image

„Wie tief hinab reicht das Erinnern?“ Eines der Lebensthemen von Franz Fühmann war die literarische Vergegenwärtigung seiner Kindheit und Jugend, die er im Nachhinein als „eine gute Erziehung zu Auschwitz“ bezeichnete. Einzelne Etappen dieser Zurichtung zum Nationalsozialismus hat er rückblickend in Erzählungen festgehalten. Der von Uwe Wittstock herausgegebene Band löst diese Texte aus der Reihenfolge ihrer Entstehung und ordnet sie nach den Entwicklungsstadien der kindlichen Hauptfigur. Es sind (bis auf das Schlussstück „Kameraden“) alles Ich-Erzählungen und sie lesen sich im Zusammenhang wie ein Erziehungsroman der schwarzen Pädagogik, wie ein kleiner, finsterer Coming-of-age-Roman. Die Zusammenstellung kann so liefern, was zur Wirkung Fühmanns auf ein großes Lesepublikum immer fehlte: einen gut lesbaren, anschaulichen, sprachlich herausragenden, populären Roman.

Franz Fühmann

Mein letzter Flug

Roman einer Jugend unter Hitler in acht Erzählungen

Herausgegeben von Uwe Wittstock

image

Das Judenauto

Indianergesang

Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume

Die Austreibung der Großmutter

Mein letzter Flug

Gebete zum Heiligen Michael

Die Verteidigung der Reichenberger Turnhalle

Kameraden

Den Katzenartigen wollten wir verbrennen

Meine Schulzeit im Dritten Reich

Nachwort

Das Judenauto

Wie tief hinab reicht das Erinnern? Ein warmes Grün, das ist in meinem Gedächtnis wohl das früheste Bild: das Grün eines Kachelofens, um dessen oberes Bord sich das Relief eines Zigeunerlagers gezogen haben soll, doch das weiß ich nur noch aus den Erzählungen meiner Mutter, keine Anstrengung des Hirns bringt mir dies Bild zurück. Das Grün aber habe ich behalten: ein warmes Weinflaschengrün mit stumpfem Glanz, und immer, wenn ich mir dieses Grün vor Augen führe, fühle ich mich leicht über den Dielen in Lüften schweben: Ich konnte, wie Mutter erzählte, die Zigeuner nur sehen, wenn Vater mich zweijährigen Knirps in die Höhe hob.

Dann folgt in meinem Gedächtnis etwas Weiches und Weißes, auf dem ich unendlich lange Zeit stillsitzen und dabei in ein sich auf- und abwärts krümmendes Schwarz starren mußte, und dann eine Höhle Holunder mit einer Bank und einem Mann drauf, der nach Abenteuern roch und mich auf seinem Knie reiten ließ und mir ein Stück wunderbar süßer Wurst in den Mund schob, die ich gierig kaute, und diese Erinnerung ist verbunden mit einem Schrei und einem Sturm, der plötzlich Mann und Laube von mir fortriß, um sie jählings ins Nichts zu wirbeln. Es war natürlich keine Sturmbö, es war der Arm der Mutter, der mich aus der grünen Höhle gerissen hatte, und auch der Schrei war der Schrei ihres Entsetzens gewesen: Der Mann, dessen Knie mich gewiegt hatte, war eine der Spottfiguren des Dorfs: ein heruntergekommener Großbauer, der, auf säbelkrummen Beinen einherschwankend, die Dörfer nach Brot und Schnaps zu durchbetteln pflegte, und der Geruch wilder Abenteuer war sein Atem von Brennspiritus und die Wurst ein Abfall der Roßschlächterei. Jedenfalls muß es herrlich gewesen sein, auf seinen Knien zu reiten: Es ist dies das erste Bild, das ich heute noch ganz deutlich vor mir sehe, und ich war damals drei Jahre alt.

Von da an folgen die Bilder dichter und dichter: die Berge, der Wald, der Brunnen, das Haus, der Bach und die Wiese; der Steinbruch, in dessen Grotten die Geister, die ich mir ausdachte, hausten; Kröte; Hornisse; der Käuzchenruf; die Vogelbeerenallee vor der grauen Fabrik; der Jahrmarkt mit seinem Duft von türkischem Honig und dem Drehorgelgeschrei der Schaubudenausrufer und schließlich die Schule mit ihrem kalkgetünchten, trotz der hohen Fenster stets düstren Korridor, durch den aus allen Klassenräumen heraus die Menschenangst wie ein Nebelschwaden kroch. Die Gesichter der Lehrer habe ich vergessen; ich sehe nur noch zwei verkniffne graue Augen über einer langgezognen messerscharfen Nase und einen von Ringen gekerbten Bambusstock, und auch die Gesichter der Mitschüler sind blaß und unscharf geworden bis auf ein braunäugiges Mädchengesicht mit schmalem, kaum geschwungnem Mund und kurzem hellem Haar über der hohen Stirn: Das Gesicht, vor dessen Augen man die seinen, zum ersten Mal durch eine rätselhafte Macht verwirrt, niedergeschlagen hat, man vergißt es nicht, auch wenn danach Bittres geschehen ist …

Eines Morgens, es war im Sommer 1931, und ich war damals neun Jahre alt, kam, wie immer wenige Minuten vor dem Läuten, das Klatschmaul der Klasse, die schwarzgezopfte, wie ein Froschteich plappernde Gudrun K. wieder einmal mit ihrem Schrei: »Ihr Leute, ihr Leute, habt ihr’s schon gehört!« in die Klasse gestürzt. Sie keuchte, da sie das schrie, und fuchtelte wild mit den Armen; ihr Atem flog, doch sie schrie dennoch: »Ihr Leute, ihr Leute!« und rang im Schreien schnaufend nach Luft. Die Mädchen stürzten ihr wie immer entgegen und umdrängten sie jäh wie ein Bienenschwarm seine Königin; wir Jungen jedoch achteten kaum auf ihr Getue, zu oft schon hatte das Klatschmaul etwas als Sensation ausgeschrien, was sich dann als Belanglosigkeit entpuppte. So ließen wir uns in unserm Tun nicht stören: Wir diskutierten gerade die neuesten Abenteuer unsres Idols Tom Shark, und Karli, unser Anführer, machte uns vor, wie man nach dessen Manier den gefährlichsten Wolfshund im Nu erledigt: ein fester Griff in den Rachen, dorthin, wo die Zähne am spitzesten stehn, den Oberkiefer festgehalten, den Unterkiefer hinuntergerissen, den Schädel im Wirbel gedreht und dem Tier einen Tritt in den Kehlkopf – da hörten wir aus dem Schwarm der Mädchen einen schrillen Schrei. »Iii, wie gräsig!« hatte eines der Mädchen geschrien, ein ganz spitzes quiekendes Iii des panischen Schreckens; wir fuhren herum und sahen das Mädchen stehen, die Hand vor dem weit offenen Mund und in den Augen das blanke Entsetzen, und die Gruppe der Mädchen stand vor Schauder gekrümmt. »Und dann rührn sie das Blut mit Nullermehl an und backen draus Brot!« hörten wir Gudrun hastig berichten, und wir sahn, wie die Mädchen sich schüttelten. »Was erzählst du da für ’n Quatsch!« rief Karli laut. Die Mädchen hörten nicht. Zögernd traten wir zu ihnen. »Und das essen sie dann?« fragte eine mit heiserer Stimme. »Das essen sie dann zu ihrem Feiertag, da kommen sie zu Mitternacht alle zusammen und zünden Kerzen an, und dann sagen sie einen Zauber, und dann essen sie das!« bestätigte Gudrun mit keuchendem Eifer. Ihre Augen brannten. »Was für ein Zauber?« fragte Karli und lachte, aber das Lachen klang nicht echt. Plötzlich fühlte ich eine seltsame Angst. »So red schon!« schrie ich Gudrun an, und auch die anderen Jungen schrien, und wir drängten uns um die Mädchen, die Gudrun umdrängten, und Gudrun wiederholte, in hastigen, fast schreienden Sätzen, ihren Bericht: Ein Judenauto sei, so sprudelte sie heraus, in den Bergen aufgetaucht und fahre abends die wenig begangenen Wege ab, um Mädchen einzufangen und zu schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz gelbes Auto, so redete sie, und Mund und Augen waren vor Entsetzen verzerrt: ein gelbes, ganz gelbes Auto mit vier Juden drin, vier schwarzen mördrischen Juden mit langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma; sie hätten sie an den Füßen aufgehängt und ihnen den Kopf abgeschnitten und das Blut in Pfannen auslaufen lassen, und wir lagen übereinandergedrängt, ein Klumpen Entsetzen, der kreischte und bebte, und Gudrun überschrie unser Grauen mit schriller Käuzchenstimme und beteuerte, obwohl niemand ihre Erzählung anzweifelte, gierig, das sei alles wirklich wahr, sie hätte das Judenauto ja selbst gesehen. Wenn sie gestern nach Böhmisch-Krumma gegangen wäre, um Heimarbeit auszutragen, hätte sie das Judenauto mit eigenen Augen sehn können: gelb, ganz gelb, und vom Trittbrett das tropfende Blut, und ich starrte Gudrun ins Gesicht, das rot war, und dachte bewundernd, daß sie ein tolles Glück gehabt habe, nicht abgeschlachtet worden zu sein, denn daß das Judenauto durch die Felder fuhr und Mädchen einfing, daran zweifelte ich keinen Augenblick.

Ich hatte zwar noch keinen Juden gesehen, aber ich hatte aus den Gesprächen der Erwachsenen schon viel über sie erfahren: Sie hatten alle eine krumme Nase und schwarzes Haar und waren schuld an allem Schlechten in der Welt: Sie zogen den ehrlichen Leuten mit gemeinen Tricks das Geld aus der Tasche und hatten die Krise gemacht, die meines Vaters Drogenhandlung abzuwürgen drohte; sie ließen den Bauern das Vieh und das Korn wegholen und kauften von überallher Getreide zusammen, gossen Brennspiritus drüber und schütteten es dann ins Meer, damit die Deutschen verhungern sollten, denn sie haßten uns Deutsche über alle Maßen und wollten uns alle vernichten – warum sollten sie dann nicht in einem gelben Auto auf den Feldwegen lauern, um deutsche Mädchen zu fangen und abzuschlachten? Nein, ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß das Judenauto existierte, und auch die Worte des Lehrers, der unterdessen die Klasse betreten und die Nachricht vom Judenauto, die alle Münder ihm zugeschrien, für wenig glaubwürdig erklärt hatte, änderten an meinem Glauben nichts. Ich glaubte an das Judenauto; ich sah es gelb, ganz gelb zwischen Kornfeld und Kornfeld fahren, vier schwarze Juden mit langen, spitzigen Messern, und plötzlich sah ich das Auto halten und zwei der Juden zum Kornfeld springen, an dessen Rand ein braunäugiges Mädchen saß und einen Kranz blauer Kornraden flocht, und die Juden, Messer zwischen den Zähnen, packten das Mädchen und schleppten es zum Auto, und das Mädchen schrie und ich hörte ihren Schrei und ich war selig, denn es war mein Name, den sie schrie. Laut und verzweifelt schrie sie meinen Namen; ich suchte nach meinem Colt, doch ich fand ihn nicht, und so stürzte ich mit bloßen Händen aus meinem Geheimgang hinaus und sprang die Juden an. Den ersten Juden schmetterte ich mit einem Schlag gegen das Kinn zu Boden; dem zweiten Juden, der das Mädchen schon hochgehoben hatte, um es in den Wagen zu wälzen, schlug ich mit der Handkante ins Genick, so daß auch er zusammensank; der Jude am Steuer gab Gas, und der Wagen schoß auf mich zu, doch darauf war ich natürlich gefaßt gewesen und schnellte zur Seite; das Auto schoß vorbei, ich sprang auf sein Heck, zertrümmerte mit einem Faustschlag die Wagendecke, drehte dem Juden auf dem Beifahrersitz das Messer aus der zustoßenden Hand, warf ihn aus dem Wagen, überwältigte den Juden am Steuer, bremste, sprang ab und sah im Gras vorm Kornfeld ohnmächtig das Mädchen liegen und ich sah ihr Gesicht, das vor mir reglos im Gras lag, und plötzlich sah ich nur ihr Gesicht: braune Augen, ein schmaler, kaum geschwungner Mund und kurzes, helles Haar über der hohen Stirn, und ich sah Wangen und Augen und Lippen und Stirn und Haar, und mir war, als sei dies Gesicht immer verhüllt gewesen und ich sähe es das erste Mal nackt. Scheu befing mich; ich wollte wegsehn und konnte es doch nicht und beugte mich über das Mädchen, das reglos im Gras lag, und berührte, ein Hauch, mit meiner Hand ihre Wange und mir wurde flammend heiß, und plötzlich brannte meine Hand: ein jäher Schmerz; mein Name dröhnte in mein Ohr; ich fuhr auf und der Lehrer hieb mir ein zweites Mal das Lineal über den Handrücken. »Zwei Stunden Nachsitzen«, schnaubte er, »ich werd dir das Schlafen im Unterricht schon austreiben!« Die Klasse lachte. Der Lehrer schlug ein drittes Mal zu; die Hand schwoll auf, doch ich biß die Zähne zusammen: Zwei Bänke vor mir saß das Mädchen, dessen Gesicht ich im Gras gesehn hatte, und ich dachte, daß sie jetzt als einzige nicht über mich lachen würde. »Im Unterricht schlafen – glaubt der Kerl, die Bank sei ein Bett!« Der Lehrer hatte das als Witzwort gesprochen, und die Klasse brüllte vor Lachen. Ich wußte, daß sie niemals über mich lachen würde. »Ruhe«, schrie der Lehrer. Das Lachen verebbte. Die Striemen auf meiner Hand wurden blau.

Nach dem Nachsitzen traute ich mich nicht nach Hause; ich grübelte, da ich langsam die Dorfstraße hinaufging, nach einer glaubwürdigen Ausrede und kam schließlich auf den Gedanken, zu Haus zu erzählen, ich hätte dem Judenauto nachgeforscht, und so bog ich, um nicht von der Hauptstraße, sondern von den Feldern aus nach Haus zu kommen, von der Straße ab und ging einen Feldweg hinauf, den Bergen zu: Kornfelder rechts und Wiesen links, und Korn und Gras wogten mir übers Haupt. Ich dachte nicht mehr ans Nachsitzen und nicht mehr an das Judenauto; ich sah das Gesicht des Mädchens in den Wellen der Gräser und im Korn sah ich ihr helles Haar. Die Wiesen dufteten sinnverwirrend, das pralle Fleisch der Glockenblumen schwang blau in der Höh meiner Brust; der Thymian sandte wilde Wellen betäubenden Duftes; Wespenschwärme brausten bös, und der Mohn neben den blauen Raden glühte, ein sengendes Gift, in hitzigstem Rot. Die Wespen schwirrten wild um mein Gesicht; die Sonne dünstete; die Grillen schrien mir eine irre Botschaft zu, große Vögel schossen jäh aus dem Korn auf; der Mohn neben den Raden lohte drohend, und ich war verwirrt; ich war bisher arglos in der Natur gestanden wie eins ihrer Geschöpfe, eine Libelle oder ein wandernder Halm, doch nun war mir, als ob sie mich von sich stieße und ein Riß aufbräche zwischen meiner Umwelt und mir. Ich war nicht mehr Erde und nicht mehr Gras und Baum und Tier; die Grillen schrien, und ich mußte dran denken, daß sie beim Zirpen die Flügel aneinanderrieben, und plötzlich kam mir das schamlos vor, und plötzlich war alles verändert und wie zum ersten Mal gesehn: Die Kornähren klirrten im Wind, das Gras schmiegte sich weich aneinander, der Mohn glühte, ein Mund, tausend Münder der Erde, der Thymian brodelte bitteren Dunst, und ich fühlte meinen Leib wie etwas Fremdes, wie etwas, das nicht Ich war; ich zitterte und fuhr mit den Fingernägeln über die Haut meiner Brust und zerrte an ihr; ich wollte schreien und konnte doch nur stöhnen; ich wußte nicht mehr, was mir geschah, da kam, Korn und Gras zur Seite drängend, ein braunes Auto langsam den Feldweg herunter.

Da ich es wahrnahm, schrak ich zusammen, als sei ich bei einem Verbrechen ertappt worden; ich riß die Hände von meiner Brust, und das Blut schoß mir jäh in den Kopf. Mühsam sammelte ich meine Gedanken. Ein Auto; wie kommt ein Auto hierher? dachte ich stammelnd, da begriff ich plötzlich: Das Judenauto! Ein Schauer überrann mich; ich stand gelähmt. Im ersten Augenblick hatte ich zu sehn vermeint, daß das Auto braun war; nun, da ich, entsetzt und von einer schaurigen Neugier gestachelt, ein zweites Mal hinblickte, sah ich, daß es mehr gelb als braun war, eigentlich gelb, ganz gelb, ein grellgelber Ton, und hatte ich anfangs nur drei Personen drin gesehen, so hatte ich mich sicher getäuscht, oder vielleicht hatte sich einer geduckt, sicher hatte sich einer geduckt, es waren ihrer vier im Wagen und einer hatte sich geduckt, um mich anzuspringen, und da fühlte ich Todesangst. Es war Todesangst; das Herz schlug nicht mehr; ich hatte sein Schlagen nie wahrgenommen, doch jetzt, da es nicht mehr schlug, fühlte ich es: ein toter Schmerz im Fleisch, eine leere Stelle, die, sich verkrampfend, mein Leben aussog. Ich stand gelähmt und starrte auf das Auto und das Auto kam langsam den Feldweg herunter, ein gelbes Auto, ganz gelb, und es kam auf mich zu und da, als habe jemand einen Mechanismus in Gang gesetzt, schlug mein Herz plötzlich wieder, und nun schlug es rasend schnell, und rasend überschlugen sich meine Gedanken: schreien, davonlaufen, im Korn verstecken, ins Gras springen, doch da fiel mir in der letzten Sekunde noch ein, daß ich keinen Verdacht erregen durfte und daß ich nicht merken lassen durfte, daß ich wußte, daß es das Judenauto war, und so ging ich, von Grauen geschüttelt, mäßigen Schritts den Feldweg hinunter, mäßigen Schritts vor dem Auto, das Schritt fuhr, und mir troff der Schweiß von der Stirn und ich fror zugleich, und so ging ich fast eine Stunde, obwohl es zum Dorf nur ein paar Schritte warn. Meine Knie zitterten; ich dachte schon, daß ich umfallen würde, da hörte ich, wie einen Peitschenschlag knallend, eine Stimme aus dem Wagen: ein Anruf vielleicht oder ein Befehl, und da wurde mir schwarz vor den Augen; ich spürte nur noch, wie meine Beine liefen und mich mit sich nahmen; ich sah und hörte nichts mehr und lief und schrie, und erst als ich mitten auf der Dorfstraße stand, zwischen Häusern und unter Menschen, wagte ich keuchend, mich umzuschaun, und da sah ich, daß das Judenauto spurlos verschwunden war.

Natürlich erzählte ich am nächsten Morgen in der Klasse, daß mich das Judenauto stundenlang gejagt und fast erreicht habe und daß ich nur durch ganz tolles Hakenschlagen entkommen sei, und ich schilderte das Judenauto: gelb, ganz gelb, und mit vier Juden besetzt, die blutige Messer geschwungen hatten, und ich log nicht, ich hatte alles ja selbst erlebt. Die Klasse lauschte atemlos; sie hatte mich umdrängt und sah mich bewundernd und auch neidvoll an; ich war ihr Held und hätte jetzt an Karlis Stelle ihr Anführer werden können, doch das wollte ich gar nicht, ich wollte nur einen Blick und wagte doch nicht, ihn zu suchen. Dann kam der Lehrer; wir schrien ihm die ungeheure Nachricht ins Gesicht; fiebernd schilderte ich meine Erlebnisse, und der Lehrer fragte nach Ort und Zeit und Umständen, und ich konnte alles genauestens angeben, da waren keine Mogeleien und Widersprüche, da gab es nichts als unwiderlegliche Tatsachen: das gelbe, ganz gelbe Auto, die vier schwarzen Insassen, die Messer, das Blut am Trittbrett, der Feldweg, der Befehl, mich zu fangen, die Flucht, die Verfolgung, und die Klasse lauschte atemlos, da hob das Mädchen mit dem kurzen, hellen Haar die Hand, und nun wagte ich, ihr ins Gesicht zu sehen, und sie wandte sich halb in ihrer Bank um und sah mich an und lächelte, und mein Herz schwamm fort. Das war die Seligkeit; ich hörte die Grillen schreien und sah den Mohn glühn und roch den Thymianduft, doch nun verwirrte mich das alles nicht mehr, die Welt war wieder heil und ich war ein Held, dem Judenauto entronnen, und das Mädchen sah mich an und lächelte und sagte mit ihrer ruhigen, fast bedächtigen Stimme, daß gestern ihr Onkel mit zwei Freunden zu Besuch gekommen sei; sie seien im Auto gekommen, sagte sie langsam, und das Wort »Auto« fuhr mir wie ein Pfeil ins Hirn; in einem braunen Auto seien sie gekommen, sagte sie, und sie sagte auf die hastige Frage des Lehrers, sie seien zur gleichen Zeit, da ich das Judenauto gesehn haben wollte, den gleichen Feldweg hinabgefahren, und ihr Onkel habe einen Jungen, der am Wiesenrand gestanden habe, nach dem Weg gefragt, und der Junge sei schreiend davongelaufen, und sie strich die Zunge über ihre dünnen Lippen und sagte, ganz langsam, der Junge am Weg habe genau solche grünen Lederhosen getragen wie ich, und dabei sah sie mich freundlich lächelnd an und alle, so fühlte ich, sahen mich an und ich fühlte ihre Blicke bös wie Wespen schwirren, Wespenschwärme über Thymianbüschen, und das Mädchen lächelte mit jener ruhigen Grausamkeit, deren nur Kinder fähig sind, und als dann eine Stimme aus mir herausbrüllte, die blöde Gans spinne ja, es sei das Judenauto gewesen: gelb, ganz gelb und vier schwarze Juden drin mit blutigen Messern, da hörte ich wie aus einer anderen Welt durch mein Brüllen ihre ruhige Stimme sagen, sie habe mich ja selbst vor dem Auto davonlaufen sehen. Sie sagte es ganz ruhig, und ich hörte, wie mein Brüllen jählings abbrach; ich schloß die Augen, es war Totenstille, da plötzlich hörte ich ein Lachen, ein spitzes, kicherndes Mädchenlachen wie Grillengezirp schrill, und dann toste eine brüllende Woge Gelächter durch den Raum und spülte mich fort. Ich stürzte aus der Klasse hinaus und rannte aufs Klosett und schloß hinter mir zu; Tränen schossen mir aus den Augen, ich stand eine Weile betäubt im beizenden Chlorgeruch und hatte keine Gedanken und starrte die schwarzgeteerte, stinkende Wand an und plötzlich wußte ich: Sie waren dran schuld! Sie waren dran schuld, sie, nur sie: Sie hatten alles Schlechte gemacht, was es auf der Welt gibt, sie hatten meinem Vater das Geschäft ruiniert, sie hatten die Krise gemacht und den Weizen ins Meer geschüttet, sie zogen mit ihren gemeinen Tricks den ehrlichen Leuten das Geld aus der Tasche, und auch mit mir hatten sie einen ihrer hundsgemeinen Tricks gemacht, um mich vor der Klasse zu blamieren: Sie waren schuld an allem; sie, kein andrer, nur sie! Ich knirschte mit den Zähnen: Sie waren schuld! Heulend sprach ich ihren Namen aus; ich schlug die Fäuste vor die Augen und stand im schwarzgeteerten, chlordünstenden Knabenklosett und schrie ihren Namen: »Juden!« schrie ich und wieder: »Juden!«, und wie das nur klang: »Juden, Judenl«, und ich stand heulend in der Klosettzelle und schrie Juden Juden Juden Juden, und dann erbrach ich mich. Juden. Sie waren schuld. Juden. Ich würgte und ballte die Fäuste. Juden. Juden Juden Juden Juden. Sie waren dran schuld. Ich haßte sie.

Indianergesang

Rothäutig kam die Dämmrung. Heroisch war
der Tod
.

Miklós Radnóti

GING GEI

DALLIMONI DILLIMONI NASSE

GING GEI

Gl GING GEI GA

GING GEI

DALLIMONI DILLIMONI NASSE

GING GEI

Gl GING GEI GA

BELLA BELL BELLAMA

BELLA MATSCHE BELLA MO

BELLA BELL BELLAMA

BELLA MATSCHE BELLA MO

TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI

TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI

WUMBA WUMBA

WUMBA WUMBA

– und mehr bedarf’s nicht, um diesen faszinierenden Schall zu bannen, denn wem hier noch nicht der Rauch der Prärie in die Nüstern und das Heulen der Squaws vor dem Marterpfahl ans Herz gestiegen ist, der braucht gar nicht mehr weiterzulesen. Uns jedenfalls überwältigten diese Verse beim ersten Hören, und wir begannen, als sie der Herr Kaplan mit uns für das große Missionsfest einstudierte, ihren Rhythmus sogleich an Ort und Stelle zu stampfen, und wenn auch keiner von uns gerade des Lesens mächtig gewordenen Landjungens Latein verstand, begriffen wir doch sofort, daß das herrliche Wort BELLA etwas mit Krieg zu tun haben mußte, denn schon bei der ersten Probe wechselten wir, ohne daß uns der Herr Kaplan besonders hätte darauf hinweisen müssen, an dieser Stelle aus unserm bis dahin gleichmäßig im Kreise trabenden Trott mit dem linken Fuß in den ersten Tritt eines savannenfressenden Stechschritts über und drückten die Knie durch und wölbten die Brust und reckten die Hälse und schmetterten blitzenden Auges: BELLA!, schallend aus den Fanfaren der Kehlen: BELLA!, und die Mauern und Zäune und Gatter sanken in sich zusammen, und der Herr Kaplan rief begeistert: »Gut so, Buben, brav so, recht so, singt’s so laut, wie daß ihr’s könnt!«, und er sprang, seine Kutte raffend, mit einem Satz an die Spitze unseres der noch fernen Schlacht entgegendürstenden Kriegszugs, und es hätte weder seiner hochgeschleuderten und drei Marschtakte lang über unseren Köpfen geschüttelten Faust noch dann des dämpfenden Zeichens der nun weitgespreizt mehrmals nach vorne wippenden Hand bedurft, um uns das MATSCHE, mit aller Stimmkraft bis zum Versiegen des Atems gebrüllt, das nach einem hastigen Luftholen folgende BELLA MO hingegen verhaltener, doch in einem unwiderstehlich wuchtigen Stoß endend, über den entsetzt sich duckenden Schulhof senden zu lassen. Wir hatten diesen Gesang im Blut, als wäre er uns an der Wiege gesungen worden.

Was Wunder, daß sich da Schritt und Ton von selbst ergaben; es konnte einfach nicht anders sein. GING GEI – die Stille, zerschlitzt und zerbeilt, klafft auf wie eine Nacht oder eine Felswand, und die Indianer brechen herein. Sie tragen Federn auf dem Kopf wie Geier, ihre Gesichter sind von schwarzen und roten Zonen durchquert, und in ihren Fäusten blitzen Klingen. Ihre Augen sind ins Weiße gezerrt, und ihre offenen Münder dampfen. Sie brechen ganz langsam herein wie ein Verhängnis, das hoffnungsverheißend gerade dann zögert, da es beschließt, von nun an unaufhaltsam zu sein, und so machen sie denn, indes ihre Äxte und Messer scheinbar unentschlossen warten, zwischen GING und GEI und auch noch nach dem GEI eine furchtbare Pause, und rings das lebendige Gras wird grau. Es müßte in Mürbheit zerbröckeln, da die Erde vor Angst den Atem anhält, doch da federt es schon wieder frisch und grün unterm Fuß der neuen Herren, denn nun sind die Indianer da, als seien sie es schon immer gewesen und es habe niemals diese Welt gegeben ohne sie und ihren Gesang: GING GEI DALLIMONI DILLIMONI – seht: da laufen sie in einem unermeßlich weit den Horizont begrenzenden Bogen; DALLIMONI DILLIMONI NASSE: leicht und locker, ihre Oberkörper wie Kronen im heiteren Atem des Kriegsgotts wiegend, laufen sie sich im lässigen Gliederlüften Savannen um Savannen ein, bis sie plötzlich mit einem Ruck ins ungeheure Stampfen des Heerzugs hinüberwechseln: BELLA, und da erzittert die Erde und reißt, und die Krieger wölben die Brust wie einem Himmel den Kugeln entgegen, die ihnen nun aus allen Blockhäusern und Forts der Bleichgesichter entgegenrasen, doch immer herrischer dröhnen die Füße: BELLA BELL BELLAMA, und wenn nun auch das Gras rings rot wird und die Schlünde der berstenden Steppe sich stumm mit Hinabgesunkenen füllen und wieder eben werden und sich erheben und zu Bergen wachsen: BELLA! BELL BELLAMA! BELLA MATSCHE! BELLA MO – o ihr Brüder in der Bläue des Schweigens, o ihr Berge am Weg, o ihr Blumen so rot –, und nun, da der rammende Stoß noch einmal zu neuem Anlauf zurückschnellt, beginnt die Rache zu brodeln: TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI – wehe euch, wehe; so saust es im Brand, ehe die Flamme herausschlägt, so siedet die Kampflust in den Nieren, so duckt sich der Tod zum Sprung, und so schleichen die Seinen: geduckt, hinuntergeduckt ins wandernde Lauern der Beile und Messer, deren Schneiden unhörbar zischen wie Vipern: TSCHALLAWEI TSCHALLAWEI –

»Schalawei«, unterbrach uns da der Herr Kaplan, »es heißt schalawei, Buben, nicht tschallawei, so belehrte er uns mit einer geduldigen Freundlichkeit, wie wir sie bisher von ihm, dem vor allem ob seiner Schläge auf die Knöchel und Fingernägel gefürchtetsten aller Lehrer, bisher nicht gekannt hatten, und er blieb auch das zweite Mal noch nachsichtig und war es unbegreiflicherweise selbst dann noch, als er mich Übeltäter mit Namen nannte. Nun hätte ich mich ja nie erdreistet, anders singen zu wollen, als der Kaplan es uns vorgelesen:

GING GEI

DALLIMONI DILLIMONI NASSE

GING GEI

Gl GING GEI GA

GING GEI

DALLIMONI DILLIMONI NASSE

GING GEI

Gl GING GEI GA

BELLA BELL BELLAMA

BELLA MATSCHE BELLA MO

BELLA BELL BELLAMA

BELLA MATSCHE BELLA MO

SCHALAWEI SCHALAWEI

SCHALAWEI SCHALAWEI

WUMBA WUMBA

WUMBA WUMBA,

allein als Indianer sang ich dann so selbstverständlich TSCHALLAWEI, daß ich gar nicht gemerkt hatte, falsch zu singen, und als ich nach der Belehrung durch den Herrn Kaplan meine Aufmerksamkeit ganz auf dieses Wort versammelte, platzte ich nach dem verhallenden MO einen halben Schritt zu früh in die Pause, und beim nächsten Mal, als ich auf die Pause achtete, sang ich gegen meinen Vorsatz wieder TSCHALLAWEI. Der Herr Kaplan ließ halten.

»Warum singst du denn immer so graulich falsch, Pepperl?« fragte er.

Diese unerwartete Frage an Stelle der längst fälligen Schläge überrumpelte mich, und ich sagte ohne Bedenken: »Weil es tschallawei heißt«, und die Klasse lachte.

Der Herr Kaplan erwies sich zu unserer Überraschung plötzlich als ein Mann von Witz. »Ha«, sagte er, »schau an, der Peppi kann Indianisch! Da legst dich nieder! Daß der Peppi ein sehr ein gescheites Köpferl hat, wissen wir alle, aber daß er gar Indianisch kann, hab ich nimmer gewußt!« Die Klasse lachte herzlich, genauer gesagt, nur die Jungens der Klasse, denn die Mädchen übten in der Turnhalle einen chinesischen Kirschblütentanz, und man hörte sie manchmal mit ihren dünnen Stimmen etwas wispern, das wie MING MANG MAU PING PANG PAU TSCHING TSCHANG TSCHAU klang und uns derart albern vorkam, daß wir gar nicht mehr darauf achteten. Die Klasse also lachte, und ich nahm es als Zustimmung. Natürlich konnte ich nicht Indianisch, aber daß es TSCHALLAWEI heißen müsse, schien mir so unabdingbar, daß mir darüber weder das Unerhörte meiner Widersetzlichkeit noch das der unheimlichen Güte des Herrn Kaplan bewußt wurde. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich von dem Gefühl erfüllt, vollständig recht zu haben, wie etwa der Ahorn recht hat, wenn seine Blätter gezackt und seine Früchte geflügelt sind, und ich glaubte ganz arglos, daß etwas, was mir derart selbstverständlich erschien, jedem anderen, wenn man es ihm nur sagte, auch so erscheinen müsse. Die Klasse also lachte, und ich nahm es als Zustimmung, doch der Herr Kaplan schüttelte sanft den Kopf. »Es heißt aber schalawei, Pepperl«, sagte er und zog das abgegriffene Büchlein, aus dem er uns den Gesang vorgelesen hatte, aus der Kuttentasche und schlug es auf. Er brachte die an den Ecken graugewetzten Blätter nur mit Mühe voneinander, schließlich aber hielt er nickend inne und hob das aufgeschlagene Büchlein wie die Hostie nach der Wandlung in die Höhe und schwenkte es, obwohl keiner von uns aus dieser Entfernung die Schrift entziffern konnte, langsam im Halbkreis, dann senkte er es wieder in Augenhöhe, räusperte sich und las uns vor. »Hier steht’s, Buben«, sagte er und äugte dabei über das Büchlein hinweg in unsere Mienen, »hier steht’s genau. ›Schalawei, schalawei, schalawei, schalawei‹, und danach ›wumba, wumba, wumba, wumba‹«, so las er Wort um Wort aus dem Drucktext, »lies selbsten, Pepperl!«

Meine Arglosigkeit war hilflos rein. Ich trat vor, und der Herr Kaplan hielt mir das Buch unter die Nase, und sein Daumennagel unterstrich die fragliche Zeile. Es war ein wulstig-runder, mit paarig abstehenden borstenhaften Härchen besetzter Daumen, sein Nagel war wachsweiß und rosig, und über ihm stand in fettig-verschmierten Buchstaben viermal das Wort SCHALAWEI, und hierhin paßte es genau.

Ich nickte.

»Lies laut vor, Pepperl«, sagte der Herr Kaplan. »Schalawei, schalawei, schalawei, schalawei«, las ich ohne Stocken, und dann fügte ich, zu dem nur wenig größeren Lehrer aufsehend, treuherzig hinzu: »Aber tschallawei ist halt viel schöner, Herr Kaplan!«

Über dem Schulhof leuchtete der bergegesäumte Himmel, und in der Luft war ein Gewoge von Amselschall. Ich erinnere mich nicht mehr, wie sich die Klasse verhielt, da ich sagte, daß TSCHALLAWEI viel tausendmal schöner als SCHALAWEI sei, genauer: ich nahm es wohl schon damals nicht wahr; der Eifer besseren Wissens hatte mich beseelt wie einen Heiligen, der den Schlangen oder einem Regen predigt, allein ich glaube, daß die Klasse nicht atmete. Hingegen weiß ich genau, daß der Herr Kaplan fast bittend sagte: »Aber so steht’s doch gedruckt, Peppi, und der hochwürdige Herr Erzbischof selbsten hat es so gutgeheißen«, und indem er dies sagte, klappte er das Büchlein zu und sah einen Augenblick wie träumerisch durch den graugrünen Einband mit der Weltkugel und dem Kreuz der Leiden, dann schlug er es mir von der Seite her auf den Nasenflügel und sagte dabei ganz leise und gelassen: »Schalawei!«

»Schalawei«, wiederholte er und schlug mit dem Büchlein auf die andere Seite. Ich fühlte keinen Schmerz, nur ein dumpfes Schwellen und hörte dazu die Stimme mit überwältigender Gleichtönigkeit sagen: »Es heißt schalawei!« Ich fühlte keinen Schmerz, das sagte ich schon, und ich fühlte auch nicht Wut und nicht Trotz und nicht einmal Angst, mich erfüllte nur ein vollkommen traumhaftes Verwundern über den Eintritt etwas gänzlich Unmöglichen, denn daß die Berge am Horizont einstürzten, das konnte wohl sein, sie waren ja alt, und in ihrem Inneren wühlten Gnome, daß die Vögel plötzlich mit Menschenstimme redeten, hatte Siegfried erlebt, warum sollte da nicht auch unsereins es erleben, daß aber SCHALAWEI das Richtige war, das konnte nicht sein, doch der dritte Schlag traf mit dem Buchrücken die Nasenspitze, und während nun der schießende Schmerz die Trümmer des Verwunderns fortriß, duckte der in den Winkel zwischen Backe und Nasenflügel geführte vierte die endlich zum Ausbruch gesammelte Empörung sofort wieder ins Dunkel des Schädels hinunter, und der in den anderen Nasenwinkel fahrende fünfte schließlich zog einen Schleier vor die Berge, und der Amselruf war in den drei Silben verschollen, die mich zugleich mit den Schlägen erschüttert hatten: »Scha!! – la!! – wei!!«

Lief Blut über meine Lippen? Ich spürte es nicht. »Alstern, wie heißt’s?« fragte der Herr Kaplan. »Schalawei«, sagte ich, den Mund unbeholfen unter der aufgedunsenen Nase bewegend und von nichts als der zuckenden Hoffnung erfüllt, das nun folgende Verhör durch zufriedenstellende Antworten möglichst rasch beenden zu können.

Der Herr Kaplan nickte und schlug mit dem Buchrücken bedächtig in die Nasenwurzel an der Unterkante der Augenbrauen. Dahin hatte er noch nie geschlagen; es tat furchtbar weh, und ich riß unwillkürlich den Arm zum Schutz hoch, doch da brauchte der Herr Kaplan nur ein wenig mit den Fingern zu schnalzen, schon packten zwei Freunde meine widerspenstigen Hände und hielten sie übereinandergekreuzt auf meinem Rücken fest.

»Ha«, sagte der Herr Kaplan befriedigt und steckte, dieweil er sich auf die Zehenspitzen erhob und mich unter bedeutungsvollem Nicken musterte, das Büchlein in die Kuttentasche. »Ha«, sagte er, und der Eifer schob seine Stirn auseinander, »warum hast’s dann nicht gesungen, wenn du’s also weißt?« Er packte, ohne eine Antwort abzuwarten, mein Ohrläppchen und drehte es über das Oberglied des zusammengeklappten Zeigefingers nach oben und drückte dabei mit der wachsenden Kraft einer Schraubenstange den eisenharten Untergliedknochen dieses Fingers unterm Muschelansatz ins Innenohr. Ich schrie auf und verstummte sofort wieder, da mein eigenes Schreien mich stach; der Druck über die ineinandergestauchten Gehörknöchelchen auf das Trommelfell war unerträglich; mein Schädel begann mit rauschendem Krachen zu bersten, und ich wimmerte ergeben, daß ich nichts wisse; ich war nichts als zerspringender Schmerz und Ergebung, und mein Wimmern war die Bereitschaft, alles nur Gewünschte zu sagen, doch der Herr Kaplan hatte Zug, Drehung und Druck dermaßen verstärkt, daß meine eigenen Laute mich ärger als Schläge trafen und noch mein Geheul sein Verbündeter war. »Antworten sollst!« schrie der Herr Kaplan und riß mich am Ohr in die Höhe, und meine Freunde rissen mich zugleich an den Händen nach unten; in diesem Augenblick muß es aber auch geläutet haben, denn die Mädchen kamen von der Turnhalle her über den Schulhof, und das rettete mich.