest das Universum beherrschen wollen, dann müsstest du gut werden. ... Aber natürlich bist du nicht Teil einer Geschichte.“
„Nee, bin ich nicht.“ Die fiese Fee setzte sich Ada gegenüber an den Tisch. „Aber nur mal angenommen, du würdest wollen, dass die Sterne sich nach deinem Willen bewegen – was würdest du dann machen?“
„Ich würde ihnen vorsingen. Und dann mit ihnen gemeinsam tanzen.“
„Würdest du mir das mal zeigen?“
„Klar, warum nicht?“
Sie sahen beide aus dem Fenster. Die Zeit war vergangen, es dämmerte bereits und die ersten Sterne waren am Himmel zu sehen.
„Komm“, sagte Ada, stand auf und rannte leichtfüßig nach draußen. Dort sah sie zum Himmel auf und stimmte eine Melodie an. Einen Dank für den Tag und einen Gruß an die Nacht, einen Lobpreis auf alles, was war. Und tatsächlich. Vor den Augen der fiesen Fee begannen die Sterne zu tanzen, sie wiegten sich hin und her und stimmten ein in den Lobpreis auf die Schöpfung.
Die fiese Fee nickte. „Wenn das so ist“, sagte sie, „dann will ich auch gut werden. Würdest du mir Gesangsunterricht geben?“
Und schon nach wenigen Monaten sangen die beiden Freundinnen gemeinsam, sangen ihre Lieder, tanzten mit den Sternen oder lasen sich gegenseitig aus ihren zahlreichen Büchern vor.
Katharina Spengler (geboren 1983) lebt mit ihrer Familie im Taunus. Dort schreibt sie Geschichten für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. www.katharinaspengler.de.
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Es war einmal im Februar … Lotte hatte ein Geheimnis. Ein Geheimnis aus ihrer Kindheit. Obwohl sie inzwischen längst erwachsen war.
Das Geheimnis war der Duft der Sterne. Die nur für sie leuchteten und sichtbar wurden. Manche behaupteten, Sterne seien nicht mehr als Helium und Wasserstoff. Lotte wusste es besser. Sie besaß ihre eigene Milchstraße und nannte sie Lotupia. Keinem einzigen Menschen hatte sie dies je anvertraut.
Die Sterne machten sie auf ihre spezielle Art zu einer anderen. Einer anderen Lotte, als ihre Familie sie kannte. Dieses Wissen behütete sie wie einen kostbaren Goldschatz. Eines Tages würde sie ihrem Mann und ihren Kindern davon erzählen. Vielleicht behielt sie es aber auch für sich und schrieb stattdessen eine ihrer Geschichten. Lotte sah und roch die Sterne nicht nur. Die Sterne kamen sie besuchen …
Lotte musste nur warten und nicht ungeduldig werden. Wenn der Sternenstaub am Abend sanft an dem knorrigen Fenster anklopfte, wusste sie es. Dass sie da sein würden. Heute Nacht.
Manchmal war Emma Polaris die Erste, manchmal Felix, das Faultier, oder auch der alte Dackel Buck. Und all die anderen, die aus ihrem Leben gegangen waren, aber zusammen am Himmel auf sie warteten. Emma war mal wieder im Polarexpress auf abenteuerliche Unternehmungen aus und teilte Lotte lautstark ihren Unmut darüber mit, dass Felix und der alte Joe einfach solche Spaßbremsen waren. Emma war auch auf der Erde eine lebhafte und zauberhafte Freundin gewesen. Die beste. Bis es sie viel zu früh zu den Sternen zog. Vielleicht war Emma aber den Sternen schon immer näher gewesen als andere …
Emma baute ihr jedes Mal eine Sternenleiter und so gingen die beiden auf ihre unzähligen Abenteuerreisen. Hüpften von Stern zu Stern und sprangen von Planet zu Planet. Nichts war vor ihnen sicher und ihre Freundschaft schuf ein über den Horizont entstehendes Band.
Lotte kuschelte sich an ihre Freunde, ging zuerst mit der ungezähmten Emma auf Reise. Flüsterte danach mit Felix, dem süßen Stofftier, der mal wieder ein Auge verloren hatte, was sie ihm zum gefühlt tausendsten Mal liebevoll annähte. Mit Joe ging sie Stöckchen werfen und fragte ihn, ob er sich an den Jungen ihrer Kindheit erinnerte. Der, welcher eine hübsche Pudelhündin hatte. Der alte Buck wurde bei den Gedanken plötzlich jung und wedelte wie verrückt.
Nun waren fast alle ihre Lieben – ihre Sterne – da. Nach und nach gekommen. Lotte nahm sich Zeit. Für jeden, der auf Besuch kam und ihr die besonderen Augenblicke schenkte. Für jeden, der Sehnsucht nach ihr hatte. Mit manchen saß sie am Lagerfeuer und schwelgte in alten Zeiten. Mit anderen schuf sie neue Erinnerungen. Mit manchen lachte sie, mit manchen weinte sie und mit manchen tanzte sie.
Später erschien ihre Oma und mit dieser hängte sie die Wäsche auf und strich diese so glatt, wie es Oma ihr immer gezeigt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie kochten zusammen und Lotte las Oma aus dem Märchenbuch vor, was einst die Oma ihr vorgelesen hatte. Deren ausgeglichene Art spiegelte sich in Lottes Charakter wider. Oma wurde nach dem Zuhören immer müde und fing an zu frieren. Dann legte Lotte Oma ihre Lieblingsdecke um, umarmte sie fest und schickte wie wieder hinauf zu den Sternen.
Lotte schrieb manchmal. Nachts im Dunklen auf der grünen Wiese. Mit Taschenlampe und – mittlerweile – einer Lesebrille auf der Nase. Sie schrieb, was die Sterne ihr erzählten. Der Duft der Sterne umhüllte Lotte wie die Glasur eines Kuchens. Lotte fühlte sich frei mit ihnen. Konnte sich ausprobieren und austesten. Das war schon immer so.
Als letzter Stern tauchte stets ihr Vater auf. Zärtlich strich er ihr über den Kopf: „Du weißt doch, dass ich bis in dein Bett leuchte. Immer.“
„Ich weiß, Papa, doch ich fühle mich dir nirgends näher als hier, barfuß im Kleid, den Sternenhimmel über uns … An keinem anderen Ort bin ich mehr Lotte.“ Sie wiegten sich im sanften Sternenwind. Ihr Vater küsste sie zärtlich auf beide Wangen und drehte seinen Blick hoch zu den Sternen.
„Warte, Papa! Manchmal weiß ich gar nicht, wer ich wirklich bin …“
Ihr Vater legte seinen warmen Zeigefinger kurz auf Lottes Nasenspitze: „Du bist Lotte. Lotte aus Lotupia …“
Am liebsten stand sie danach in ihrem langen roten Kleid barfuß auf der Wiese. Ihr braunes Haar flatterte in sanften Wellen. Tiefseelig atmete sie den Duft der Sterne ein und streckte ihre Arme hoch hinaus, konnte sie spüren.
Einen ganz großen Stern und lauter kleine sonnige Monde schimmerten um ihn herum. Alles floss durch sie hindurch. Ihre Seelen. Liebe, Freundschaft, Trauer und Glück.
Lotte behauptete, wer sich nicht Zeit für die Sterne nahm, der nahm sich für nichts Zeit. Und vielleicht hat sie ja recht …
Denn Sterne sind wie Träume. Du kannst sie zwar nicht immer sehen, doch hören sie nie auf, in deinem Herzen zu funkeln …
Ramona Wesselow-Krystosek lebt mit ihrer Familie in Zürich. Die gebürtige Berlinerin findet im Schreiben den ausgleichenden Kontrast zur beruflichen Finanzbranche. Bisher lag der Fokus auf Kurzgeschichten. Sie bezeichnet sich als genre-offen und interessiert – an allen Dimensionen des Schreibens bis hin zur Lyrik. 2021 wird ihr Schreibfederkleid mit dem Kinderbuch „Alex’ Reise nach Saphora“ erstmals sichtbar.
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