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Table of Contents

Titel

Impressum

Vorwort

Erster Teil: Die Ungnade der frühen Jahre

Erstes Kapitel: Die Vertuschung

Zweites Kapitel: Lüge und Ablehnung

Drittes Kapitel: Das Schicksal schlägt erneut zu.

Viertes Kapitel: Das Leben in der Dunkelheit

Fünftes Kapitel: Mein neues Leben

Sechstes Kapitel: Schuljahre sind keine Herrenjahre

Siebtes Kapitel: Aldura

Achtes Kapitel: Der perfide Plan

Neuntes Kapitel: Endlich leben

Zweiter Teil: Ein neuer Lebensabschnitt: Meine Jugend

Zehntes Kapitel: Gravierende Veränderungen

Elftes Kapitel: Das Leben im Heim und in den Werkstätten.

Zwölftes Kapitel: Eine neue Zeit beginnt.

Dreizehntes Kapitel. Aufbruch zu neuen Zeiten

Vierzehntes Kapitel: Tiefschläge

Fünfzehntes Kapitel: Neue Wege

Sechzehntes Kapitel: „Sabrina“

Siebzehntes Kapitel: Erfolg und Vorurteil

Achtzehntes Kapitel: Badezeit!

Nachwort:

Mehr von John Barns bei DeBehr

 

 

 

John Barns

 

 

 

 

Die Schande

muss weg

 

 

 

 

 

Autobiografischer Roman einer Kindheit in der Hölle

Der Bauernclan Band 1

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

 

 

 

Copyright by: John Barns

Fotos © by John Barns und AdobeStock ©

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2021

ISBN: 9783957539182

 

Vorwort

 

„Gesundheit ist ein Geschenk, das einem jederzeit genommen werden kann.“

 

Lange, wirklich sehr lange habe ich überlegt, ob und wie ich dieses Werk schreibe, denn schließlich ist es der Spiegel meines Lebens, insbesondere meiner Kindheit, über die ich hier berichte. Seit jenem Tage, da ich das Licht dieser Welt erblickte, wurde ich körperlich gebrandmarkt. Bis heute, mehr als sechzig Jahre später, kann ich nicht vergessen, was seinerzeit geschah. So wache ich bis heute nachts immer wieder auf, da mich die Albträume und Schmerzen meiner Kindheit verfolgen.

Einst fragte mich ein Psychologe, als ich ihm von meiner Kindheit berichtete, wie ich das überleben konnte. Ich kann es bis heute nicht sagen. Ich weiß nur, ich habe all die Grausamkeiten, all die Demütigungen und Intrigen überlebt, über die ich in dieser Autobiografie schreibe. Bei der Recherche habe ich viele Menschen befragt, die von meinem Leben wussten. Daher kommt es vor, dass ich einige Passagen aus der Sicht Dritter schildere.

Da ich einem bekannten Bauernclan aus einem kleinen Dorf nahe der Stadt Paderborn entstamme, mussten aus rechtlichen Gründen die Namen der Personen zum Großteil verändert werden. Die Orte hingegen habe ich bewusst nicht verändert, da sich hier jene unfassbaren Ereignisse abspielten, von denen ich berichte. Ebenso wurden die Namen einiger Personen beibehalten, da sie im Raum Paderborn bekannt sind, auch wenn sie zum Großteil schon verstorben sind.

Noch Lebende, und an den Ereignissen beteiligte Personen, werden sicher abstreiten, mit den Vorfällen etwas zu tun zu haben, doch wissen sie, dass es die Wahrheit ist, über die ich hier schreibe.

So schaue ich nun zurück auf ein Leben, das von Schmerzen und Ablehnung, von Hoffnungen und Enttäuschungen, und leider auch von vielen Vorurteilen geprägt war:

 

Erster Teil: Die Ungnade der frühen Jahre

 

Erstes Kapitel: Die Vertuschung

 

„Wer einen Fehler macht, sollte dazu stehen, doch wer hat den Mut dazu? Wahrscheinlich die Wenigsten.“

Wir schreiben den 14. April 1958. Meine Mutter wurde an diesem Tage ins Andreas-Krankenhaus in Schloss Neuhaus eingeliefert, wo ich das Licht der Welt erblicken sollte. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Geburten wählte sie dieses Mal das St. Andreas-Krankenhaus in Schloss Neuhaus. Warum ausgerechnet meine Geburt hier erfolgen sollte, entzieht sich meiner Kenntnis. Fest steht jedoch, es gab Probleme bei meiner Geburt. Hinzu kam der unglückliche Umstand, dass die diensthabende Hebamme völlig überfordert war.

Statt jedoch einen Arzt hinzuzuziehen, handelte sie auf eigene Faust, was mein Leben von der ersten Sekunde, und damit für immer, bestimmen sollte und mit deren Auswirkungen ich bis zum heutigen Tage leben muss. Sie bekam das in Steißlage befindliche Kind am Arm zu fassen, und als eine weitere Wehe meine Mutter fast um den Verstand brachte, zog sie mit aller Kraft daran. Es gab ein dumpfes Geräusch, so als wenn jemand einen nassen Lappen gegen eine Wand schleuderte. Tatsächlich hatte sie mich auf die Welt gebracht, doch hatte sie mir dabei den rechten Arm regelrecht abgerissen. Das hätte nicht passieren dürfen. Zwar bemerkte sie die klaffende Wunde, aus der das Blut schoss, doch anstatt sofort zu handeln, versuchte sie, ihren Fehler zu vertuschen. So wickelte sie mich, zusammen mit dem Arm, in die bereitliegenden Tücher.

In diesem Moment betrat der diensthabende Arzt das Entbindungszimmer, um sich nach dem Zustand seiner Patientin zu erkundigen.

„Es ist alles gut gelaufen“, log die Frau. Als der Arzt jedoch sah, wie die weißen Tücher sich vom Blut rot färbten, sah er genauer hin und erkannte sofort, was passiert war. Er ergriff das Bündel.

„Wir sprechen später darüber“, drohte er im scharfen Ton und begab sie zusammen mit mir in den nächsten Operationssaal. Er wusste, dass er so schnell wie möglich handeln musste, wollte er mein Leben retten. So gut es ging, versorgte er mich, um danach den bekannten Professor Dominicus in Paderborn anzurufen, der dafür berühmt war, dass er schon so manchen aussichtslosen Fall gerettet hatte.

Als der erfahrene Arzt von dem Fall hörte, versprach er, so schnell wie möglich zu kommen. Innerhalb der nächsten halben Stunde war er vor Ort und übernahm den Kleinen. Dieser war inzwischen bewusstlos und der Professor wusste, dass er hier schnellstens handeln musste, um mein Leben zu retten. Mit vereinten Kräften und manchem Stoßgebet schafften es die beiden Ärzte, die Blutung zu stoppen und die Wunde zu vernähen. Dass es sich dabei nur um eine Erste-Hilfe-Maßnahme handeln konnte, war den beiden schon jetzt klar. Zu schlimm war die Verletzung, als dass man sie hier vor Ort optimal behandeln konnte. Daher beschloss man, mich mit dem Rettungswagen in die Uniklinik Münster bringen zu lassen, wo ich nach gut zwei Stunden Fahrt auch eintraf. Hier nahm man sich meines gerade begonnenen Lebens an.

Es grenzt fast an ein Wunder, dass es gelang, die große Wunde komplett zu verschließen, dass sie verheilen würde. Leider konnte man die inzwischen geschädigten Nerven und Sehnen nicht mehr komplett retten. Ich, der junge Hilschen, würde mein Leben mit einer Behinderung beginnen. Zudem war durch die Gewaltanwendung der Hebamme mein ganzes Skelett verschoben. Um es zu richten, wurde ich in eine Schale aus Gips gebettet, die so langsam die Knochen in die richtige Stellung bringen sollte.

Von all dem hatte meine Mutter Antonia wenig mitbekommen. Sie war froh, dass sie die Geburt überstanden hatte. Zugleich wunderte sie sich, warum man ihr den Säugling nicht wie üblich in den Arm gelegt hatte. Als sie sich bei der Hebamme erkundigte, log diese erneut.

„Ihr Sohn wird gerade versorgt und untersucht“, versuchte sie, meine Mutter Antonia zu beruhigen. Dass etwas nicht stimmte, wurde ihr sofort klar.

„Was ist mit meinem Kind?“, fragte sie erneut nach. Anstatt eine Antwort zu bekommen, verließ die Hebamme wortlos den Raum. Sie geriet nun erst recht in Panik und versuchte, sich zu erheben, was ihr nicht gelang. Zu sehr hatte sie die Geburt geschwächt. Erst nach Minuten des stillen Bangens kam der Arzt zu ihr und wunderte sich, dass sie allein im Raum war.

„Was ist mit meinem Kind?“, fragte sie ihn voller Sorge.

„Hat es Ihnen die Hebamme nicht gesagt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Sie hat einfach den Raum verlassen“, gab sie zu verstehen.

Nun stieg regelrechte Wut in dem Arzt auf. Wie konnte man so unverantwortlich sein? Er trat an ihr Bett und versuchte, ihr mit ruhiger Stimme klarzumachen, was passiert war. Meine Mutter hörte nur stumm zu.

„In Münster ist ihr Sohn in besten Händen“, versicherte er ihr und wusste zugleich, dass es nur die halbe Wahrheit war. Er wollte der Frau einen weiteren Schock ersparen.

„Wichtiger ist jetzt erst mal, dass Sie ordentlich versorgt werden“, versuchte er abzulenken. Auch wenn Antonia das einsah, so machte sie sich dennoch größte Sorgen um ihren Nachwuchs. Würde sie erneut ihrem Mann Hubert sagen müssen, dass eines ihrer Kinder schwer erkrankt war? Das wäre nun schon das zweite Kind. Ihr ältester Sohn war ja schon dort in Münster. Schon lange hatte man nichts mehr von ihm gehört, da sie sich um ihre anderen Kinder kümmern musste. Außerdem war es ein langer Weg bis dahin. Da man auf dem Hof kein Auto hatte, musste man eine mehrstündige Bahnfahrt machen, um nach Münster zu gelangen. Hinzu kam, dass man Heinrich gerne verschwieg, denn auf dem Dorf galt es bei vielen als „Strafe Gottes“, ein behindertes Kind zu haben. Nur aus dem Grunde hatte man sich entschieden, ihn in Münster groß werden zu lassen. Ihr Sohn war nun zehn Jahre alt und würde seine Eltern wohl kaum erkennen. Nun also war ihr jüngster Spross ebenfalls dort. Was würde aus ihm werden?

„Wie soll denn der Kleine heißen?“, unterbrach der Arzt sie in ihren Überlegungen.

„Josef, nach seinem Urgroßvater“, beantwortete Antonia spontan die Frage.

„Wenn die Ärzte aus Münster sich melden, werde ich es ihnen sagen“, versprach der Arzt. Tatsächlich kam der Anruf noch am selben Tage. Schon nach meiner Ankunft in Münster hatte man mich notgetauft, da die Gefahr bestand, dass ich nicht überleben würde. Da man nicht wusste, wie ich heißen sollte, hatte man einen willkürlichen Namen gewählt. Der Name wurde nun nach Münster weitergegeben. Dabei vergaß man jedoch zu erwähnen, dass ich bereits getauft war. Da sich der Bischof zu Münster insbesondere für das Schicksal der kleinsten Patienten interessierte, kam ihm der Vorfall des kleinen Jungen zu Ohren. Er suchte ihn in der Klinik auf und erkundigte sich nach meinem Zustand. Als feststand, dass ich überleben würde, beschloss er, mich zu taufen, denn man wusste ja nie, was noch auf mich zukam. Damit sollte es jedoch nicht genug des göttlichen Segens sein, denn einige Jahre später, als ich auf den Hof zurückkam, wurde ich in der kleinen Kirche erneut getauft. Viele, viele Jahre später erfuhr ich per Zufall davon.

So lag ich hier in Münster. Noch war ich zu jung, um zu erfassen, was mir widerfahren war. Während der ersten Monate meines unschuldigen Lebens wurde ich von einer Schwester der Klinik besonders umsorgt. Jene Schwester Kunigunde hatte schon bei der Einlieferung von meinem Schicksal erfahren. Auch wenn sie auf der Station sehr viel zu tun hatte, so beschloss sie bei meinem Anblick, sich besonders um mich zu kümmern, auch wenn das einen Großteil ihrer freien Zeit beanspruchte. Ich wurde sozusagen ihr Pflegekind, das sie umsorgte wie ihr eigenes. Ihr war bereits damals klar, dass ich kein normales Leben führen konnte, denn meine Behinderung hatte mich schon jetzt für immer gezeichnet.

Hätte sie geahnt, was mich noch in meinem Leben erwarten würde, sie hätte vermutlich alles dafür getan, mich noch mehr an sich zu binden. Oft verbrachte sie Stunden bei mir am Krankenbett, um zu beten, dass noch alles gut würde. Ihre Gebete wurden jedoch nicht erhört.

 

Zweites Kapitel: Lüge und Ablehnung

 

„Jede Lüge kommt irgendwann ans Tageslicht. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Für mich hingegen war es normal, dass ich meinen rechten Arm nicht einsetzen konnte und im Gipsbett schlief. Da ich nicht wusste, wer meine Eltern waren, sah ich in der Ordensschwester meine Mutter. Wenn sie an mein Kinderbett trat, freute ich mich, sie zu sehen. Ja, ihre Augen leuchteten regelrecht, so als ob ich in ihr Herz und ihre Seele schauen könnte.

Während ich so in mein Leben startete, kehrte Antonia nach einigen Tagen zurück auf den Hof. Zwar erkundigten sich die Nachbarn nach dem Verbleib des Nachwuchses, doch anstatt über die tatsächlichen Umstände zu berichten, fand sie immer wieder neue Ausreden.

So hieß es lange, er wäre bei seiner Geburt gestorben. So etwas kam seinerzeit immer wieder vor. Nach außen hin mochte das für die Familie befriedigend sein, denn schließlich ging es um das Ansehen des Bauerclans der Hilschen. Wenn Antonia jedoch allein war, weinte sie oft, und bat im Stillen um Abbitte für ihre Lügen. Ihr Mann verstand sie nur zu gut, denn auch Hubert hatte sich bereits auf den Kleinen gefreut. Als er seinerzeit Antonia direkt nach der Geburt im Krankenhaus besuchte und von dem Vorfall erfahren hatte, tat er alles, um sie zu trösten.

 

„Es ist besser so“, hatte er zu ihr gesagt und sie umarmt.

„Wie meinst du das, es ist besser so?“, hatte sie nachgefragt.

„Dass der Kleine jetzt in Münster lebt. Du hast doch noch die anderen gesunden Kinder, um die du dich kümmern musst. Stell dir vor, wie viel Zeit du brauchtest, um Josef zu versorgen. Das schaffst du gar nicht.“ Da war wohl was dran, und auch wenn es ihr am Anfang komisch vorgekommen war, so gewöhnte sie sich an den Gedanken. Das Leben musste weitergehen. Zwar bekam man immer wieder Post aus Münster, mit der Bitte doch nach dem Sohn zu sehen, doch ignorierte man sie. Da die anderen Kinder Josef nicht kannten, fiel es ihnen nicht schwer, an das zu glauben, was man ihnen gesagt hatte. Es gab nur eine Person, die Kritik übte und sich nicht damit abfand, Huberts Schwester Therese.

Als erfahrene Kinderärztin wusste sie sehr wohl, dass Josef lebte, denn sie war im selben Krankenhaus tätig, wie jener Professor, der dem Kleinen einst das Leben gerettet hatte. So hatte sie von dem Vorfall erfahren. Als Josef nach Münster kam, dauerte es nicht lange, bis sie von dort erfuhr, dass der Kleine dort lebte. Daher war sie entsetzt, als sie hörte, was man im Ort verbreitete. Sie suchte den Hof auf und stellte das Paar zur Rede.

„Was seid ihr nur für Menschen!“, tadelte sie ihren Bruder scharf, kaum dass sie ihn sah. Hubert sah sie böse an und versuchte, ihr klarzumachen, dass er es für besser hielt. „Hubert, Josef ist dein Sohn!“

„Ja, das ist er, aber er ist auch behindert. Ich möchte es Antonia nicht zumuten, sich um ihn zu kümmern“, versuchte er sich zu rechtfertigen.

„Du meinst wohl eher, dass du dich um ihn kümmern musst. Hubert, ich habe dich immer als Bruder geschätzt, aber das, was du hier tust, kann und will ich nicht verstehen.“

„Therese halt dich aus unseren Angelegenheiten raus. Du lebst doch längst in Paderborn dein eigenes Leben.“

 „Das werde ich ganz sicher nicht. Denk doch mal weiter. Irgendwann wird Josef das Krankenhaus verlassen müssen und was dann?“

 „Dann werden wir schon eine Lösung finden. Im Moment ist es gut so, wie es ist.“

„Willst du ihn etwa auch so abschieben wie deinen ältesten Sohn, nur damit der Ruf der Familie gewahrt bleibt?“ Hubert sah sie böse an, auch wenn er wusste, dass seine Schwester im Grunde recht hatte. Anstatt in Münster zu leben, hätte man ihn ja auch hier auf dem Hof leben lassen können. Sicher, Heinrich war behindert und Josef auch, aber man hätte eine Lösung finden können. So hatte man den bequemen Weg gewählt und sich seiner Verantwortung entzogen.

„Wenn du dich nicht um deinen Jüngsten kümmern willst, ist das deine Entscheidung. Ich werde jedoch nicht einfach nur zusehen.“

„Was willst du denn tun?“, fragte Hubert nach, denn er befürchtete, dass die Wahrheit ans Licht kam und so die Familie gebrandmarkt wurde.

„Als Erstes werde ich nach Münster fahren und mich persönlich um den Kleinen kümmern.“

„Tue, was du nicht lassen kannst, aber belästige uns nicht weiter“, fuhr Hubert sie schroff an.

Antonia hatte die ganze Zeit nur stumm danebengestanden und das Gespräch verfolgt. Als Hubert sich abwendete, suchte sie das Gespräch zu Therese.

„Verstehe uns doch bitte. Wir haben so viel auf dem Hof und mit den anderen Kindern zu tun, da kann ich mich nicht noch um ein schwerkrankes Kind kümmern.“

„Josef ist nicht krank, er hat nur eine Behinderung“, stellte Therese verbittert klar.

„Ob krank oder behindert, das macht doch keinen Unterschied.“

„Oh doch, denn das ist ein gewaltiger Unterschied. Bei einer Krankheit könnte ich dich noch verstehen. Da braucht es ärztliche Betreuung und Medikamente. Josef aber braucht keine Medikamente. Er braucht Eltern, die ihn lieben!“

„Wie soll ich ein Kind lieben, das ich noch nie gesehen habe? Josef ist für mich ein fremdes Kind.“

„Dann ändere es und fahre nach Münster. Wenn du möchtest, begleite ich dich. Gerne helfe ich euch auch, wenn es darum geht, den Kleinen richtig zu pflegen, aber verdammt noch mal steht zu eurem Kind!“ Therese hatte sich in Rage geredet. Was waren die beiden doch für Sturköpfe. Aber das war typisch für die Hilschen. Auch wenn sie dieser Familie entstammte, so hatte sie mehr von ihrer Mutter als ihr Bruder. Würde Franziska noch leben, es hätte eine solche Diskussion nie gegeben. Sie hätte keine Sekunde gezögert, die beiden Kinder auf den Hof zu holen.

„Ist es dir ernst mit dem, was du gesagt hast?“, unterbrach Antonia sie in ihren Gedanken.

 „Ja, es ist mein voller Ernst. Ich werde dir helfen, so gut ich kann. Notfalls komme ich jeden Tag auf den Hof.“

„Also gut. Ich spreche mit Hubert und versuche, ihn zumindest von einem notwendigen Besuch in Münster zu überzeugen. Ich gebe ja zu, ich bin auch neugierig, wie es meinem Sohn geht und wie er aussieht.“

„Das wäre doch mal ein erster Schritt in die richtige Richtung Antonia. Ich nehme dich beim Wort. Nächste Woche komme ich wieder. Bis dahin möchte ich wissen, wie ihr euch entschieden habt.“

„Ja, tue das.“ Antonia zögerte eine Sekunde, was Therese bemerkte.

„Was hast du noch auf dem Herzen?“

„Kannst du dich bis dahin nach Josef erkundigen, und falls es möglich ist, wäre es schön, ein Foto von ihm zu haben, damit ich mich auf das vorbereiten kann, was mich erwartet.“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Therese. Bereits am nächsten Tag rief sie in Münster an. Sie erfuhr, wie es dem Kleinen ging und auch die Bitte nach einem Foto wurde ihr erfüllt. Man war in der Klinik ja froh, überhaupt etwas von der Familie aus dem entfernten Ort zu hören. Wenige Tage später erhielt sie ein Schwarz-Weiß-Foto per Post. Sie sah es sich an und stellte fest, dass der Kleine doch ein hübscher Junge war, wäre da nicht seine Behinderung gewesen. Der Arm und die Schulter des Kleinen waren in dicke Verbände gehüllt, sodass man nur das Gesicht sehen konnte.

Josef war inzwischen ein halbes Jahr alt, aber schon jetzt erkannte die erfahrene Krankenschwester, wie er wohl später aussehen würde. In der gleichen Zeit bekniete Antonia ihren Mann immer wieder, doch mit ihm nach Münster zu fahren. Zunächst hatte sich Hubert immer abgewendet, wenn es um das Thema Josef ging, doch so leicht gab seine Frau nicht auf.

„Josef ist mein Sohn und er lebt. Ich kann mit der Lüge nicht länger leben.“

„Das musst du aber. Stell dir vor, wie die Familie dasteht, wenn es herauskommt, dass er lebt. Nein, es ist besser so, wie es ist. Es tut mir leid, Antonia, aber ich werde meinen Entschluss nicht ändern. Für mich ist er gestorben und damit hat es sich.“ Antonia sah ihn entsetzt an. Wie konnte er seinen eigenen Sohn so verleumden? Sie dachte nach, und erkannte, dass sie selbst ein großer Teil der Schuld traf. Schließlich hätte sie ihm ja von Anfang an widersprechen können. Doch hatte sie um des Friedens willen mitgemacht, was sie jetzt bereute.

„Ich werde zusammen, mit deiner Schwester, nach Münster fahren. Es wäre natürlich schön, wenn du mitkommen würdest, aber notfalls tue ich es auch allein.“

„Willst du dir das wirklich antun?“

„Ja, das will ich. Therese hat mir die Augen geöffnet und mir klargemacht, dass Josef mein Kind ist. Er lebt und ich möchte ihn kennen, und vielleicht sogar lieben lernen. Schließlich bin ich seine Mutter.“

„Ja, das bist du. Du bist die Mutter eines Kindes, das du nicht kennst“, warf er ihr vor.

„Hubert! Was soll das? Warum bist du nur so stur? Ich erkenne dich kaum wieder. Ich kenne dich als liebevollen Vater und Mann, den ich sehr liebe, aber nun kneifst du, und das nur, weil wir zwei behinderte Kinder haben? Gib doch zumindest Josef die Möglichkeit, wenn du sie Heinrich schon verwehrst. Steh zu deiner Verantwortung und erkenne, dass du sein Vater bist.“ Hubert sah sie an. Ihre Worte machten ihn nun doch nachdenklich. Ja, Josef war sein Sohn, auch wenn er ihn noch nie gesehen hatte. Daher war Josef ein fremdes Kind für ihn. Er wusste nur von dem schrecklichen Unfall, und dass er davon etwas zurückbehalten würde, was später sein ganzes Leben prägte. Stets würde die Behinderung sein Leben beeinflussen, auch wenn er nicht wusste, wie schlimm sie war. Dennoch war auch Josef ein Hilschen und damit ein Teil der Familie. Daher beschloss er, ihn sich zumindest anzusehen. Danach würde man weitersehen.

„Also gut Antonia, wenn dir so viel daran liegt, fahren wir mit dem Zug nach Münster und sehen uns Josef an. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, wie wir vermuten.“ Weiter sollte er nicht kommen, denn sie umschlang ihren Mann, um ihn so fest sie konnte zu drücken.

„Du bist doch der Beste. Hubert, ich liebe dich“, stieß sie voller Freude aus und küsste ihn leidenschaftlich. Nur zu gerne ließ er es sich gefallen. Wenige Tage später kam Therese erneut auf den Hof. Sie zeigte dem Paar das Foto.

„Also ich würde sagen, er ist ein echter Hilschen“, stellte Hubert mit stolzer Stimme fest.“

„Ach nee, auf einmal? Antonia, was hast du für ein Zaubermittel eingesetzt, dass sich mein Bruder so verändert hat?“

„Kein Zaubermittel, liebe Therese, sondern ich habe ihn an seine Verantwortung als Vater erinnert.“

„Bravo, endlich habt ihr es eingesehen. Ich freue mich auch auf meinen Neffen. Er ist ja ein niedliches Kind. Dann lasst uns also aufbrechen und zum Bahnhof gehen.“ Therese zögerte einen Moment.

„Was habt ihr euren anderen Kindern gesagt, warum ihr nach Münster fahrt?“

„Wir haben ihnen gesagt, dass wir dort etwas Wichtiges erledigen müssen. Sie wissen also noch nicht, dass sie dort noch einen weiteren Bruder haben. Ich bitte dich, Therese, das zu respektieren. Irgendwann werden sie ihn schon kennenlernen.“ Therese nickte, da sie es einsah. So begaben sie sich zu dritt zum Bahnhof, um gut drei Stunden später in Münster einzutreffen. Mit gemischten Gefühlen begab man sich zur Klinik, die damals noch im Stadtzentrum lag. Je näher das Paar der Klinik kam, desto mehr stieg die Spannung. In wenigen Minuten würden sie ihr Kind sehen, ein Kind, das ihnen noch völlig fremd war.

Kaum dass sie den Eingangsbereich des Krankenhauses betreten hatten, kamen ihnen ein Arzt und eine Ordensschwester entgegen, um sie zu begrüßen.

„Sie müssen die Hilschen sein“, stellte die Schwester fest. Hubert nickte.

„Ja das sind wir. Das ist meine Frau Antonia und meine Schwester Therese.“

„Schön dass sie es endlich geschafft haben, ihren Sohn zu besuchen. Wissen Sie, die anderen Kinder bekommen ja regelmäßig Besuch von ihren Eltern. Dabei ist es so wichtig, dass ein Kind eine Bindung zu seiner Familie aufbaut. Es sollte wissen, wo es hingehört, denn ich kann mich nicht nur um den Kleinen kümmern, auch wenn ich es gerne tue.“ Antonia hatte der Frau interessiert zugehört und verstand, was sie damit ausdrücken wollte. Sie hatte ja völlig recht damit, doch wollte sie zunächst ihren Sohn sehen, bevor sie näher darauf einging. Daher bat sie darum, zu ihm geführt zu werden. Der Arzt verstand das nur zu gut. Zugleich war er gespannt, wie die Hilschen auf die erste Begegnung mit ihrem Sohn reagieren würden. Er führte sie durch die langen Flure des Gebäudes, bis er vor einer Türe stehen blieb.

„Wir haben versucht, ihn auf Ihren Besuch vorzubereiten“, erklärte er ihnen. „Der Kleine ist, wie Schwester Kunigunde bereits gesagt hat, noch zu klein, um es zu verstehen. Bitte erschrecken Sie nicht, wenn sie ihn sehen, denn sein rechter Arm und die Schulter sind mit dicken Verbänden abgedeckt.“ Das Paar nickte und bereitete sich innerlich vor. Dann öffnete der Arzt die Türe.

Zusammen mit Therese traten sie in den Raum. Es handelte sich um ein typisches Krankenzimmer. Am Ende des Raums stand ein kleines Kinderbett mit Gitterstäben. Ohne lange abzuwarten, begab sich Antonia dort hin. Dort lag ihr Sohn. Sie erschrak, als sie ihn sah. So schlimm hatte sie es sich nicht vorgestellt, auch wenn der Arzt sie vorgewarnt hatte. Da lag ein kleines Wesen, das sie mit großen Augen ansah. Das also war ihr Sohn. Schon wollte sie sich abwenden, doch eine innere Stimme sagte ihr, dass sie bleiben sollte. Sie setzte sich auf den Stuhl und sah ihn nur an. In ihrem Herzen bemerkte sie, wie sich die Augen des kleinen Jungen dort hineinbrannten. Ja, es war ihr Sohn und sie würde ihn so wie ihre anderen Kinder annehmen.

„Möchten Sie ihn auf den Arm nehmen?“, fragte der Arzt.

„Ist das denn möglich? Schließlich hat er den großen Verband am Arm und ich habe Angst, ihm wehzutun.“

„Da brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Unter dem Verband befindet sich ein Gipsverband, der den Arm und die Schulter stützt. Er wird ihn noch lange tragen müssen, doch nur dort, wo die Schulter mit dem Arm verbunden ist. Nach und nach wird er ihn ablegen können und irgendwann nicht mehr brauchen. Bevor es so weit ist, würden wir gerne die große Wunde auf der rechten Seite mit Haut überpflanzen, damit man die große Narbe nicht mehr sieht.“

Antonia verstand und verstand doch nicht, warum der Kleine solch ein Schicksal erleiden musste. Er war doch völlig unschuldig und musste all das Leid schon jetzt ertragen. Dann kam der große Moment: Die Schwester hatte den Kleinen aus seinem Gitterbett genommen und Antonia in den Arm gelegt. Zum ersten Mal hielt sie ihn und am liebsten hätte sie ihn fest an sich gedrückt. Der Kleine lächelte sie an, so als ob er wüsste, dass sie seine Mutter war. Antonia schossen Tränen der Rührung in die Augen.

Hubert hatte die Szene die ganze Zeit über nur still beobachtet. Während sich bei Antonia Muttergefühle regten, spürte er nicht die geringste Bindung zu dem Kind. Für ihn war es immer noch fremd, was ihn selbst enttäuschte. Er fragte sich, ob er dieses Kind jemals so lieben könnte wie seine anderen Kinder. Er sah zu ihr und bemerkte, wie Antonia total darin versunken war, sich mit ihm zu beschäftigen. Therese hingegen setzte sich währenddessen mit dem Arzt auseinander. Als Krankenschwester interessierten sie hauptsächlich die medizinischen Fakten.

„Der Kleine wird sein Leben lang mit den Folgen zu kämpfen haben“, stellte er nüchtern und sachlich fest. „Er wird den rechten Arm nie bewegen können und es grenzt schon fast an ein Wunder, das er ihn überhaupt noch hat. Das verdankt er allein der ärztlichen Kunst des Professors. Hätte er nicht so besonnen gehandelt, so wäre der Arm abgestorben, oder es wäre zu einer notwendigen Amputation gekommen.“

„Und es besteht keine Hoffnung auf Besserung?“

„Aus ärztlicher Sicht nein. Die Nerven sind durchtrennt. Er kann schon froh sein, dass man seine Sehnen und Muskeln verbunden hat, aber da die Nerven keine Impulse weitergeben, wird der Arm für immer gelähmt und taub bleiben. Der Kleine wird sich daran gewöhnen und wie selbstverständlich damit groß werden. Das ist der Vorteil gegenüber einem Erwachsenen, der sich erst an eine solche Veränderung in seinem Leben gewöhnen muss.“ Therese verstand. Der Arzt hatte sicher recht, doch wie sah es um seine Eltern aus? Würde es für sie auch zur Selbstverständlichkeit? Sie kannte ihren Bruder nur zu gut. Für ihn würde es schwer sein. Die Hilschen waren ja im Ort dafür bekannt, gesunde Kinder zu haben. Da würde ein behindertes Kind ein schlechtes Licht auf die Familie werfen. Sie ahnte nicht, wie sehr ihre Vorahnung sich bewahrheiten würde.

Währenddessen wurde Hubert langsam nervös. Er fühlte sich in diesen Räumlichkeiten und in der Gegenwart des Kleinen nicht wohl. Er hoffte, dass sich Antonia nicht zu sehr an ihn gewöhnte. Für ihn stand fest, dass er versuchen würde, ihn, wie seinen ältesten Sohn, hier in Münster zu belassen.

„Können wir langsam wieder los?“, fragte er daher Antonia zu deren Erstaunen. Sie sah ihn fragend an.

„Wir sind doch erst eben angekommen. Warum willst du schon wieder zurück. Wir haben doch noch Zeit. Außerdem möchte ich noch nach Heinrich sehen.“

„Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit mehr“, sprach Hubert in sehr gereiztem Ton. „Ich möchte zurück auf den Hof, denn dort wartet sehr viel Arbeit.“

„… die auch mal warten kann. Du wirsr es nicht schaffen, dass ich mich nicht um meine Kinder hier in Münster kümmere. Es reicht, wenn wir den Abendzug nehmen. Die Nachbarn haben uns doch versprochen, das Vieh zu versorgen. Also wozu die Eile?“ Hubert zögerte. Was wäre, wenn er sagen würde, was er wirklich fühlte und dachte. Antonia bemerkte sein Zögern, und ohne, dass es auch nur eines Wortes bedurfte, war ihr klar, was in ihrem Mann vorging. Sie erschrak und fragte sich, warum es so war? Lag es an seinem Stolz, oder daran, dass er nur auf den Ruf bedacht war? Für sie stand schon jetzt fest, dass sie den Kleinen am liebsten schon jetzt mitgenommen hätte, egal wie Hubert darüber dachte.

Sie wurde in ihren Gedanken unterbrochen, denn Josef regte sich. Sie sah zu ihm herunter und ohne groß nachzudenken, drückte sie ihn ganz fest an sich. Vielleicht verstand ihr Mann ja diese Geste. Nie wieder, so stand für sie fest, würde sie eines ihrer Kinder abschieben, nur weil es anders war wie die anderen. Hubert reagierte jedoch anders, als sie erwartet hatte. Wortlos verließ er das Krankenzimmer. Therese ging ihm hinterher.

„Was sollte denn das?“

„Da fragst du noch!“

„Ja sicher. Ich kann dich nicht verstehen. Warum bist du so ablehnend gegenüber dem Kleinen?“

„Weil er kein echter Hilschen ist!“, platzte es aus ihm heraus.

„Ach nein. Wie ist denn in deinen Augen ein echter Hilschen?“ Hubert zögerte.

„Jedenfalls nicht so wie der Kleine dort. Und ehrlich gesagt möchte ich nicht, dass Antonia sich zu sehr an ihn gewöhnt. Dass wir heute hierhergefahren sind, war die große Ausnahme, denn so schnell werden wir es nicht wiederholen. Soll er doch hierbleiben. Das wäre mir am liebsten.“ Therese schaute ihren Bruder an. Sie war entsetzt von seiner Aussage. So dachte er also über seinen Sohn. Sie dachte an ihre verstorbene Mutter. Sie hätte ihm wohl die Leviten gelesen und ihm ganz schnell gezeigt, wie sie darüber dachte. So wie sie ihre Mutter einschätzte, hätte sie den Kleinen nicht mehr aus den Augen gelassen. Auch ihr Vater wäre da nicht anders gewesen. Warum also musste ausgerechnet ihr Bruder so aus der Art schlagen?

Sie wurden unterbrochen, denn Antonia kam zusammen mit dem Arzt und der Schwester aus dem Zimmer. Sie sah ihren Mann an, als wäre er ihr völlig fremd. Zwar kannte sie seine Launen, doch so ablehnend hatte sie ihn selten erlebt. Sie befürchtete, dass es zu einer Krise in ihrer Beziehung kommen könnte. Zu sehr unterschieden sich ihre Ansichten, was die Kinder anging. Er versuchte, sie zu überreden, nun doch zu gehen, ohne nach Heinrich zu schauen. Doch egal, was er versuchte, Antonia ließ sich nicht davon abbringen. Wortlos begaben sie sich daher in einen anderen Trakt der Klinik. Hier lebten Kinder, die schon älter waren.

Als Antonia ihren Sohn sah, fragte sie sich, wo die Zeit geblieben war. Ihr Ältester war inzwischen zehn Jahre alt. Er kam auf sie zu, und so, als ob es das Normalste auf der Welt war, umarmte er sie. Dabei hatte er seine Mutter in den vergangenen Jahren nur ganz selten gesehen.

„Hallo Mama, schön, dass du da bist. Kommst du, um mich abzuholen?“ Bei diesen Worten spürte Antonia den Stich ins Herz. Ihr Sohn hatte sie also wieder erkannt, und so wie es aussah, war sein größter Wunsch, endlich heimzukommen. Ein paar Mal war er ja auf dem Hof gewesen, doch hatte sich schnell gezeigt, wie viel Ablehnung er erfuhr. Außerdem hatten die Ärzte dazu geraten, ihn doch hier in Münster zu versorgen, da er, bedingt durch seine Anfälle, immer wieder in Gefahr geriet. Schweren Herzens hatte Antonia damals zugestimmt, auch wenn sie ihren Entschluss jeden Tag bereute. In den folgenden Jahren hatte man es ja immer wieder versucht, doch nach dem letzten schweren Anfall war klar, dass es nicht anders ging. Die Ärzte sagten, dass er eh nicht mehr lange leben würde, denn seinerzeit gab es noch keine wirksamen Medikamente gegen die Anfälle.

Völlig anders sah das bei Josef aus. Sicher, auch er würde noch sehr viel Fürsorge und Betreuung brauchen, doch hatte er im Gegensatz zu Heinrich keine geistige Behinderung. Also würde es keinen Grund geben, ihn auf Dauer hier zu belassen. Damit stand für sie fest, dass er auf den Hof kommt.

„Kommst du, um mich abzuholen?“, unterbrach Heinrich sie erneut.

„Nein, mein Sohn, das geht leider nicht!“

„Warum nicht?“

„Weil du so krank bist.“

„Ich bin doch nur ein bisschen krank. Wenn du mich also nicht mitnehmen kannst, warum bist du dann hier?“ Antonia zögerte. Sollte sie ihm sagen, dass sein Bruder auch hier war?

„Ich wollte einfach sehen, wie es dir geht.“ Das war noch nicht einmal gelogen, wenn auch nur die halbe Wahrheit.

„Ist Papa auch da?“, erkundigte sich Heinrich.

„Ja, er ist vor der Türe.“

„Warum kommt er nicht rein. Hat er mich nicht lieb?“

„Das weiß ich nicht.“ Heinrich machte Anstalten, den Raum zu verlassen, doch wurde er von Antonia daran gehindert.

„Weißt du, mein Sohn, Papa geht es nicht gut.“

 „Wieso? Ist er auch krank und muss hier in die Klinik?“

„Nein, so schlimm ist es nicht.“

„Dann kann ich ihn ja sehen.“

„Ich bitte dich, tue es nicht.“

„Ich will es aber!“ Ihr Sohn ließ sich nun nicht mehr abhalten. Er verließ den Raum und sah seinen Vater.

„Hallo Papa. Warum kommst du nicht rein?“, fragte Heinrich und ging auf ihn zu, um seinen Vater zu umarmen. Anstatt es zuzulassen, wich Hubert zurück. Das verwirrte Heinrich doch sehr.

„Ich tue dir nichts und ansteckend ist meine Krankheit auch nicht“, sprach er mit flehender Stimme. Hubert schien das wenig zu interessieren, denn anstatt nun auf seinen Sohn zuzugehen, drehte er sich um und begab sich Richtung Ausgang. Heinrich sah ihm traurig nach. Mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen betrat er wieder das Zimmer.

„Papa ist böse auf mich“, merkte er an, als er wieder bei seiner Mutter war. Antonia sah ihn fragend an.

„Was ist passiert?“ Heinrich berichtete von dem Vorfall. Tröstend nahm sie ihn in den Arm.

„Papa ist nicht böse auf dich. Er ist eben so.“

„Aber warum? Ich habe ihm doch nichts getan.“ Antonia versuchte, es ihm erneut zu erklären, doch wie soll man einem Kind erklären, dass man es ablehnt.

„Ich rede noch mal mit ihm“, versprach sie.

„Wirklich?“

„Ja wirklich. Ich verspreche es dir.“

„Das ist lieb. Du bist eine liebe Mama“. Ihr Sohn drückte sich nun ganz fest an sie, so als wollte er sie nicht mehr loslassen. Antonia verstand es nur zu gut. Welches Kind ist schon gerne ohne Eltern. So verharrte sie eine Weile. Vielleicht würde ihn ja trösten, wenn er wüsste, dass Josef hier in der Klinik war. Dann wüsste er zumindest, dass hier noch ein Hilschen lebte. So berichtete sie ihm von Josef.

„Ich habe einen Bruder, der auch krank und hier ist?“, fragte ihr Sohn erstaunt.

„Ja, das hast du. Er heißt Josef. Aber er ist noch ganz klein. Nun wurde Heinrich neugierig. Er nahm ihre Hand und zog sie zur Tür.

„Ich möchte meinen Bruder sehen“, sprach er ungeduldig. Das konnte Antonia gut verstehen. Doch um sicherzugehen, dass es möglich war, hielt sie Rücksprache mit dem Pflegepersonal.

„Das ist überhaupt kein Problem und Heinrich wird sich sicher sehr freuen.“ Mit dieser Bestätigung machten sich die beiden auf den Weg. Immer wieder sah sich Antonia nach ihrem Mann um, doch schien er die Klinik verlassen zu haben. Das enttäuschte sie sehr. Heinrich hingegen schien das nicht zu interessieren. Er wollte nur seinen Bruder sehen. Nach wenigen Augenblicken erreichten sie die Kleinkindabteilung. Erneut betrat Antonia das Zimmer. Zu ihrer Freude waren hier Therese und Schwester Kunigunde.

„Hallo Heinrich“, begrüßte die Schwester ihn. „Du möchtest deinen Bruder besuchen?“ Heinrich nickte heftig.

„Na, dann komm mal her.“ Der Junge trat an das Gitterbett.

„Das ist mein Bruder? Er ist ja noch ganz klein und hat was am Arm“, stellte er fest.

„Deshalb ist er ja hier. Er heißt Josef“, erklärte Kunigunde ihm.

„Das hat mir Mama auch schon gesagt. Darf ich ihn anfassen?“

„Ja, aber ganz vorsichtig.“ Heinrich kniete sich hin und schob seinen Arm vorsichtig durch die Gitterstäbe.

„Hallo Josef, ich bin dein Bruder Heinrich“, sprach er. Der Angesprochene reagierte und lächelt ihn an, was Heinrich sehr freute. Die Erwachsenen verfolgten stumm die Szene. Wie einfach war es doch, wenn Kinder aufeinandertrafen. Sie kannten keine Vorurteile. Gerade hier in der Klinik gingen sie sehr friedlich miteinander um, so als ob sie wüssten, dass sie alle ein Schicksal verband.

„Ich werde dich jetzt jeden Tag besuchen“, stellte Heinrich mit Bestimmtheit fest. Wieder berührten Antonia die Worte ihres Ältesten, denn zu gerne wäre auch sie bei ihren beiden Sorgenkindern. Aber da waren noch ihre anderen Kinder und der Hof, der so weit entfernt war. Wie sollte sie diese doppelte Belastung überhaupt schaffen? Nach Münster zu reisen, war eben eine Tagesreise. Sie und die anderen beobachteten, wie sich die beiden Jungen näherkamen, wobei Heinrich die Initiative ergriff.

„Kann ich Josef noch mal auf den Arm nehmen?“, fragte sie. Ohne zu zögern, nahm die Schwester den Kleinen aus dem Bett und gab ihn ihr. Nun trat Heinrich noch näher an ihn heran, was Josef wohl sehr gefiel, denn er streckte seinen linken Arm aus und wurde ganz zappelig.

„Möchtest du ihn halten?“, fragte Antonia Heinrich. Wieder nickte ihr Sohn heftig.

„Aber ganz vorsichtig. Du musst auf seinen rechten Arm achtgeben“, belehrte sie ihn. Wenige Sekunden später hielt er seinen Bruder im Arm und strahlte übers ganze Gesicht.

„Ich habe einen Bruder!“, sprach er voller Stolz. „Von nun an passe ich auf dich auf.“ Der Kleine schien zu verstehen, denn er lächelte übers ganze Gesicht.

„Er mag mich“, stellte Heinrich fest. Er sah zu ihm. “Ich mag dich auch.“ Ganz vorsichtig wiegte er ihn im Arm und die Erwachsenen ließen ihn gewähren. So verging eine Weile, bis es an der Zeit war, Josef ins Bett zurückzulegen. Auch für Antonia und Therese wurde es Zeit, die Klinik zu verlassen und zum Bahnhof zu gehen. Antonia brachte ihren Sohn zurück in sein Zimmer.

„Mama muss jetzt wieder fahren. Ich komme aber so schnell ich kann wieder“, erklärte sie ihm.

„Wirklich? Versprichst du mir das?“

„Ja, ich verspreche es dir.“ Heinrich drückte sie noch einmal und wendete sich dann traurig ab. Antonia zerriss es fast das Herz, ihn so zu sehen. Mit Tränen in den Augen wendete sie sich rasch ab und verließ den Raum.

Auf dem Flur traf sie auf die behandelnden Ärzte der Kinder. Von ihnen erfuhr sie, dass Josef demnächst erneut operiert werden sollte. Antonia sah das ein und stimmte auch ohne Huberts Einverständnis der Operation zu.

„Wir geben ihnen schriftlich Bescheid, wie der Eingriff verlaufen ist.“

„Das müssen sie nicht, denn sie können beim Nachbarn anrufen.“ Der Arzt wiegelte ab.

„Nein, werte Frau Hilschen, das machen wir lieber so, denn es kann ja auch was schiefgehen und das braucht außer Ihnen niemand zu wissen.“ Antonia nickte einsichtig. Dann begaben sich die beiden Frauen zum Ausgang, wo sie auf Hubert trafen.

„Da seid ihr ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste allein nach Paderborn fahren“, stellte er mürrisch fest. Therese und Antonia sahen ihn vorwurfsvoll an. Sie verstanden immer noch nicht Huberts Verhalten. Stumm, und ohne weitere Worte, begab man sich zum Bahnhof und fuhr heim.

In den nächsten Tagen und Wochen herrschte eisige Stimmung auf dem Hof. Lange Zeit wechselte das Paar kaum ein Wort miteinander. Es schien, als sei die einst glühende Liebe erloschen. Man lebte nebeneinander her. Weder Antonia noch Hubert unternahmen anfangs den Versuch, das zu ändern. Es kam zu einer Krise in der Beziehung. Insbesondere wenn Antonia versuchte, das Gespräch auf ihre beiden Kinder in Münster zu bringen, verschärfte sich die Stimmung. Für Hubert war es ein regelrechtes Reizthema. Anstatt sich der Diskussion zu stellen, wich er aus und wendete sich ab. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er die beiden einfach vergessen.

In diesen Tagen der Krise sollte es noch eine Person geben, die sich Sorgen um Josef machte. Es war jene Hebamme, die ihn auf die Welt gebracht hatte. Da man mit ihr über mehrere Ecken verwandt war, versuchte sie alles, um ihren Fehler bei der Geburt zu verharmlosen. Dabei stand doch fest, dass es eindeutig ihr Fehler gewesen war, da sie, als sich die Komplikationen abzeichneten, keinen Arzt hinzugezogen hatte. Würden nun Anzeigen erstattet, so wäre ihr vermutlich ein Berufsverbot erteilt worden, was sie auf jeden Fall vermeiden wollte. Es gelang ihr tatsächlich, Hubert und Antonia davon zu überzeugen.

In späteren Jahren, als ich selbst schon fast erwachsen war, stellte ich die Frau zur Rede, doch erfuhr ich von ihr nur kalte Ablehnung. Ja, es ging sogar so weit, dass sie ihren Kindern verbot, mit dem „Krüppel“ zu spielen und seine Nähe zu suchen. Im Nachhinein kann ich nur feststellen, wie gleichgültig meine Eltern zu diesem Zeitpunkt waren, da man doch eine Unfallrente hätte erwirken können. Als ich alt genug war, diese zu beantragen, wurde mir von der Rentenkasse klar gesagt, dass mein Fall, und damit auch die Ansprüche, auf die besagte Rente, längst verjährt seien und ich somit kein rechtliches Urteil darauf erwarten konnte. Dass der gleichen Hebamme noch weitere Fahrlässigkeiten widerfuhren, stellte ich erst bei späteren Nachforschungen fest. Doch so war es eben auf dem Dorf.

Langsam ging es nun auf die kalte Jahreszeit zu und die Arbeiten auf den Feldern und Wiesen des Hofes nahmen ab. In dieser Zeit fand auch das Paar zur Ruhe und Besinnung. Immer noch herrschte eine gewisse Anspannung zwischen dem Paar, was nun auch die Kinder mitbekamen. Gerade die Älteren fragten, was denn los sei, doch erhielten sie nur ausweichende Antworten. Thomas gab sich jedoch nicht damit zufrieden. An einem Abend im November ließ er sich nicht mehr vertrösten.

„Mama, was ist los? Hast du Papa nicht mehr lieb?“

„Doch, mein Sohn, aber ab und zu haben auch Erwachsene Streit.“ Thomas sah sie nachdenklich an. Er war zwar noch ein Kind, doch begriff er recht schnell, dass es mehr sein musste.

„Seit ihr aus Münster zurückgekommen seid, seid ihr so komisch. Ist etwas mit Heinrich?“

„Nein, mit Heinrich ist alles in Ordnung. Er fühlt sich wohl und hat sich über unseren Besuch gefreut.“ Antonia zögerte, was Thomas sofort bemerkte.

„Was ist es dann?“ Antonia sah ihn an. Sollte sie ihrem Sohn sagen, dass es dort noch einen Hilschensohn gab?

„Mama?“

„Weißt du noch, dass ich im April im Krankenhaus war?“ Thomas nickte. „Damals haben wir euch gesagt, dass ich wieder ein Kind zur Welt gebracht habe, was aber gestorben ist.“

„Ja, du warst damals sehr traurig.“

„Das stimmt. Ich wundere mich, dass du es nicht vergessen hast.“

„Ich bin eben ein schlauer Junge. Was aber hat das mit eurem Besuch in Münster zu tun?“ Erneut zögerte Antonia, doch entschloss sie sich, Thomas die ganze Wahrheit zu sagen. Zugleich hatte sie Angst vor seiner Reaktion.

„Dass ich ein totes Kind geboren habe, stimmt nicht ganz. Das Kind hat nur einen sehr schweren Unfall gehabt und ist nun, so wie Heinrich, in Münster. Du hast also noch einen weiteren Bruder. Er heißt Josef.“ So, nun war es raus.

Thomas sah sie fragend an. „Warum hast du uns das nicht gesagt?“

„Weil Papa glaubt, er sollte wie Heinrich in Münster bleiben, denn er hat was am rechten Arm.“

„Was hat er am rechten Arm?“ Antonia versuchte, es ihm so gut wie möglich zu erklären. Thomas hörte zu und schien zu begreifen.

„Warum will Papa nicht, dass Josef zu uns auf den Hof kommt?“

„Weil er glaubt, dass es hier nur gesunde Kinder geben darf. Genau darum haben wir uns gestritten, denn Josef ist auch ein Hilschen, und nur weil er was am Arm hat, kann man doch nicht sagen, dass er keiner ist.“

„Das ist doch blöd. Und darum streitet ihr euch?“

„Ja, Thomas, das ist der Grund, denn ich möchte, dass Josef bald nach Hause kommt und hier lebt. Es wird zwar noch lange dauern, doch irgendwann werden du, und deine Geschwister, euch daran gewöhnen müssen, dass ihr einen Bruder habt, der behindert ist. Papa will es aber nicht.“ Gerade als Antonia versuchte, es ihrem Sohn weiter zu erklären, betrat Hubert die Küche. Thomas sah ihn an.

„Warum willst du nicht, dass Josef auf den Hof kommt?“

„Du hast es also Thomas gesagt!“, fuhr er Antonia schroff an.

„Ja, das habe ich, denn irgendwann hätten sie es ja sowieso erfahren.

„Nicht wenn es nach mir gegangen wäre. Ja, Thomas, es stimmt, du hast noch einen Bruder, aber …“ Thomas unterbrach seinen Vater.

„Mama hat mir alles erklärt. Ich finde es nicht schlimm, wenn er auf den Hof kommt, denn auch Josef ist mein Bruder. Warum möchtest du es also nicht?“

„Weil man dann im Dorf beginnen würde, schlecht über uns zu reden. Schließlich haben wir immer gesagt, dass dein Bruder tot geboren wurde.“.

„Papa! Das ist doch nicht schlimm. Sie werden sich schon an Josef gewöhnen.“

„Das sagst du, Thomas. Du bist aber nur ein Kind, das nicht versteht. Es geht um unseren Ruf im Dorf.“

„Du meinst wohl eher um deinen Ruf, Papa“, widersprach Thomas. Sein Vater sah ihn an und wusste doch, dass sein Sohn den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Nie hätte er gedacht, dass er so klug war. Er sah ihn stolz an. Ja, so musste ein Hilschen sein, und nicht so wie Josef. Dennoch begann er zu überlegen und erkannte, dass sein Sohn im Grunde recht hatte. Nie hätte er gedacht, dass ausgerechnet er ihn zum Nachdenken brachte. Er sah nun Antonia an und spürte, dass er sie noch immer sehr liebte. Warum war er nur so stur gewesen. Er ging auf die beiden zu.

„Kommt mal her, ihr beiden“. Er nahm sie beide in den Arm und Antonia spürte, wie sich ihr Mann schlagartig veränderte. Endlich schien er begriffen zu haben, dass man eine Familie war, zu der auch Josef gehörte.

„Wann kann ich meinen Bruder besuchen?“, unterbrach Thomas den Moment der Vertrautheit.

„Möchtest du es denn?“

„Ja, Papa, das möchte ich. Also wann kann ich Josef besuchen?“

„Im Moment geht es nicht, denn bis nach Münster ist es doch sehr weit. Wir müssten eine ganze Weile mit dem Zug fahren.“

„Das ist doch schön.“ Hubert bemerkte, dass sein Sohn nicht locker ließ. Vielleicht war es Schicksal, dass Antonia ihm die Wahrheit gesagt hatte. Normalerweise plante er ja gerne lange im Voraus, aber das war bei der Ungeduld seines Sohnes kaum möglich. Sicher würden die Nachbarn noch einmal die Versorgung des Viehs übernehmen, wenn er sie darum bat. So fasste er also einen Entschluss.

„Nächsten Sonntag könnten wir Josef und Heinrich besuchen“, schlug er spontan vor.

„Warum denn nicht eher?“

„Weil du noch zur Schule musst.“

Ach, Papa. Du kannst mir doch eine Entschuldigung schreiben.“ Bei dem Argument grinste Hubert. Wie oft hatten ihm seine Eltern eine Entschuldigung geschrieben, wenn er keine Lust auf Schule hatte. Geschadet hatte es ihm nicht. Er sah Antonia erneut an. Dachte sie ebenso wie ihr Sohn? Sollte dem so sein, wäre das doch eine Gelegenheit, den Frieden im Haus wieder herzustellen. Doch warum sollten sie nur Thomas mitnehmen? Schließlich gehörten doch die anderen drei auch dazu. Selbst wenn Bernhard, Anton und Paul es noch nicht verstehen würden, ein Ausflug mit dem Zug würde ihnen sicher Freude machen.

„Also gut, Thomas. Ich schreibe für dich eine Entschuldigung. Dann fahren wir alle zusammen nach Münster. Dort gibt es ja auch einen Zoo, in den wir gehen können. Vielleicht hat die Klinik ja ein Gästehaus, in dem wir übernachten können. Wenn nicht, suchen wir uns eine kleine Pension für uns alle. Das wird ein richtiges Abenteuer für uns.“ Thomas sah seinen Vater und seine Mutter begeistert an, die ebenso erstaunt waren wie ihr Sohn. So kannte Antonia ihren Mann normalerweise nicht. Nur hin und wieder war er so spontan gewesen.

„Ja, das ist eine tolle Idee“, rief sein Sohn freudig aus.

„Hubert, ich liebe dich!“, warf Antonia spontan ein und nahm ihn seit langer Zeit mal wieder in den Arm. Wie sehr hatte sie das vermisst. Auch ihm ging es nicht anders. Es war schon erstaunlich, was sein Sohn erreicht hat. Endlich war man wieder eine Familie. So wie man es beschlossen hatte, fuhr man bereits tags darauf mit dem Zug nach Münster.

In der Klinik war den Kindern zwar langweilig, doch gerade Thomas war neugierig auf seinen Bruder. Als er ihn jedoch, eingewickelt in die Verbände, sah, war seine Enttäuschung groß. Das sollte sein Bruder sein? Nein, das konnte nicht sein, denn ein Hilschen sah nicht wie das Kind dort aus. Er sah seine Mutter fragend an.

„Mama, bist du sicher, dass das mein Bruder ist?“

„Ja, das bin ich, Thomas“. Ihr Sohn schien immer noch zu zweifeln und verließ das Zimmer.