»Für unsere neuen Freunde, die uns ein Dach über dem Kopf gegeben, unsere Wasserflaschen aufgefüllt oder uns ein Lächeln geschenkt haben. Ohne euch wäre es nicht möglich gewesen.
Von Herzen Danke.«
Einleitung
Zentral- und Osteuropa
»Wo geht es hier bitte nach Malaysia?«
Beine aus Blei
Der Elefant im See
Kávé mit Määääh
Alte Freunde
Der erste Winter
West- und Zentralasien
Radler mit Rettungsringen
Unkonventionell übernachten
Die Melonenmisere
Der Präsident im Baumwollfeld
Esmeralda
Zwischen Eselskarren hinterm Mond
Plov
Zu früh gefreut
Süd- und Ostasien
Eine Chihuahua-Mischlingshündin auf dem Viehmarkt
Die haarigen Wächter der Zehntausend Stufen
Chinesische Hochzeitstorte
Vom Fußende, von gerösteten Pommes und vom Shampoo Shin
Die 32 Geister, die wir riefen
Laoten in Eile
Knochenbrecherfieber ohne Gesichtsverlust
Abschied vom Mekong
Schlafanzüge und Schuldgefühle
Empathie zwischen Reisfeldern
Barfuß durch Ziegenmist und Matschepampe
Australien und Ozeanien
Kulturschock
Verweilen statt eilen
Wer rastet, der rostet
Kirchenchor im kleinen Königreich
Alps 2 Ocean
Zeltstraße im Paradies
Nordamerika
Falscher Elch
On top of the world
Die kreisende Chipstüte
Schneemann im August
Spitzenküche aus dem Campingkocher
Panierte Schnitzel
Maya-Ruinen und Karibikstrände
Westeuropa
Ein voller Magen und ein bisschen Gesellschaft
Triefende Abenteuer-Häuptlinge
Feierabend
Impressum
Roberto und ich lernten uns kennen an dem Tag, als ich bei ihm einzog. Er war Hauptmieter einer Dreier-WG in Guadalajara, Mexiko, und ich war eine Studentin im Auslandssemester. Er war damals 26, ein begnadeter Koch, interessiert an Kunst und Fotografie, ein talentierter Karaokesänger und für jeden Quatsch zu haben. Ich war 22, ein Energiebündel mit Tendenzen zum Hippietum, Spaß am Feiern und am Kajakfahren, dem in der Großstadt die Natur fehlte. Wir fanden einander auf Anhieb sympathisch, unternahmen viel zusammen, und mit der Zeit wurde mehr daraus, ohne dass wir es je darauf angelegt hätten. Es folgte ein knappes Jahr der Fernbeziehung, aber wir wussten, wir würden nicht für immer auf verschiedenen Kontinenten leben. Sobald ich die Uni hinter mir hatte, würden wir auf Reisen gehen.
Reisen, das war meine Leidenschaft, so lange ich denken kann. In meinem ersten Schulatlas ist meine Weltreiseroute dick eingezeichnet. Sie verläuft allerdings auf dem Wasser, da ich damals dachte, ich würde mir sicher eine Jacht leisten können, mit der ich um die Welt segeln würde. Menschen, ihre Kulturen, Landschaften und Natur, das alles zog mich magisch an. Inspiriert von Abenteuergeschichten, Reiseerzählungen und meinem Atlas schmiedete ich Pläne und träumte vom großen Abenteuer.
Roberto ging es ähnlich, doch das Vorhaben, seinen Jugendtraum von Abenteuern à la Indiana Jones auch Wirklichkeit werden zu lassen, hatte er als Erwachsener hinter anderen Plänen zurückgestellt. Nun haben sich die Prioritäten gewandelt. Roberto überließ also die Designfirma seinen Mitgründern, gab die WG auf, kaufte einen Reiserucksack, packte seine Siebensachen und setzte sich in ein Flugzeug nach Europa. Angst vor Veränderungen konnte man dem Mann wirklich nicht vorwerfen.
Wir lebten ein paar Monate gemeinsam in Deutschland, er lernte Deutsch, ich schrieb meine Abschlussarbeit, und wir bereiteten uns auf die große Reise vor. Das Datum des ersten Reisetages hatten wir ein Jahr vor Reisestart gewählt, einfach, weil wir uns sonst auf nichts festlegen konnten und so zumindest eine feste Komponente hatten. Auch die Richtung Osten stand bald fest, der Rest jedoch nicht. Nun ging es ans Konkretisieren. Erst spät setzte sich das Fahrrad gegen die anderen möglichen Transportmittel durch. Es war ein enges Rennen. Zunächst sortierten wir alles aus, was unpraktisch war, schwer und teuer zu beschaffen oder bisher noch nicht existierte. Das waren Kamele, eine Kombination aus einem Klapprad und einem aufblasbaren Kajak, ein Van sowie eine Eigenkonstruktion eines Kanadiers aus Blech mit aufpumpbaren Rädern, die zum Tretboot umfunktioniert werden konnten. Kajaks, Pferde und Wanderstiefel hingegen lagen noch lange im Rennen. Die Gründe, die für das Rad sprachen, lagen auf der Hand: Man bewegt sich kostenlos aus Muskelkraft, schnell genug, jedoch nicht zu schnell, wir besitzen bereits Fahrräder, und wir haben keine große Investition für den Fall, dass uns das Leben unterwegs doch nicht taugen sollte. Als Nachteil sahen wir den sportlichen Aspekt (klingt anstrengend, ob wir das überhaupt packen?) und den Fakt, dass wir uns auf (kleine) Straßen und (Rad-)Wege beschränken müssten. In einen umfunktionierten Kinderanhänger platzierten wir die beiden Wanderrucksäcke und Wanderstiefel, bereit, die Räder gegen Schusters Rappen zu tauschen, sobald es uns zu anstrengend würde oder uns die sehr simplen Fahrräder unter den Hintern weg zerbröselten.
Als Ziel setzten wir uns Südostasien, genauer gesagt Malaysia, wo unsere Freunde Apit und Dila wohnten. Den zeitlichen Rahmen ließen wir komplett offen. Da eine unbekannte Reisedauer aber für die meisten Freunde, Verwandten und Bekannten eine absolut unmögliche Vorstellung war und sie doch zumindest so »uuuuungefähr« wissen wollten, was wir so anpeilen, gaben wir ein Jahr an. Dennoch, eine unter Zwang geforderte Aussage ist ungültig, und so fühlten wir uns auch in keiner Weise unter Druck, dieses Jahr füllen zu müssen.
Der anvisierte Starttag kam ... und verging. Wir waren einfach noch nicht fertig, es gab noch viel zu viel zu tun. Aus Zeitdruck strichen wir die bepackte Proberunde und legten mit zwei Tagen Verspätung – ohne Generalprobe – los. Am Vormittag war Roberto noch einmal losgefahren und hatte uns eine zweite wasserdichte Packtasche gekauft, weshalb wir dann auch noch einmal umpacken mussten. Verabschiedet hatten wir uns nach und nach von allen Freunden, und so ganz ohne Abschiedskomitee war es auch gar nicht schlimm, dass wir erst um 13 Uhr starteten. Die meisten wussten nicht einmal, dass wir den ursprünglichen Starttag nicht hatten halten können und wirklich immer noch in Bremen steckten, also war es uns ganz recht, dass wir uns so klammheimlich davonstehlen konnten.
Wir rollten los, einfach vorwärts. Ließen die kleine Dachgeschosswohnung hinter uns, dann unsere Straße und unser Stadtviertel. Wir fuhren durch die Stadt, an Domsheide und Schnoor vorbei, über die Weser und bogen links auf den Weserradweg ab. Ziemlich schnell befanden wir uns auf bisher unbekannten Wegen, und gar nicht so viel später fuhren um uns herum Autos mit DH-Kennzeichen. Wir hatten den niedersächsischen Landkreis Diepholz erreicht!
Endlich waren wir unterwegs. Alles, was hinter uns lag, der Stress der letzten Wochen, die Unsicherheiten von vor ein paar Stunden schien plötzlich so klein, so unbedeutend. Es ging alles sehr schnell und fühlte sich so natürlich und richtig an, als wäre es nie anders gewesen. Wir waren unterwegs, frei und glücklich. Nichts konnte uns mehr stoppen.
POSITIV Flache fahrradfreundliche Landschaft, die Leute sagen »Moin«, gut ausgeschilderte Wege (wenn man drauf bleibt), viele Märchenstädte
NEGATIV Wind und Nieselregen
GELERNT Einfach mal machen, es muss auch nicht alles ausgereift sein
Es fängt gerade an zu tröpfeln, da sehen wir einen Fußgänger mit seinem Hund an der nächsten Kreuzung. Wir fahren langsam weiter und halten direkt neben ihm. »Entschuldigung, wo geht es denn bitte zurück zum Weserradweg?«, frage ich. Er mustert uns kurz, zeigt nach links und erklärt uns grob den Weg. Ein typisch wortkarges, aber hilfsbereites Nordlicht. Neugierig, aber zurückhaltend. Wir bedanken uns und wollen schon weiterziehen, da gibt der Spaziergänger sich einen Ruck und fragt, wo wir denn hinwollen mit alldem Gepäck. »Nach Malaysia!«, antworten wir stolz. Da ist er aber baff. Verlorenen Fernradlern läuft man im niedersächsischen Lunsen wohl nicht alle Tage über den Weg. Sein Blick schweift von meinem mit Kabelbindern am Lenker befestigten Fahrradkorb über die nagelneuen, aber sehr einfachen Fahrradhelme und bleibt schließlich an meiner orangenen einzelnen Fahrradtasche aus Stoff hängen. »Und wo seid ihr gestartet?«, fragt er weiter. Kurz wechseln Roberto und ich einen betretenen Blick. »In Bremen«, antworte ich schließlich etwas kleinlauter. Es kostet den guten Herrn sichtlich alle Kraft, ein spontanes Lachen zu unterdrücken. »Jo, na denn. Gute Fahrt!«, sagt er, zieht kurz an der Hundeleine und lässt uns links liegen. Bremen liegt genau 30 Kilometer weiter nördlich, und der gute Lunsener hat uns kein Wort geglaubt und uns sicherlich für Spinner gehalten. Und wer kann es ihm schon verübeln?
Es ist eigentlich alles ganz gut gelaufen, bis wir uns den Bogen über Verden sparen und lieber die direkte Strecke fahren wollten. Auf der Fahrradkarte sah das ganz einfach aus. In der Theorie sieht aber vieles einfach aus.
Wir treten an diesem Tag noch weitere 25 Kilometer lang in die Pedale und zelten schließlich vorm Ortsschild von Hoya zwischen zwei Maisfeldern. 55 Kilometer im Sattel, das ist meine persönliche Bestleistung. Meine längste Fahrradtour. Meine erste Mehrtagestour. Das erste Mal wild zelten in Deutschland. Und heute ist erst der Anfang. Es ist Tag eins von einer Reise, die uns in über fünf Jahren um die Welt führen würde. Aber als wir an diesem Abend auf unseren Isomatten sitzend die müden Beine massieren und uns ein einfaches, aber kalorienreiches Abendessen zubereiten, wissen wir das natürlich noch nicht.
POSITIV Apfel-, Birnen- und Walnussbäume für lau an Feldwegen
NEGATIV Hügel, Schotter und Orientierungsschwierigkeiten
GELERNT Nicht gleich aufgeben; ein hart erarbeitetes Ziel weiß man Jahre später noch zu schätzen
Wir haben den Weserradweg sowie den Fuldaradweg hinter uns gebracht. Irgendwann hörten die R1-Schilder auf, und seither ist es hügelig. Wir befinden uns irgendwo grob zwischen Rhön und Spessart, eher Rhön. Genau wissen wir das nicht, die Karte verstehen wir nur bedingt. Roberto schwitzt und schnauft, kommt jedoch gut voran, langsam, aber stetig – dabei zieht er den Anhänger. Ich hingegen fluche, schimpfe, halte an, atme, schimpfe noch mehr, überlege, das Rad ins Gebüsch zu pfeffern, schiebe stattdessen, steige wieder auf und beschließe im Zehn-Minuten-Takt, dass es das jetzt gewesen sei und ich »die Schnauze gestrichen voll habe«. Roberto will mich aufmuntern und motivieren, doch ich werde nur immer pampiger. Ich bin enttäuscht von meiner eigenen Leistung. Dass es hügelig werden würde, war von vornherein klar, in der Karte ist die Umgebung braun statt grün. Trotzdem kommen die Steigungen für mich nach zwei langen Flussradwegen plötzlich und bringen mich unerwartet aus dem Konzept. In mein Tagebuch schreibe ich am Abend »Der R2 führt MITTEN durch die Rhön. Bergauf, bergab, die GANZE Zeit. Ich bin sehr kaputt. Sehr sehr.« Und genau so meine ich es auch.
Um meine grenzenlose Erschöpfung und dagegen Robertos leichtes Schwitzen nachzuvollziehen, hilft ein Einblick in unsere Kindheit. Roberto ist in Tijuana aufgewachsen, einer Stadt am Pazifik, in der es außer dem Stadtzentrum und der Strandpromenade kaum flache Straßen gibt. Man braucht ein Automatikgetriebe, um permanent am Berg anzufahren. Sein Elternhaus liegt an einem steilen Hügel, so hoch, dass man bis hinüber nach San Diego blicken kann. Diesen Hügel haben die Nachbarskinder und er zum Skateboarden über Rampen genutzt.
Ich hingegen komme aus einem norddeutschen Dörfchen, dessen höchste Erhebung mit 31 Metern über dem Meeresspiegel der Mühlenberg ist, von dem aus man eine tolle Aussicht bis auf die andere Seite des 200 Hektar großen Sees hat. Richtig gelesen, wir bezeichnen 31 Meter Höhe als »Berg«. Der See sowie das gesamte Umland liegen in etwa auf Höhe des Meeresspiegels. Und vor dem letzten Teil des Anstiegs auf diesen Berg steht ein Warnschild für alpin weniger erfahrene Autofahrer, dass es nun etwa 180 Meter lang mit sieben Prozent Steigung hinauf geht. Zum Glück kann man den Gipfel von unten schon sehen.
Dass ich eine Flachlandbewohnerin bin, ist nicht der einzige Grund für meine Konditionsschwierigkeiten. Meine Beine sind eher puddinghaft als stählern, ich halte unterwegs regelmäßig für Raucherpausen, gebe keine Acht auf meine Ernährung und fahre zudem auf einem absolut reiseuntauglichen Rad. Auf den flachen Routen Norddeutschlands war das alles irrelevant. Die fehlende Erfahrung beim Schalten war auf ebener Strecke auch kein Manko, hatte ich doch bisher nie mehr als zwei funktionierende Gänge auf meinem Stadtrad zur Verfügung gehabt. Ich bin zwar Gegenwind-erfahren, aber das hilft mir nun nicht. Erst jetzt in der Rhön rächt es sich, dass ich keinerlei Radelmuskeln aufweisen kann.
So kommt es also, dass ich mich im niedrigsten Gang in Schrittgeschwindigkeit Steigungen hinaufquäle, die für jeden hügelerfahrenen Gelegenheitsradler auch mit Gepäck kein Problem wären. Ich hingegen schwitze, fluche, futtere Motivationsbonbons, überlege mehrfach umzudrehen und erkläre laut, dass ich beim nächsten Bahnhof aufhören und mit dem Zug an die Donau fahren würde, denn da müsse ja schließlich bis zum Schwarzen Meer alles flach sein. Die Vorstellung, dass jeder mühsam hinaufgequälte Meter in einer kurzen Abfahrt wieder »verloren« geht und ich kurz darauf wieder bergauf fahren werde, macht mich schier verrückt. Ich werde frustrierter, gereizter, und irgendwann sieht Roberto ein, dass es das Beste ist, wenn einfach jeder schweigend in seinem Tempo radelt.
Als wir am Abend die Schutzhütte Steiger auf der Wasserscheide zwischen Weser und Rhein erreichen, habe ich endgültig genug. Doch es ist vollbracht, höher hinauf müssen wir vorerst nicht. Hier bleiben wir einfach über Nacht. Die Hütte ist ein paar Meter groß und hat ein Dach, also sparen wir uns den Aufbau des Zeltes und breiten unsere Schlafsäcke auf den Sitzbänken aus. Völlig k.o. vom extremen Konditionstraining essen wir unsere Ravioli gleich kalt aus der Dose, ziehen unsere wärmste Kleidung an und sinken ziemlich schnell in einen erlösenden Schlaf. Wir befinden uns 527 Meter über dem Meeresspiegel, das entspricht der Höhe von 17 Mühlenbergen oder auch etwa der Höhe der Stadt München.
POSITIV Breiter perfekt ebener Donauradweg, schöne Innenstadt in Bratislava
NEGATIV Hinter Bratislava wird es etwas eintönig
GELERNT Die kreativ bunte Vorstellungskraft läuft im Dunkeln auf Hochtouren
Nach über einem Monat im Sattel erreichen wir die Slowakei. Das erste Land, in dem wir beide vorher noch nie waren und in dem wir die Sprache nicht verstehen.
Am späten Nachmittag radeln wir auf einem breiten Radweg vorbei an einem kleinen See. Perfekt! Hier stellen wir gleich das Zelt auf. Der Ort ist absolut idyllisch, der See liegt klar und spiegelglatt da. Wir sehen den ganzen Abend über keine Menschenseele und genießen die Ruhe. Es wird Nacht, und wir schlafen gut, bis sich plötzlich etwas Riesiges gleich neben unserem Zelt austobt. Sofort sind wir hellwach. Es klappert, platscht und klatscht so laut, als sei dort ein Elefant im See. Wir liegen mucksmäuschenstill da, die Schlafsäcke bis zur Nase hochgezogen, starren einander in die Augen und lauschen. Was kann das nur sein? Es muss größer sein als ein Wildschwein und schwerer als ein Hirsch, denn es macht einen Wahnsinnsradau. Ausgerechnet jetzt fällt mir ein, dass während Robertos Kindheit mal alle Tiere aus einem privaten Zoo in Tijuana ausgerissen und durch die Straßen gezogen sind – Flusspferd, Tiger und Puma eingeschlossen. Waren da heute nicht Plakate für einen Wanderzirkus? Welche Geräusche machen Elefanten eigentlich, wenn sie nicht tröten? Nachschauen kommt jedenfalls nicht infrage. Das Tier scheint unsere Anwesenheit noch nicht bemerkt zu haben, und wir wollen es gern dabei belassen. Nach einer Weile entfernt sich das Tier, und für den Rest der Nacht kehrt wieder Ruhe ein. Wir verbleiben verwirrt und etwas verängstigt liegen, sind aber auch müde genug, sodass wir ziemlich schnell wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen sind wir gerade dabei, unsere Siebensachen zu packen, als ein junger Mann mit seinem Hund neben uns stehen bleibt. »Sagt bloß, ihr habt da gezeltet?«, fragt er erstaunt auf Englisch. »Das hätte ich mich nicht getraut, bei all den Bibern!«, erklärt er und blickt nach oben in die Baumkronen. Wir folgen seinem Blick, und erst jetzt wird uns klar, dass die Bäume zu allen Seiten um unser Zelt herum angenagt sind, gefährlich schief stehen und dass wir ein riesiges Glück haben, dass es nicht windiger ist. Jetzt wissen wir auch, was es mit unserem nächtlichen Elefanten auf sich hatte: Das ohrenbetäubende Klatschen in der Nacht war der Biberschwanz auf der Wasseroberfläche und das Klappern das Annagen der Bäume! Nur gut, dass unser Gegenüber keine Ahnung hat, was sich in der Vorstellungskraft von uns Outdoor-Anfängern heute Nacht abgespielt hat.
POSITIV Gulaschsuppe, Geigenmusik, Radweg teils entlang der Donau
NEGATIV Jede Menge platte Reifen, viel Regen
GELERNT Unseren ersten Platten notdürftig zu flicken, hält bis zu zwei Tage
Wir radeln schneller und schneller durch die Dämmerung. Sobald es einmal ganz dunkel ist, wird es wirklich schwer, einen geeigneten Zeltplatz zu finden. Aber es will sich einfach nichts ergeben. Wir fragen eine Dame, die gerade mit ihrer Gartenarbeit fertig ist, nach einem geeigneten Plätzchen. Sie deutet den Weg entlang in Richtung Wald und sagt etwas, was wir nicht verstehen. Wir verabschieden uns und folgen der Matschpiste. Hinter einem umgeknickten Drahtzaun entdecken wir eine ebene grasbewachsene Fläche. Es ist mittlerweile zappenduster, und wir beschließen, nicht mehr länger zu suchen. Selbst wenn es ein Privatgrundstück ist, wir stehen einfach ganz früh auf und verschwinden noch vor Sonnenaufgang. Der Wecker steht also auf 6.30 Uhr, sodass wir 45 Minuten zum Packen haben, bis die Sonne aufgeht. Dennoch, so richtig wohl fühlen wir uns nicht und dass in der Ferne Schüsse fallen, entspannt die Lage auch nicht gerade. Dennoch schlafen wir ganz gut, bis ich morgens um 6 Uhr ein Motorengeräusch höre. Roberto schläft noch. »Nur nicht paranoid werden, Annika, der will sicher nicht hierher. Unser grünes Zelt sieht man in der Dunkelheit ja nicht einmal«, rede ich mir ein. Das Motorengeräusch kommt näher, wird langsamer, dann richten sich die Scheinwerfer direkt auf uns. Mein Herz pumpt wie verrückt. Ich erinnere mich an die Geschichten von Ungarn, die ihr Grundstück mit dem Gewehr vor Menschengruppen mit Zelten verteidigen, aus Angst, diese würden sich auf Dauer dort niederlassen. Der Motor geht aus, aber die Scheinwerfer bleiben an. Die Autotür schlägt zu. Ich blicke neben mich. Roberto atmet ruhig weiter, seine Augen sind geschlossen. Ich stupse ihn an, er dreht sich und scheint langsam aufzuwachen. Was, wenn da draußen die Besitzer des Grundstücks gerade ihre Gewehre auf uns richten? Ich fälle eine schnelle Entscheidung, rufe abwechselnd »Hallo« und »Tourist«, ziehe die Reißverschlüsse auf, steige barfuß und im Schlafanzug in die Kälte und fange an, demonstrativ die Zeltheringe herauszuziehen, um zu zeigen, dass wir gewillt sind abzureisen. Während das Zelt um ihn herum zusammenfällt, wacht Roberto endgültig auf und steckt seinen Kopf aus dem Zelt.
Erst jetzt traue ich mich, unser Gegenüber in Augenschein zu nehmen. Ein Mann um die 40 steht da vor dem offenen Kofferraum, guckt sich das Geschehen interessiert an und füllt aus seiner Thermoskanne eine Tasse Kaffee ab, die er mir hinhält. »Kávé?«, fragt er. Ich lasse die Hand voller Zeltheringe fallen, strecke sprachlos die Hand aus und gucke ungläubig in sein freundliches Gesicht und dann in den vollgestopften Kofferraum dahinter. Alles voller Angelausrüstung. Der Mann, der sich im Laufe des Gesprächs als Janö vorstellt. ist eine Art Sicherheitsbeauftragter für die Angelgewässer dieser Gegend, und ihm werden die Tage oft lang so ganz ohne andere Menschen, also freut er sich umso mehr, auf uns gestoßen zu sein. Mir fallen hundert Steine vom Herzen. Roberto und ich trinken einen Kaffee und helfen Janö, seine Ausrüstung hinunter zum Steg zu tragen. Gestern Abend hatten wir nicht einmal gewusst, dass die Donau keine 30 Meter hinter uns liegt. Wir nutzen Janös Plumpsklo mit der 360 °-Karibiktapete samt Frau in Bikini und setzen uns noch eine Weile zu ihm auf den Steg, wo wir uns mit Händen und Füßen auf Deutsch, Englisch und Ungarisch zu unterhalten versuchen. Wir sind einander sympathisch, auch wenn wir kaum etwas verstehen.
Doch nach dem Schreck am frühen Morgen schwören wir uns, nie wieder irgendwo das Zelt aufzustellen, wo wir uns unwohl und unsicher fühlen.
In unserer letzten Nacht in Ungarn erinnern wir uns an diesen Vorsatz, als wir kurz davor sind, auf einem Stoppelfeld neben einer Tankstelle haltzumachen. Stattdessen fahren wir zwei Kilometer weiter und bitten einen freundlichen Landwirt um Erlaubnis, auf seinem Grundstück zelten zu dürfen. Während ich das Zelt aufbaue, nähert sich ein kleiner Mann. Er ist schlank und trägt einen Dreitagebart. In seiner dicken blauen Winterjacke sind einige Löcher zu sehen. Er lächelt und winkt uns unsicher zu. Wir winken zurück. Er kommt näher und sagt auf Englisch »Hello«. Wir erwidern »Szia« auf Ungarisch. »Annika vagyok«, stelle ich mich auf Ungarisch vor. Roberto und der kleine Mann – Lotzi – machen das Gleiche. Viel mehr können wir beide nicht auf Ungarisch, daher stehen wir nur da und lächeln nervös. Während ich das Zelt aufbaue, unterbreche ich die unangenehme Stille und erkläre auf Deutsch, was wir machen. Er versteht nichts. »Englisch?«, frage ich? »Nem«, antwortet er und schüttelt den Kopf. Als das Zelt aufgebaut ist, öffne ich eine Tür, und er schaut kurz hinein. Er lächelt uns wieder zu. Das Gespräch friert kurz wieder ein, dann zeigt Roberto seine zehn Finger, macht Fäuste, zeigt wieder die zehn Finger, macht wieder Fäuste und zeigt acht Finger. Danach deutet er auf sich selbst und sagt auf Spanisch »Veintiocho«, um sein Alter zu nennen. Lotzi versteht, deutet ebenfalls auf sich und zeigt eine Menge Finger, während er die ungarischen Zahlen murmelt. Bei 54 hört er auf. Ich mache es den beiden nach und ende bei 25. Lotzi überhäuft mich mit einem Redeschwall. Als er fertig ist, bin ich ratlos, denn ich habe kein Wort verstanden. Dann zeigt Lotzi auf sich selbst und macht »Määääh«. Endlich verstehe ich: Lotzi ist Schäfer und arbeitet für den Bauern. Nun versuchen wir zu erklären, wer wir sind und was wir tun.
Ich zeige in die Luft, überlege und sage »Hamburg«, denn das ungarische Wort für Deutschland habe ich vergessen, und das kleine Bremen kennt man hier sicher nicht. Dann bewege ich meine Hände, als hielten sie die Pedale des Fahrrads und zeige auf den Boden vor uns, wobei ich »Itt« sage, das ungarische Wort für »hier«. Lotzi macht auch die Pedalbewegung und nickt anerkennend. Dann zeigt er auf uns beide und fragt etwas. Ich verstehe nicht. Mit Daumen und Zeigefinger deutet er etwas Kleines an und bewegt danach die Hand zum Mund, als würde er den Inhalt trinken. Er fragt, ob wir einen Schnaps trinken wollen! Ach, warum nicht? Ein Schlummertrunk geht doch immer.