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Systemische Horizonte – Theorie der Praxis

Herausgeber: Bernhard Pörksen

»Irritation ist kostbar.«

Niklas Luhmann

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie sind vorbei. Inzwischen ist das konstruktivistische und systemische Denken auf dem Weg zum etablierten Paradigma und zur normal science. Die Provokationen von einst sind die Gewissheiten von heute. Und lange schon hat die Phase der praktischen Nutzbarmachung begonnen, der strategischen Anwendung in der Organisationsberatung und im Management, in der Therapie und in der Politik, in der Pädagogik und der Didaktik. Kurzum: Es droht das epistemologische Biedermeier. Eine Außenseiterphilosophie wird zur Mode – mit allen kognitiven Folgekosten, die eine Popularisierung und praxistaugliche Umarbeitung unvermeidlich mit sich bringt.

In dieser Situation ambivalenter Erfolge kommt der Reihe Systemische Horizonte – Theorie der Praxis eine doppelte Aufgabe zu: Sie soll die Theoriearbeit vorantreiben – und die Welt der Praxis durch ein gleichermaßen strenges und wildes Denken herausfordern. Hier wird der Wechsel der Perspektiven und Beobachtungsweisen als ein Denkstil vorgeschlagen, der Kreativität begünstigt.

Es gilt, die eigene Intelligenz an den Schnittstellen und in den Zwischenwelten zu erproben: zwischen Wissenschaft und Anwendung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, zwischen Philosophie und Neurobiologie. Ausgangspunkt der experimentellen Erkundungen und essayistischen Streifzüge, der kanonischen Texte und leichthändig formulierten Dialoge ist die Einsicht: Theorie braucht man dann, wenn sie überflüssig geworden zu sein scheint – als Anlass zum Neu- und Andersdenken, als Horizonterweiterung und inspirierende Irritation, die dabei hilft, eigene Gewissheiten und letzte Wahrheiten, große und kleine Ideologien so lange zu drehen und zu wenden, bis sie unscharfe Ränder bekommen – und man mehr sieht als zuvor.

Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft
an der Universität Tübingen

Heiko Kleve
Steffen Roth
Fritz B. Simon

Lockdown: Das
Anhalten der Welt

Debatte zur Domestizierung
von Wirtschaft, Politik
und Gesundheit

Mit einem Nachwort von Bernhard Pörksen und
Zwischenrufen von Stefan Blankertz, Franz Hoegl,
Michael Hutter, Claudia Kemfert, Günter Lierschof,
Peter Pantuček-Eisenbacher, Birger P. Priddat,
André Reichel sowie Antje Tschira

2020

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihe: »Systemische Horizonte«

hrsg. von Bernhard Pörksen

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2020

ISBN 978-3-8497-0367-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8256-6 (ePUB)

© 2020 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Vorwort

1Das Anhalten der Welt – oder: Was kommt danach?

von Heiko Kleve

Eine andere Rotation

von Fritz B. Simon

Fluktuation

von Steffen Roth

2Die Welt läuft weiter, vielleicht schneller als je zuvor

von Heiko Kleve

Selbstkastration des Staates

von Fritz B. Simon

Selbstorganisation des Staates

von Steffen Roth

3Organisation gesellschaftlicher Aufgaben

von Heiko Kleve

Wozu Staat?

von Fritz B. Simon

Wozu staatliche Wirtschaftsbesessenheit?

von Steffen Roth

4Vom Für und Wider der Politisierung bzw. Ökonomisierung zur Staatskritik

von Heiko Kleve

Hat die Wirtschaft die Politik übernommen?

von Stefan Blankertz

Das Gerangel der Interessengruppen

von Fritz B. Simon

Protektionistische Gewaltfantasien und soziale Autoimmunerkrankungen

von Steffen Roth

5Den Blick weiten

von Heiko Kleve

Hierarchie und Krise

von Fritz B. Simon

Staatstherapie für Therapiestaaten

von Steffen Roth

6Politik und Wissenschaft dezentrieren sich

von Heiko Kleve

Die Corona-Verschiebung

von Michael Hutter

Es gibt kein »gesundes« System

von Fritz B. Simon

Negative Gesundheit, negative Freiheit

von Steffen Roth

7Die neuen Symbiosen – oder: Die systemischen Esel

von Heiko Kleve

»De docta ignorantia«: Ein Zwischenruf, der einzelne Beobachtungen (berechtigt/nicht berechtigt?) verallgemeinert

von Günter Lierschof

Das Verschwinden der Wirtschaft in der Corona-Krise

von Birger P. Priddat

Schmierige Symbiose

von Fritz B. Simon

Geschmeidige Gesellschaft

von Steffen Roth

8Tief, ganz tief, hinter den Systemen

von Heiko Kleve

Theorien – Verschwörungstheorien – Wahnsysteme

von Fritz B. Simon

Verschwörungstheorie als Fremdbeschreibung

von Steffen Roth

9Schrumpfendes Wachstum

von Heiko Kleve

Die Katze im Sack: Eine kurze Polemik zu Corona als systemischer Katastrophe

von André Reichel

Pandemie als Chance?

von Fritz B. Simon

Die Umwelt der Sozialwissenschaften

von Steffen Roth

10Verschwörung, die Zweite – oder: Selbstreferenz der Wahrheitssuche

von Heiko Kleve

Theoretical Distancing: Wozu Verschwörungstheorien?

von Franz Hoegl

Simulation und Einschwörungstheorie

von Steffen Roth

Wie man sich das Etikett »Verschwörungstheoretiker« verdienen kann

von Fritz B. Simon

11Wie aus gemeinsamer Blödheit soziale Klugheit wird

von Heiko Kleve

Krise des Sozialen – Krise des Entscheidens oder: In Zeiten des Abstands über neue Nähen nachdenken

von Antje Tschira

Umweltbeobachtungswerkzeuge

von Steffen Roth

Kollektive Intelligenz vs. kollektive Blödheit

von Fritz B. Simon

12Alles bleibt, wie es ist, weil es sich permanent verändert

von Heiko Kleve

Die (Nicht-)Veränderung der Welt

von Peter Pantu ek-Eisenbacher

Skepsis

von Steffen Roth

Cool down!

von Fritz B. Simon

13Umsteuern der Gesellschaft

von Heiko Kleve

Das Problem des ungezügelten Wachstums

von Claudia Kemfert

Das Problem der ungezügelten Verwechslung von Umwelt mit Natur

von Steffen Roth

»Ich möchte lieber nicht«

von Fritz B. Simon

14Die Moralisierung der Corona-Gesellschaft

von Heiko Kleve

Kommunikation über Moral versus Moralkommunikation

von Steffen Roth

Lob der Moral

von Fritz B. Simon

15Der Sternenhimmel der Werte

von Heiko Kleve

Die Etikette der Alternativen

von Steffen Roth

Paradoxie-Management

von Fritz B. Simon

16Die Existenz des Todes

von Heiko Kleve

Freiheit oder Tod

von Steffen Roth

Spiel mir das Lied vom Tod

von Fritz B. Simon

17Die »neue Normalität« der Systeme

von Heiko Kleve

The Newnormers

von Steffen Roth

Ziemlich alte Normalität

von Fritz B. Simon

18Eine andere Gesellschaft ist (un)möglich

von Heiko Kleve

Lauter kleine Staatskopien?

von Steffen Roth

Das Gebet der AS

von Fritz B. Simon

19Die Unterscheidung

von Heiko Kleve

Neue Normalität oder postpolitische Gesellschaft

von Steffen Roth

Die Monopolisierung der Aufmerksamkeit

von Fritz B. Simon

20Die Verantwortung der Systemtheorie

von Heiko Kleve

Zurechnungsfähige Systemtheorie

von Steffen Roth

Die Verantwortung der Regierenden

von Fritz B. Simon

Das Aushalten der Welt

Über das Virus, das Netz, libertäre und sozialdemokratische Systemtheoretiker – ein Nachwort

von Bernhard Pörksen

I. Realitätsschock und Theorierevision

II. Libertäre und sozialdemokratische Systemtheoretiker

III. Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen

Fortsetzung folgt …

Anmerkungen

Über die Autoren

Über die Zwischenrufer

Vorwort

Die von Heiko Kleve angeregte und moderierte Debatte zwischen Steffen Roth und Fritz B. Simon um die Corona-Pandemie und ihre Folgen, um den Lockdown und das Anhalten der Welt, wurde von Ende April bis Ende Juni 2020 live im Carl-Auer Magazin auf der Webseite des Carl-Auer Verlags geführt. Sie war manchmal sehr kontrovers und fand aufgrund ihrer Intensität auch im Netz viel Interesse. Zweimal in der Woche erschienen neue aufeinander Bezug nehmende Beiträge der Protagonisten und prominenten Zwischenrufer im Netz.

Die Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Politik und Wirtschaft führte im Verlauf des Disputs unweigerlich zu Fragen von Moral und Amoral, von Intervention oder Laissez-faire und zu Fragen des Verhältnisses von theoretischer Analyse vs. praktischer Strategie, von Verantwortungsübernahme vs. (Nicht-)Einmischung. So ist eine ausführliche, sehr konzentrierte und in vielerlei Hinsicht innovative Debatte entstanden, der »theoriegeschichtliche Brisanz« zukommt, so Bernhard Pörksen, Herausgeber der Reihe Systemische Horizonte, in seinem Nachwort.

Im Zentrum steht der besondere Wert systemtheoretischer Perspektiven auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in erschütternden Krisen. Unumstritten ist, dass Systemtheorie Bedeutendes zu bieten hat. Es lohnt sich, darüber zu streiten, welche Konsequenzen auf der Ebene konkreten Handelns zu ziehen sind! »Streit bietet eine Erkenntnischance eigenen Rechts«, schreibt Bernhard Pörksen. Zusätzlich zu den fragenden Vorgaben des Initiators Heiko Kleve befeuerte der Bezug zu den aktuellen Ereignissen, politischen Entscheidungen und medialen Aufregungen die Auseinandersetzung.

Die Interventionen der Zwischenrufer führen die Debatte in weitere relevante Kontexte hinein.

Die Zahl der Menschen, die den Streit im Carl-Auer Magazin verfolgten, stieg kontinuierlich an. Wir bekamen Zuschriften und Anrufe, die sich – bei aller thematischen Uneinigkeit – in einem einig waren: Weitermachen, es ist spannend und im positiven Sinne so anders als vieles, das derzeit durch die mediale Welt rauscht!

Die systemische Debatte begleitet, analysiert und kommentiert auch die Alltagsdebatte. Jedem Kapitel sind daher zur »orientierenden Erinnerung« Schlagzeilen aus der nationalen und der internationalen Presse vorangestellt.

Was einen Wert besitzt, der verspricht über längere Zeit zu halten, hat es verdient, »verbucht« zu werden. Bücher haben unter anderem den Vorteil, dass sie es weniger wahrscheinlich machen (wenn auch nicht unmöglich), dass vergessen wird, was geschrieben steht.

Wir haben uns entschieden, dieses Ereignis nicht der Fluidität und potenziellen Demenz des Internets zu überlassen, sondern es – im doppelten Sinne des Wortes – haltbar zu machen.

Heidelberg, im Sommer 2020
Matthias Ohler
Geschäftsleiter des Carl-Auer Verlages

Richtung Freiheit. Die Regierung muss die Einschränkung der Grundrechte mit jedem Tag, der vergeht, besser begründen.

Die Zeit, 22. April 2020

3.400.000.000.000 Euro: Das ist die Corona-Quittung, für die wir alle zahlen werden

FOCUS Online, 22. April 2020

EU billigt 500-Milliarden-Hilfspaket – Merkel sagt Nein zu Corona-Bonds

FAZ, 23. April 2020

A Coronavirus Death in Early February Was ›Probably the Tip of an Iceberg‹

New York Times, 23. April 2020

Who’s Behind the ›Reopen‹ Protests?

New York Times, 23. April 2020

1Das Anhalten der Welt – oder: Was kommt danach?

von Heiko Kleve

23. April 2020

Wir leben in einer »Wendezeit«,1 in einer Zeit, die zugleich Krise und Neuanfang ist. Derzeit steht die Welt noch still. Der Lockdown löst sich nur sehr langsam. Der Weg in die »neue Normalität« wird bisher schleichend beschritten. Das ist eine gute Zeit, um fundamentale Fragen zu stellen, Fragen, die die Zeit nach dem »Anhalten der Welt«2 in den Blick bringen.

Bei Carl-Auer stellen wir solche Fragen in fundamentaler, grundsätzlicher und paradigmatischer Weise. Dafür sind wir bekannt und beliebt. Wir schauen systemisch auf die Systeme unserer global vernetzten Gesellschaft. Denn mit uns wollen viele wissen und schon jetzt darüber spekulieren, wie sich die beiden Systeme in Zukunft miteinander ins Verhältnis setzen, die unser privates und berufliches Leben in nahezu allen Bereichen bestimmen, und zwar die Wirtschaft und die Politik.

Wir wissen, dass das Medium der Wirtschaft, Geld, nicht alles ist – dass aber alles nichts ist, wenn wir kein Geld haben, um unsere Existenz zu sichern. Aufgrund des Lockdowns, der zahlreiche Wirtschaftsbereiche stillstellt, der für viele Menschen extrem existenzgefährdend ist, ihre ökonomischen Einkommensquellen versiegen lässt, springt die Politik mit milliardenschweren Hilfsprogrammen ein. Der politische Staat, der mit seiner Macht kollektiv bindende Entscheidungen treffen kann und aus gesundheitlichen Gründen den Lockdown verordnet hat, ist zugleich der Retter aus der Not.

Wir fragen, ob diese »neue Normalität« ein grundsätzlich anderes Verhältnis von Wirtschaft und staatlicher Politik entstehen lässt. Gehen wir also auf eine neue Form von Sozialismus zu, in der der Staat die gesamte Gesellschaft finanziert, plant und mit seinen verbindlichen Vorgaben strukturiert? Oder werden wir eine neue Form des Radikalliberalismus erleben, in dem der bald bettelarme Staat, dessen Kassen wieder leer und gebeutelt sind, sich aus den gesellschaftlichen Sphären zurückzieht, und zwar drastischer und nachhaltiger als je zuvor?

Um diese Themen zu diskutieren, kommen zunächst zwei Protagonisten zu Wort, die ihre gegensätzlichen Positionen aufeinanderprallen lassen: Prof. Dr. Fritz B. Simon, Systemwissenschaftler mit allumfassenden Interessen, sowie Prof. Dr. Dr. Steffen Roth, Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler, der in gleicher Weise allseits interessiert und international bekannt ist, z. B. für seine systemtheoretische Expertise. Während Fritz Simon im »Anhalten der Welt« die Chance sieht, das Ende des Marktfundamentalismus einzuläuten, offenbart sich für Steffen Roth die Situation anders; für ihn war der Staat bereits in den letzten Jahrzehnten das dominante Gesellschaftssystem.

Meine Rolle wird sein, diesen Disput zu moderieren, die Positionen zuzuspitzen, um damit die Diskussion zu fokussieren. Als Sozialwissenschaftler mit der Intention, Systemtheorie und Liberalismus zu vereinen, freue ich mich, dass der Verlag meine Idee aufgegriffen hat, die benannten Fragen mit renommierten Akteuren kontrovers zu diskutieren.

Eine andere Rotation

von Fritz B. Simon

Die Welt steht nicht still, aber im Moment scheint sie die Drehrichtung zu ändern – nicht zurück, sondern irgendwie anders (Ende der Metapher). Dass es nicht gut ist, wenn Tausende von Menschen sterben, die Freiheitsrechte des Einzelnen beschränkt werden und die Wirtschaft in ein künstliches Koma versetzt wird, kann kaum bezweifelt werden. Doch wie meist gibt es Gutes im Schlechten.

Wir sind ja Zeugen und Betroffene eines radikalen Prozesses. Der Staat zeigt seine Muskeln, indem er Grenzen setzt: für die Freiheit des Einzelnen, der Unternehmen, des öffentlichen Lebens, der Religionsausübung usw. Mit anderen Worten: Es wird regiert.

Die Sorge, dass staatliche Vorgaben und Kontrollen, die einmal eingeführt sind, nicht mehr zurückgedreht werden, ist berechtigt – wenn auch in den etablierten Demokratien weniger als in autoritär regierten Ländern des ehemaligen Ostblocks.

Wir leben in der (westlichen) Welt in einer funktionell differenzierten Gesellschaft. Die Radikalität der Änderung der Drehrichtung dieser Welt besteht meines Erachtens darin, dass die Beziehung der Funktionssysteme gerade verändert wurde. Seit der von Ronald Reagan und Margaret Thatcher beförderten »Revolution« war de facto das Wirtschaftssystem allen anderen Funktionssystemen, d. h. auch dem politischen System, übergeordnet. Dabei wurde »Wirtschaft« synonym zu »Markt« verstanden. Die zunehmende Deregulierung der Märkte führte in weiten Bereichen des öffentlichen Lebens zur Verabschiedung des Staates aus der Verantwortung für überlebensnotwendige Infrastrukturen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass in der gegenwärtigen Krise gerade in den Ländern, in denen das Gesundheitssystem am radikalsten privatisiert oder »kaputtgespart« wurde, die meisten Corona-Todesfälle zu beklagen sind.

Die Chance, die in der gegenwärtigen Krise liegt, besteht meines Erachtens darin, dass die Politik (d. h. nicht unbedingt: der Staat) wieder in die Verantwortung geht, wenn es um die Frage geht, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Denn der ungeregelte Markt und seine Mechanismen geben auch eine Antwort auf diese Frage: die zwangsläufige Spaltung der Gesellschaft.

Fluktuation

von Steffen Roth

Stillstand sieht anders aus. Im Lockdown treibt es uns aus den Löchern. Indem wir die einen Masken aufsetzen, lassen wir die anderen fallen. Grünen macht das Virus jetzt blauen Himmel und Lust auf mehr. Postwachstumsflagellanten erfreut, dass man im Käfig nicht mehr der Gejagte ist. Liberale lesen wieder Foucault. Und bis hin zum UN-Generalsekretär lässt man keinen Zweifel daran, dass sich »die Wirtschaft« im Gegenzug für staatliche Krisenhilfe politischen Zielen unterordnen muss. Erst reinschubsen, dann erpressen. Politik beansprucht einmal mehr den Vorrang vor allen anderen Funktionssystemen.

Das kann feiern wer will, einen grundlegenden Richtungswechsel kann ich darin nicht erkennen. Zum einen ist diese Hybris allen Funktionssystemen gemein. Zum anderen betreiben wir seit einiger Zeit Big-Data-Forschung zum Bedeutungswandel der Funktionssysteme zwischen 1800 und 2000.3 So können wir den Rückgang der Religion, einen Zuwachs der Wissenschaft und den sanften Aufstieg des Informationszeitalters nachvollziehen. Was unsere Daten nicht hergeben: eine dominante Stellung des Wirtschaftssystems. Vielmehr zeigt sich das letzte Jahrhundert als politisches Jahrhundert, und das quer durch alle untersuchten Sprachräume. »Mehr Politik« wäre demnach kein »new normal«. Mehr Politik wäre einfach nur mehr vom Selben.

Ob mit oder ohne Krise wäre eine andere Gesellschaft somit eine, die neben Politik und dem Indexpatient Wirtschaft andere Funktionssysteme nicht nur kennt, sondern in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Das Spiel »Andere Gesellschaft« geht demnach nicht ohne Politikblindheit. Nur so wird der Biedermeier zum Brandstifter.

Bis die notwendige Unbeobachtung der Politik gelingt, ist man mit einem multifunktionalen Liberalismus gut beraten. Anders als der aktuell geschmähte Neoliberalismus würde sich diese Spielart des Liberalismus nicht nur auf Wirtschaft, Recht und Politik konzentrieren, sondern sich dem wechselseitigen Interventionsschutz aller Funktionssysteme verschreiben, und somit die reflexive Bescheidenheit, die sowohl dem Liberalismus als auch der Systemtheorie zu eigen ist, konsequent auf die Beobachtung aller Funktionssysteme ausweiten.

Die Stimmung wird kippen

Berliner Zeitung, 24. April 2020

Überfordert der Staat sich selbst – und seine Bürger?

Tagesspiegel, 25. April 2020

Gesellschaft im Hygienestress: Händewaschen nie vergessen!

FAZ, 26. April 2020

Schäuble warnt vor zu hohen Erwartungen an den Staat

Spiegel, 26. April 2020

Reopening Has Begun. No One Is Sure What Happens Next.

New York Times, 26. April 2020

A Few Thousand Protest Stay-at-Home Order at Wisconsin State Capitol

New York Times, 26. April 2020

2Die Welt läuft weiter, vielleicht schneller als je zuvor

von Heiko Kleve

26. April 2020

Die Welt steht nicht still. Auch wenn wir alle derzeit unsere physische Mobilität reduzieren müssen, ist von sozialer Distanzierung nichts zu merken. Die Kommunikation, also die soziale Grundoperation der Gesellschaft, läuft auf Hochtouren. Da sind sich beide Diskutanten einig. Der Dissens besteht in der Frage, welches gesellschaftliche Funktionssystem seine Kommunikationen dominant setzt. Derzeit ist es die Politik mit dem Gesundheitssystem im Rücken, das die Frage nach »gesund oder krank« auf die Fundamentaldifferenz von »Leben oder Tod« zuspitzt und damit den politischen Akteuren auf den Leim geht. Aber wie war es vorher: in der Prä-Corona-Zeit? Fritz Simon diagnostiziert, dass das Wirtschaftssystem seine Unterscheidungen der Gesellschaft übergestülpt hat; er sieht eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Steffen Roth widerspricht: Wir lebten und leben in politischen Zeiten, in denen alle Lebensbereiche mit staatlichen Interventionen rechnen müssen. Beide frage ich nun, wie sich die jeweiligen Behauptungen empirisch unterfüttern lassen. Woran erkennen wir die wirtschaftliche bzw. die politische Dominanz? Ich bitte also um Beispiele.

Selbstkastration des Staates

von Fritz B. Simon

Um herauszufinden, dass Religion als Funktionssystem an Bedeutung verliert, braucht man wahrscheinlich keine Big-Data-Forschung, sondern es reicht der sonntägliche Kirchgang … Offenbar kommt die Gesellschaft ohne Religion ganz gut zurecht (ohne Kunst auch, wie das gegenwärtige Corona-Großexperiment nahelegt). Anders steht es mit den anderen Funktionssystemen. Weder Politik noch Wirtschaft sind verzichtbar – und Ähnliches gilt in der westlichen Gegenwartsgesellschaft für Rechtssystem, Erziehung, Wissenschaft und Gesundheitssystem. Die Frage ist nicht, wessen System-Hybris berechtigt ist, sondern wie die Gesellschaft die Paradoxien bewältigt, die daraus resultieren, widerstreitenden, sich logisch gegenseitig negierenden Zielen und Interessen gleichzeitig gerecht werden zu müssen. Es geht also um das Verhältnis der Funktionssysteme zueinander – und zwar nicht auf einer abstrakten theoretischen Ebene, sondern pragmatisch, d. h. bei der Setzung von Prämissen der Entscheidung bzw. dem konkreten Entscheiden.

Sprechen wir also nicht vom politischen System und der Wirtschaft im Allgemeinen, sondern vom Staat und der Logik seiner Entscheidungen und von der Wirtschaft, insbesondere Märkten, und ihren Entscheidungsprämissen. Mein Vorwurf an den Staat ist, dass er sich selbst kastriert hat, indem er, statt sich der Auseinandersetzung um die Ziele der Politik und die daraus abzuleitenden Entscheidungsprämissen zu stellen, bestimmte Entscheidungen an Märkte delegiert hat und sie damit deren Entscheidungslogik unterworfen hat.

Um die von Heiko Kleve geforderten konkreten Beispiele zu nennen: Städtische Wohnungen sind an Investoren verramscht worden; kommunale Wasser- und Elektrizitätswerke sind an Großkonzerne verkauft worden; die Deutsche Bahn hat ihr Streckennetz reduziert, um den Erwartungen des Kapitalmarkts gerecht zu werden; Krankenhäuser (vor allem private) müssen Profite erwirtschaften (was u. a. in Einzugsgebieten mit einer wohlhabenderen Klientel zu überdurchschnittlich vielen Blinddarm-Operationen führt).

Die Annahme, Märkte brächten rationalere Lösungen als politische Prozesse hervor, ist nur dann richtig, wenn Rationalität allein als ökonomische Rationalität zu verstehen wäre. Aber die anderen Funktionssysteme und ihre Akteure müssen ihren eigenen Rationalitäten folgen (auch wenn sie dazu Geld brauchen).

Selbstorganisation des Staates

von Steffen Roth

Nennen wir das Kind also beim Namen: Der Staat ist nicht »die Politik«, sondern eine Organisation, und die ist beileibe nicht nur politisch. Staaten investieren, forschen, erziehen oder setzten Hygienemaßnahmen um. Und doch bleibt es die bevorzugte »Selbstverstümmelungsstrategie« dieses Organisationstyps, sich erst mit einer politisch gedachten Gesellschaft zu verwechseln und dann wie besessen »Wirtschaft und Gesellschaft« zu spielen.

Wissenschaft hat daran unrühmlich Anteil, wenn sie auf Autorität und Sonntagsevidenz setzt statt auf Theorie und Methode. Wer ohne aufwendige Wahrheitsprogrammarbeit immer schon weiß, welche Funktionssysteme kriegswichtig sind oder nicht, der sieht die Welt dann zumeist wie die durchschnittliche Nationalregierung, die je ein Drittel ihrer Aufmerksamkeit auf Politik und Wirtschaft verwendet – die restlichen Funktionssysteme kommen unter ferner liefen. Weltweite Empirie gibt es hier.4 Man braucht sich aber auch nur das Kabinettportfolio der Deutschen Bundesregierung vor Augen halten, wo mindestens vier Wirtschaftsministerien (Finanzen, Wirtschaft, Landwirtschaft und Wirtschaftliche Zusammenarbeit) einem für Gesundheit und einem für Wissenschaft und Erziehung gegenüberstehen. Diesen polit-ökonomischen Überhang haben demokratische mit diktatorischen Regierungen gemein.

Nun steht es jedem organisierten Beobachter frei, markante Funktionssystempräferenzen auszubilden und so lange aufrechtzuerhalten, bis es nicht mehr geht. Das aktuelle Stichwort lautet Gesundheit.

Wenn die Entscheidungsprämissen von Staat und Regierung dieser Tage wieder auf dem Prüfstand stehen, dann kann die funktionale Konsistenzprüfung auch jenseits des altvertrauten Grabenkrieges von Staat und Markt vollzogen werden. Wenn Wohlfahrt einschließlich Gesundheit auf Wohlstand und dieser wiederum auf Innovation basiert, dann können sich die Wohlfahrtsstaaten des 21. Jahrhunderts die systematische Geringschätzung der Eigenlogiken von Wirtschaft, Wissenschaft und, ja, auch Kunst nicht mehr lange leisten. Insofern ist politische Zurückhaltung auch auf Staatsebene keine marktliberale Luxusflause, sondern eine wohlfahrtspolitische Notwendigkeit.

Allensbach-Chefin: »Das Misstrauen der Politik gegenüber der Bevölkerung ist bemerkenswert«

Handelsblatt, 27. April 2020

Ein anderes Virus. Zweifel am Kurs der Politik müssen sein – aber der zunehmend giftige Ton der Debatte wird der Lage nicht gerecht

Die Zeit, 29. April 2020

Despite Trump’s Nudging, Schools Are Likely to Stay Shut for Months

New York Times, 29. April 2020

Lufthansa reduziert Arbeitszeit und Kapazität weiter

FAZ, 29. April 2020

Systemrelevante Berufe: Klatschen ist gut, ordentlich bezahlen ist besser

Frankfurter Rundschau, 29. April 2020

Corona-Lockerungen: Geld oder Leben, was wiegt mehr?

Rheinpfalz, 29. April 2020

3Organisation gesellschaftlicher Aufgaben

von Heiko Kleve

29. April 2020

Nun sind Fritz Simon und Steffen Roth von der Ebene der gesellschaftlichen Funktionssysteme Politik und Wirtschaft auf die Ebene der Organisationen gesprungen. Fritz Simon hat Beispiele angeführt, mit denen er deutlich macht, wie er seine Kritik am »Marktfundamentalismus« meint, nämlich als Kritik an der Privatisierung von kommunalen, sozialen oder gesundheitsbezogenen Aufgaben. Entsprechend der kritisierten Privatisierungslogik sollen nicht nur klassische Unternehmen der sogenannten Realwirtschaft dem Marktwettbewerb folgen, sondern z. B. auch Krankenhäuser. Wir könnten in Ländern, die die Krankenversorgung in dieser Weise massiv privatisiert haben, sehen, dass damit besondere Probleme in der Patientenbehandlung einhergehen. Aber stimmt das? Italien, das bekanntlich große Schwierigkeiten hatte, die Corona-Krise zu bewältigen, hat gewissermaßen ein sozialistisches Gesundheitssystem, jedenfalls eine Finanzierung des Systems, wie es sie auch in der realsozialistischen DDR gegeben hat: »Italien verfügt über ein staatliches mit Steuern finanziertes Gesundheitswesen. Die einzelnen Leistungen werden vom nationalen Gesundheitsdienst (SSN, Servizio Sanitario Nazionale) zur Verfügung gestellt. Ziel ist es, allen Bürger*innen unabhängig vom Einkommen und sozialem Stand eine einheitliche medizinische Grundversorgung mit Hilfe der italienischen Krankenversicherung zu ermöglichen.«5 Im Gegensatz dazu hat Singapur, der Stadtstaat, der die Corona-Krise offenbar vorbildlich und mit einer abgewogenen Verhältnismäßigkeit der Mittel bewältigt, ein fast gänzlich privates Gesundheitswesen. Steffen Roth betont, dass auch der Staat eine Organisation sei, in der die unterschiedlichen Logiken der gesellschaftlichen Systeme wie Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft oder Kunst zirkulieren, sich gegenseitig tangieren und als Kontextfaktoren aufeinander Bezug nehmen. Die Frage scheint doch zu sein, wie Organisationen auch jenseits der Realwirtschaft ihre Entscheidungsprämissen verstehen und strukturieren. Wie sollten also beispielsweise Krankenhäuser finanziert werden? Welche Rolle müsste hier die Wirtschaft spielen? Wie ist bestenfalls der Staat eingebunden?

Wozu Staat?

von Fritz B. Simon

Lassen wir die Frage, ob die Charakterisierung des Staats als Organisation passend ist, mal beiseite (es gibt ja die These, »Staat« sei die Selbstbeschreibung des politischen Systems – was mir ziemlich plausibel erscheint), und schauen wir auf die empirischen Daten von Steffen Roth, auf die er verweist, wenn er die vielen Wirtschaftsministerien ins Feld führt.

Ich finde es gut, hier auf die empirischen Daten zu schauen, aber – und das scheint mir der Knackpunkt – ich würde sie genau umgekehrt interpretieren: Die Tatsache, dass wir so viele Wirtschaftsministerien haben, ist Beleg dafür, dass die Wirtschaft inzwischen die Politik übernommen hat. Denn all diese Ministerien verstehen sich – zumindest ist das die Folgerung, wenn man ihre Politik analysiert – als Lobbyisten für Wirtschaftsinteressen. Am deutlichsten ist dies beim Landwirtschaftsministerium, das sich dem Schutz der heimischen Bauern verschrieben hat, aber auch das Außenministerium fungiert oft genug als Handelsvertreter, wenn DAX-Vorstände mit dem Außenminister in die weite Welt fahren. Dass zunehmend Vertreter von Wirtschaftsverbänden als Leiharbeiter in Ministerien Gesetzentwürfe formulieren, ist nur das Tüpfelchen auf dem i. Und dass nach einem höheren Posten in der Politik der nächste Karriereschritt ein Führungsposten in der Wirtschaft ist, folgt derselben Logik.

Dass der Staat die Autonomie fast aller Funktionssysteme nicht respektiert und sie irritiert, gehört meines Erachtens zu seinen Aufgaben: Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.

Die Frage, ob er sich in all diesen Bereichen engagieren sollte, ist berechtigt.

Die Antwort muss meiner Meinung nach lauten: Nur, wenn es wirklich um politische Fragen geht, das heißt, wenn es um kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung (wie ich der üblichen Definition gern hinzufügen würde) geht. Daher lässt sich die Frage auch verkürzen: Wozu brauchen wir den Staat und seine Institutionen? Die Antwort kann sowohl die Ausdehnung als auch die Begrenzung oder auch die Neudefinition und Neuordnung von Funktionen nahelegen.

Eine politische Frage, die politisch zu beantworten ist, d. h. durch öffentliche Auseinandersetzung, an deren Ende kollektiv bindende Entscheidungen und ihre Durchsetzung stehen.

Wozu staatliche Wirtschaftsbesessenheit?

von Steffen Roth

Die Selbstbeschreibung des politischen Systems als Staat hat bekanntlich kaum Vergangenheit und wenig Zukunftsaussichten. Zum einen kennt unsere Weltgesellschaft Weltpolitik nur ohne Weltstaat. Zum anderen haben Funktionssysteme keine Adressen. Das Recht kann nicht klagen und die Wirtschaft nimmt keine Schecks an. Ein Staat aber kann Schulden machen oder zur Rechenschaft gezogen werden, und wo Staat nicht Person war, ist das ein Hinweis auf Organisation.

Wenn sich die Exekutive eines Staates nun dem Stalking einzelner Funktionssysteme verschreibt, dann kann man mit Fritz Simon die Spießrute auch umdrehen und die Verantwortung dem Opfer zuschreiben: Das aufreizende Verhalten der wirtschaftlichen Interessenvertreter lässt dem Staat keine Wahl. Er muss einfach immer wieder intervenieren. Auch in diesem Fall bleibt die Diagnose der politischen Überbeobachtung von Wirtschaft aber bestehen, und es liegt nahe, eine Therapie in weniger staatlicher Beobachtung von wirtschaftlichen Interessen zu sehen.

Insofern ist es eben doch mehr überliefertes Problem als innovative Lösung, wenn der Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen. Diese selbstverständlich legale Form der Korruption gelingt mehr schlecht als recht, was konsequent ist, hat sie doch mit der Kernfunktion des Staates kaum etwas zu tun. Aus dem verfassten Recht zur Gewaltmonopolisierung, -teilung und -kontrolle folgt jedenfalls kein Vorrang von politischen vor religiösen, wissenschaftlichen, ästhetischen und nicht zuletzt eben wieder rechtlichen Vorstellungen von Gesellschaft.

Wenn der Staat tatsächlich an Wirtschaftsbesessenheit leidet, dann lässt sich das nicht mit der nächsten eigentumsrechtlichen Gesprächstherapie entlang der Leitunterscheidung Privatisierung versus Verstaatlichung kurieren. Denn auch in diesem rechtlich demarkierten Feld spielt man letztlich wieder nur Wirtschaft und Politik oder gleich den Klassiker Wirtschaft und Gesellschaft.

Wenn sich der Staat aber als zumindest vorrangig politische Organisation definiert, dann kann er mit Blick auf seine eigene Wirtschaftsmanie auch zum Schluss kommen, dass ihm Geld und mithin Wirtschaft nur ein Mittel zum Zweck ist, und sich nach Alternativen umsehen. So könnte er sich ganz entspannt darauf besinnen, dass es sich wie einst ganz gut mit Religion regieren ließe oder in einer nicht ganz fernen Zukunft auch schwerpunktmäßig mit Gesundheit. Ein Schuft, wer Arges dabei denkt.

Wer sich dennoch unbehaglich fühlt bei dem Gedanken an Zustände, die Heiko Kleve unlängst provokativ als Gesundheitsdiktatur bezeichnet hat, der bewertet die Autonomie und Sperrigkeit, die sich die Wirtschaft in der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit der Politik erhalten hat, sicher neu. Eine Politik und eine politische Theorie, die die Politisierung nicht nur der Wirtschaft, sondern auch aller anderen Funktionssysteme thematisiert und relativiert, ist demnach das Gebot auch dieser Stunde.

»Pakt für Nachhaltigkeit«: Grüne fordern Milliarden für die Wirtschaft

ntv, 2. Mai 2020

BDI: Wirtschaftsverbände fordern Ende der Corona-Beschränkungen

ZEIT ONLINE, 2. Mai 2020

Wirtschaft fordert einen klaren Exit-Fahrplan von der Regierung

Handelsblatt, 4. Mai 2020

As Trump Pushes to Reopen, Government Sees Virus Toll Nearly Doubling

New York Times, 5. Mai 2020

Hope and Worry Mingle as Countries Relax Coronavirus Lockdowns

New York Times, 5. Mai 2020

4Vom Für und Wider der Politisierung bzw. Ökonomisierung zur Staatskritik

von Heiko Kleve

5. Mai 2020

Beide Kontrahenten, Fritz B. Simon und Steffen Roth, haben sich in ihren Positionen ausdifferenziert. Sie kommen nicht zusammen, sie bleiben ihren Perspektiven treu. Leider haben sie bisher meine angemahnte Konkretisierungsforderung nicht aufgegriffen, wie denn nun etwa Organisationen, die selbst nicht der klassischen Realwirtschaft zugeordnet werden können, finanziert werden sollten. Vielleicht können wir im weiteren Diskurs dazu Beispiele sammeln, um von der gesellschaftstheoretischen auf die alltagspraktische Ebene überzuwechseln.

Zunächst bleibt festzuhalten: Während Simon die Politik als Schiedsrichter im gesellschaftlichen Spiel der Funktionssysteme versteht, kontert Roth, dass diese Systeme keinem gemeinsamen Spiel folgen, sondern ihren je eigenen Regeln gehorchen. Daher kann es keine politische Metastrategie geben, die interesselos, neutral oder allparteilich im »Kampf« der Partialinteressen für Ausgleich sorgt. Denn der Staat als »Selbstbeschreibung der Politik« oder als politische Organisation ist selbst interessengeladen unterwegs. Es geht ihm um Macht, um die Monopolisierung der Gewalt, um die Durchsetzung kollektiv bindender Entscheidungen sowie um die Sanktion derjenigen, die diese nicht anerkennen.

Genau an dieser Stelle laden wir einen Protagonisten ein, der mit seinem Zwischenruf die interessengeladene Perspektive des Staates noch deutlicher markiert: Dr. Stefan Blankertz. Mit ihm greift ein Sozialwissenschaftler, Philosoph und Romancier in den Diskurs ein, dessen Perspektive als libertär bezeichnet werden kann. Der Libertarismus könnte wohl als eine Form der Dekonstruktion des Staates und seiner Legitimationsideologien bewertet werden. So erscheint es passend, dass Stefan Blankertz Gründer und Betreiber des Murray-Rothbard-Instituts für Ideologiekritik ist.

Hat die Wirtschaft die Politik übernommen?

von Stefan Blankertz

Jedes Handeln hat einen ökonomischen Aspekt, denn jedes Handeln nutzt Ressourcen (selbst das Denken verbraucht Zeit). So ist es keine Zumutung, staatliches Handeln unter ökonomischen Gesichtspunkten anzuschauen. Vielmehr gibt es gar keine Möglichkeit, über es nachzudenken, ohne dabei auch ökonomische Gesichtspunkte zu berühren. Die Ökonomie des Staats unterliegt aufgrund seines Gewaltcharakters Besonderheiten. Der Staat erhält die Ressourcen nicht wie jede andere gesellschaftliche Organisation im direkten und freien Austausch. Vielmehr enteignet er die produktiv Tätigen (Einzelpersonen, Firmen usw.) und nutzt die so gewonnenen Ressourcen. Einerseits nutzt er sie zur eigenen Erhaltung. In entwickelten Staaten geht ein Großteil der Ressourcen andererseits an ausgewählte gesellschaftliche Organisationen (zum Beispiel Firmen), die ihm das im Gegenzug mit Loyalität danken.

Steffen Roth formuliert treffend, dass der »Staat seine Marktmacht ausspielt, um neben Soldaten und Polizisten auch Lehrer, Wissenschaftler, Richter, Priester und Theaterdirektoren mit Geld politisch auf Kurs zu bringen«. Diese so privilegierten gesellschaftlichen Organisationen stehen dem Staat zwar unisono loyal gegenüber, aber untereinander konkurrieren sie heftig um ihren Anteil an den Ressourcen. Aus den gesellschaftlichen Organisationen werden Interessengruppen, die sich nicht mehr nur durch das Bestreben erhalten, den Handlungspartnern (zum Beispiel Kunden) das von diesen Gewünschte zu liefern, vielmehr darüber hinaus Zugang zu öffentlichen Mitteln haben und sich ein Stück weit entfernen können von der Zustimmung der sie konstituierenden Personen. Das Gerangel der Interessengruppen ist das, was man landläufig als »Politik« bezeichnet.

Durch das Gerangel der Interessengruppen gerät die Politik an zwei heikle Punkte. Zum einen hat die Enteignung der Produktiven eine (negative) Wirkung auf die Produktivität. Der Grad an Enteignung kann nicht unbegrenzt gesteigert werden, um allen Forderungen der Interessengruppen nachzukommen. Zum anderen ist das ökonomische Abwägen, welchen Forderungen nachzukommen sei, mit schweren Verlusten an Legitimation dort verbunden, wo Forderungen abgewiesen werden oder sogar eine Verringerung der Zuwendungen droht. Dies ist die spezifische politische Ökonomie staatlicher Herrschaft. Während der Corona-Pandemie etwa war immer wieder die Rede davon, das Gesundheitswesen in dem einen oder anderen schwer betroffenen Land sei »totgespart« geworden. Da in keinem der Länder eine Reduzierung der Quote des Staats am Bruttosozialprodukt stattgefunden hat, bedeutet dies nur eins: Finanzmittel sind nicht in dem Maße ins Gesundheitswesen geflossen, wie es dessen Vertreter gern gesehen hätten, sondern anderen Interessengruppen zugutegekommen. Da die Gesundheitskosten in den letzten Jahrzehnten überall drastisch gestiegen sind, heißt »totgespart« nicht einmal, dass der Anteil des ökonomischen Wohlstandes, der für das Gesundheitswesen aufgewendet wurde, tatsächlich gesunken ist, sondern sich nur nicht im gewünschten Maße steigern ließ.

Die Interessengruppen – wie die Vertreter der Krankenkassen oder der Ärzte, der Arbeitgeber oder der Gewerkschaften usw. – erobern nicht den Staat und üben ungebührlichen Einfluss auf ihn aus, sondern sie sind ihrerseits vom Staat geschaffen. Die Klage über den ungebührlichen Einfluss von bestimmten Interessengruppen ist immer ein Teil des Machtkampfes zwischen den Interessengruppen: Es klagt eine Interessengruppe, die andere Interessengruppe habe zu viel Einfluss. Fritz B. Simon zählt einige der Interessengruppen auf, die der Staat finanziert: »Er bezahlt Lehrer und Wissenschaftler, Richter und Polizisten, Krankenhausärzte und Gesundheitsämter, Theater- und Museumsdirektoren, ja, sogar die Finanzierung der Kirchen sichert er.« Zwar lässt Simon offen, welche Interessengruppen durch den Staat seiner Meinung nach legitim zu bedienen seien, jedoch bemängelt er auf jeden Fall den zu großen Einfluss der Wirtschaftslobbyisten.