IMPRESSUM
Der Blecher von Dieter Scheidig
© 2018 Dr. Dieter Scheidig
Alle Rechte vorbehalten.
Autor: Dieter Scheidig
Borngasse 2-3, 07407 Rudolstadt
Lektorat: Eva Thun, Jörg F. Nowack
Buchsatz und Covergestaltung: Jörg F. Nowack
www.lektorat-nowack.de
Foto des Autors: Jörg F. Nowack
Books on Demand GmbH
ISBN: 978-3-752-87112-8
Dieses Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Die Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist zufällig.
»Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen,
von Menschen verrichteten Taten oder Untaten,
wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder,
was klein war, groß gemacht wird,
und wie gleich als durch Zauberei alte,
glänzende Staatsgebäude verschwinden,
und andere an deren statt
wie aus dem Boden hervorkommen.
Nein: nichts von allem dem.«
Immanuel Kant, Rechtslehre,
Der Streit der Fakultäten
Die Vergangenheit jedes Einzelnen scheint voll unentdeckter Geschichte, welche, so sie durch Erinnernwollen in den Erkenntnishorizont des Jetztmenschen gebracht würde, uns immer wieder durch die ihr eigene Dramatik des unwiderruflich und endgültig abgeschlossenen Zeithorizontes, des »Nichts-mehr-ändern-Könnens« er- und verschreckt.
Dies dürfte wohl der eigentliche Grund für die im Großen wie im Kleinen praktizierte »Geschichtsunwilligkeit« vieler aktueller, jeden modernistischen Modeschrei mit Enthusiasmus umsetzender Zeitgenossen sein.
Die folgenden Zeilen erinnern an durchaus altmodische Dinge: Moral, Naivität und Langsamkeit, sie enthüllen ein winziges Sandkorn des großen, unendlich gefüllten Stundenglases Vergangenheit: Ein kaleidoskopartiger Ausschnitt aus den letzten Tagen von Alltags-Ost-Germany und den ersten Tagen der »neuen« Zeit.
Gelingt es, in dieser Skala der Gefühlspossen und des persönlichsten Erlebens von Berthulf Meßdorf etwas spürbar werden zu lassen vom Hautgout1 des endigenden kleineren Deutschlands?
Ist diese kleine Erzählung ein Rückzug in die Nische der des Persönlichsten, Intimsten, weg von der Weltgeschichte, jener Geschichte der Macht, der »großen Führer«, der blutigen Verbrechen und Völkermorde? Den großen Fluss der Alltagsgeschichte irgendwie zu bannen, ihm Vergangenes zu entreißen, einem speziellen, scheinbar vergessenen historischen Gegenstand oder Ereignis in einer Zeit Dauer zu verleihen, da in reklamierter Alleinerinnerung und Laber-Kommentaren von Politikern, Juristen und Künstlern die späte, bereits an Gangräne2 leidende DDR-Gesellschaft zu einer gleichgeprügelten Schicksalsgemeinschaft oder zum übersozialen und omniungerechten Selbstverwirklichungsparadies mutiert ist.
Die oft beschworene, angebliche einstige geistige und ökonomische Homogenität der DDR’ler wurde nach anderthalb Jahrzehnten genauso pauschalisiert wie ihre angebliche gesellschaftliche Minderwertigkeit.
Man sucht nach einer Erklärung, wie Menschen, welche die DDR über Jahre aktiv erlebt haben, bereits ein Jahrzehnt später völlig verschiedene Meinungen über deren Wirklichkeit haben konnten. Entbehrungen werden im Prozess der Legendenbildung verklärt, das menschliche Erinnern scheint ein Sieb und von der Gegenwart beeinflusst. Eine Traditionskuh allerdings möchte der Plot um Berthulf radikal schlachten:
Der vor 1989 angeblich so liebe und humane Umgang miteinander gehört genauso ins Reich der Fabel, wie die angebliche moralische Höhe des abgeschlossenen Biotops der DDR-Gesellschaft.
Diese Gesellschaft war nicht erst seit ihren weltgeschichtlichen Endjahren so fein sozial, ökonomisch und intellektuell in sich differenziert, dass die innergesellschaftlichen Widersprüche und gefährlich werdenden Friktionen weniger durch den Pappkameraden des vor den Toren stehenden Welt- und insbesondere des BRD-Imperialismus, eher durch die allen Bürgern gemeinsame lokale Immobilität und die täglich grauer werdende Wahrnehmungswelt sowie die konsumelle Malaise3, aus der kein Ausbruch möglich schien, vertagt wurden.
Dafür kommen diese indigenen Negativtraditionen bruchlos in der »Nach«-DDR-Gesellschaft heutigen Tages umso offener zu Tage: Getarnt als Sozialneid und rauer, frühkapitalistisch anmutender Wind, erzeugt von den neuen Kleinstmachthabern, Bürgermeistern und Abteilungsleitern, größtenteils Hybriden mit (zeitlich-logischer!) DDR-Vergangenheit und Schnellauffassungsgabe äußerlicher bundesrepublikanischer Normen: Demonstrativer Konsum und üble Büro-Hackordnung! Menschliche Kontinuitäten negativer Art bestimmten und bestimmen wohl unaufhörlich unser Sein …
Jede Generation sollte Geschichte (oder besser: die unendlich vielen Geschichten aller möglichen Aspekte menschlichen Lebens) mit ihrer spezifischen Erfahrung und auf ihre Weise zu deuten versuchen, eben auch in der Absicht, etwas über eigene Probleme, persönliche Fehlentwicklungen, eigene Schicksalsherausforderungen und deren Lösungen zu erfahren. Das wäre im besten Sinne die »Sinngebung des Sinnlosen in der Geschichte«, wie der von den Nazis ermordete Philosoph Theodor Lessing 1916 als Erster und so treffend formulierte.
»Man kann der Wahrheit keinen größeren Dienst erweisen, als sie von der Last der Unwahrheit befreien«, sagte Isaac Newton. Was im Großen gültig ist, muss auch im Kleinen und Kleinsten stimmig sein. Dieser dialektisch-philosophische Grundsatz verführt, gegen das geschichts- und alltagsgeschichtswertende Dauerpalaver einer besinnungslosen Medienzivilisation, Mythen zu entmythisieren, ohne die Möglichkeit, dass aus dem Ergebnis neue Mythen geschaffen würden.
Einstmals dichte und veritable Gewebe der Erinnerung reißen: Wie man vor und kurz nach 1989 lebte, die äußere, bereits morbide Erscheinung des Endes erkennend, ohne zu erkennen, aufpolierte Phrasen und Worthülsen ohne tägliche Entrüstung aufnahm, ohne mit Bewusstsein zu rezipieren.
Berthulf, der »Held« dieser Erzählung, ist kein »Phänotyp« der späten DDR-Zeit, er erinnert in seinem Gehabe und seinem Seelenleben eher ein wenig an die Amish People, jene amerikanische Glaubensgemeinschaft, die jeden Fortschritt ablehnt. Wohl kaum bringt er die charakteristischen Züge seiner Epoche evident zum Ausdruck, obwohl er keinesfalls ein singulärer Fall ist. Seinen Hang zum Eskapismus4, neurotische Vereinnahmungsangst, das Fluchtstreben in eine Scheinwelt, in eine lebens- und wirklichkeitsferne Nische teilte er mit Unzähligen seiner Generation. Er verfügt über eine – meist bösartig scheinende – Ironie, einen gewissen Esprit und politische Gleichgültigkeit, vielleicht sogar gewollte Blindheit. Die offiziellen Sprüche des Tages waren ihm völlig Hekuba5.
Wohl ist die Retrospektive, das Erinnern in einer Zeit hoher sozialer Mobilität geschönt, die »gute alte« DDR-Gesellschaft wird mal negativ, mal positiv instrumentalisiert, je nach dem politischem Standpunkt des Kommentators. Da fragt man sich ohnehin, ob die Debatte ein Phänomen, ähnlich dem der geistigen und moralische Bewältigung vor über einem halben Jahrhundert ist, und nicht das der Debatte zugrundeliegende Problem.
Das Ergebnis derselben wird ohnehin von der Nachwelt und deren Prinzipien und Gesichtspunkten abhängen. Die Reden und Bewertungen scheinen sich in ihrem kulturellen Repertoire zu gleichen. Hierin liegt wohl der größte Fehler.
War das Gute von damals in Wahrheit eher schlecht? Was aber niemand merken konnte, denn das Heute kannte noch niemand …
Auch diese Zeilen werden und wollen und können keine befriedigende Antwort geben, sie werden auf karitativ-moralisierende Logik weit gehend Verzicht tun. Ihr zeitlicher Rahmen beginnt, als für die DDR im letzten Fünftel der achtziger die Jahre des Niederganges begannen, er endet mit Berthulfs »Ankunft« in der bunten Republik, ohne seine Irrtümer alle lösen zu wollen, und bevor der Plot dann gänzlich im Belanglosen versinkt. Denn: Einen Show-down gibt es nicht. Nicht hier und auch sonst nicht.
Dieter Scheidig
Rudolstadt im Jahre 2006
1 Hautgout: eigentümlicher, würziger Geschmack und Geruch, den das Fleisch (von Wild) nach dem Abhängen annimmt.
2 Gangräne: Gewebsnekrose, meist infolge von Blutunterversorgung
3 Malaise: Unbehagen, Missstimmung, unbefriedigende Situation; Misere
4 Eskapismus: auch Realitätsflucht oder Wirklichkeitsflucht – die Flucht aus oder vor der realen Welt zugunsten einer Scheinwirklichkeit
5 jemandem Hekuba sein, werden: jemanden (nicht) mehr interessieren (nach "Hamlet", in dem auf eine Stelle bei Homer angespielt wird, wo Hektor zu seiner Gattin Andromaché sagt, ihn kümmere das Leid seiner Mutter Hekuba weniger als das ihre.)
Trocken-warmer Septembermontag 1988. Ein Mensch befindet sich in einem Autobus einer nahegelegenen LPG auf dem Weg nach Brehna. Berthulf Meßdorf, so sein Name, saß an einem Fensterplatz und schaute durch die staubfleckige, vergilbte Scheibe, in der sich sein Gesicht spiegelte. Kein schönes Gesicht. Pferdehaft lang, breite Backenknochen. Unruhig zuckender, blonder, kaum sichtbarer flaumig-dünner Oberlippenbart. Er war nervös. Trotz der ersehnten Aussicht auf Veränderung seines äußeren Lebens war er so nervös wie schon lange nicht mehr. Die Winkel seiner Augen zu beiden Seiten der Nasenwurzel lagen in tiefem Schatten: Berthulf Meßsdorfs Atem roch nach Unsicherheit.
Sein Blick blieb für Sekunden über ihm hängen. In einem durch vernickelte und schwungvoll gebogene Rohre gehaltenem, ausgebeulten Gepäcknetz befand sich eine Ledertasche, in der er neben Unterhosen und -hemden (die seine allsorgende Mutter im Taschenschlund verstaute; wir werden auf Herta Meßdorf, geborene Talatschus aus Jodlauken in Ostpreußen, wohl noch zu sprechen kommen) einige Reiselektüre und damit ein Stück Vertrautheit, Heimat, sichere Vergangenheit wusste: Eckermanns Gespräche mit Goethe, paritätisch daneben eine ältere Cotta-Ausgabe mit Stefan Georges Gedichten und ein zerlesenes Bändchen über Stilkunde. Erstere und zweite Publikation waren ihm Erbauungsbuch, Halt, Stab und Stecken nicht nur in den Tagen, die von Veränderung gekennzeichnet waren, wie die letzten. Mit dem letzteren Band wollte Berthulf etwas Studienvorbereitung treiben und sein dahingehend recht schlechtes Gewissen beruhigen. Der altersschwache, blau-weiße »Robur«-Bus, graublaue Rauchschwaden unter einem messingfarbenen Himmel verbreitend, hielt vor einem klumpig wirkenden, breit gelagerten einstigen Gutshaus am Rand des Dorfes. Zwiebelhaube, fleckiger, unansehnlicher Rauputz.
Ein unruhiges Licht schimmerte über dem Gelände. Ernteeinsatz als Studienauftakteule (Morgenstern!). Heißer Staubwind fegte über die fünfzehn, zwanzig Aussteigenden hin. Die Landschaft war für Berthulf Meßdorf bestürzend fremd. Ein hügeliger Höhenrücken, im Osten stand Wald. Mit Teerpappe gedeckte, niedrige LPG-Gebäude in welchen deren Verwaltung ihr Domizil hatte, bildeten ein großes, zerschlissenes Rechteck.
Im Eckgebäude ein auch tagsüber grell neonröhrenbeleuchteter Konsum. Tote Fliegen, Vita-Cola-Flaschen mit lichtblassen Etiketten und welker Weißkohl als magere Auslage hinter staubbedeckten, trüben Scheiben. Ein kittelbekleideter, faltiger Mensch kam auf einer knatternden blauen Schwalbe auf die verloren wirkende Gruppe zugefahren. Der LPG-Vorsitzende Hugo Kaupmann, wie sich später herausstellen sollte. Eine Reihe von übergroßen, hervorstehenden gelben und schlechten Zähnen entblößend, scherzte er mit den amazonenhaften Abiturientinnen, die seit zwei Tagen Fachschulstudenten waren. Sein blauer, leicht staubiger Kittel wehte im Herbstwind.
Berthulf stand unsicher, ängstlich klopfenden Herzens und mit unauffällig schweifenden Blick darauf achtend, dass er sich nicht allzu weit abseits befand, am Rand der Kommilitonenschaar, mit der er nun das Affenbänklein drücken sollte. Über die Wendeltreppe des hofseitigen Turmes wurden sie durch das schlecht und ungelüftet riechende Haus zu den Quartieren geführt. Den besten Platz am grau gestrichenen, summenden Eisenguss-Heizkörper hatte bereits ein behaartes Karpfengesicht namens Wricke inne.
Scheißkommilitonen! Die klaren Septembernächte waren bereits empfindlich kühl.
Er hörte laute Gesprächsfetzen aus dem Nachbarraum. Ein Langer, Frank Osten genannt, führte schon das große Wort. Aus dem gleichen unbedeutenden Provinzkaff der Südbezirke wie Berthulf stammend, gab er mit affektierter Stimme seine Leipziger Lokal- und Studienkenntnis zum Besten. Die blonde Freundin dieser Melange aus Conférencier und FDJ-Häuptling studierte im letzten Semester an der Fachschule, die für alle Rauminsassen undeutliche Zukunft bedeutete. Alle hingen an seinen Lippen: Gott, wie sie sich Führer suchen, dachte Bert verärgert; selbst sehr gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehend, an seiner nickelblitzenden antiken Klappkamera herumnestelnd und deren Funktion einigen umstehenden künftigen Studiengenossen mit seinen schönen, etwas dünnknochig-überlenkten, braungebrannten Fingern erklärend: »Der Zusammenhang zwischen Blende und Belichtungszeit ist ein denkbar einfacher, geradezu philosophisch …«, die Zuhörer schwanden rapide.
Nur einer, von dem leider gesagt werden muss, dass er auf niedrigen Schultern einen melonenhaften Kopf besaß und sich zudem den spärlichen Haarwuchs ängstlich nach vorn strich, sprach aufmerksam zu Meßdorf: »Die Dinger müsstest du bei mir als Chefverkäufer vertreiben. Berthulf? Du? Du hast Routine! Würdest ne Menge Geld machen!«
Der das sagte, hieß Philipp Norton und war selbst für späte DDR-Verhältnisse nachlässig gekleidet. Er trug eine Brille, welche ein so monströses Gestell besaß, dass Bert sich des Eindruckes nicht erwehren konnte, es sei auf der volkseigenen Rostocker Matthias-Thesen-Werft als Beitrag zur Konsumgüterproduktion hergestellt worden.
Norton (Allein dieser alberne Name! – Wie eine Nähmaschine! Oder wie ein Motorrad!) stammte aus eben diesem Werft- und Hafenort, sein Haar war durch dreijähriges Stahlhelmtragen bei der elitären Volksmarine gelichtet. Zur Marine ging man nun wirklich nicht! Das wusste doch jeder! Eher noch zur faden Bereitschaftspolizei, das konnte man tricksen: Die war in unmittelbarer Nähe des eigenen Wohnortes und man hatte viel Ausgang, wenn sich der Betreffende nicht allzu frisch und renitent anstellte.
Berthulf schaute während der kurzen Unterhaltung mit Norton zu einem Mädchen mit braunem Teint herüber, er hatte sie während der Busfahrt bereits geschickt und ohne erwischt zu werden, mit brennenden Augen vexiert. Wie eine römische Büste der Republik-Spätzeit, dachte er. Wohlgemerkt der Römischen Republik, nicht der Deutschen Demokratischen Republik, die ebenfalls bereits in ihre existenzielle Spätphase eingetreten war. Aber das wussten er und die anderen zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Die Feldarbeit des Tages war für alle ungewohnt. Hitziger Staubwind fegte über die Äcker, überzog Gerät und Mensch mit einer feinen gelben Schicht. Melde, ein Unkraut, musste im Land des technischen Fortschritts aus riesigen, nicht enden wollenden Mohnfeldern mit der Hand herausgezupft werden. Norton, der für sich schnell die Rolle des Permanenzkritikers okkupierte, amüsierte sich darüber köstlich. Als Vollmatrose der Handelsflotte war er weit herumgekommen, ein Attribut, das damals wohl die wenigsten Zeitgenossen für sich in Anspruch nehmen konnten.
»In England puschen die Arbeiter anders, schneller und mit anderen Arbeitsmitteln«, sagte Philipp mit knödelnder, wichtig-erhobener Stimme. Niemand hörte zu – außer Bert, durchaus nur aus biedermeierlicher Höflichkeit. Keiner mochte sich mit unerreichbaren Reisezielen bequatschen lassen. England, die Bermudas, nächstens noch der Mond oder München; was sollte das! Der Neidfaktor war auch bei Berthulf geweckt, wenngleich nur mäßig. Eher war er der seltenere Typ innerhalb des reisegeilen DDR-Soziotops, der da meinte, irgendwelchen Fernreisen müsste ein genauer Kenntnisstand der eigenen, lokalen Umgebung vorausgehen. Das Prinzip des Häuslichen nannte er es, von anderen unverstanden, die es nach Ferne gelüstete. Berthulf hätte nur ein fernes, für ihn als gelernten DDR-Bürger natürlich unerreichbares Ziel nennen mögen: das Goethesche Italien, seines Lieblingsmeisters Lieblingsland. Bis er es betrat, sollten nur noch einige Jahre vergehen. Aber das war fern jeder aktuellen Realität, in deren lokal begrenzter Wirklichkeit man sich – zumindest die überwiegende Anzahl – einzurichten pflegte und als Ersatz-Italien mit den sömmerlich-heißen Wörlitzer, Weimarer oder Potsdamer Parklandschaften vorliebzunehmen pflegte.
Bert, obwohl damals doch mehr zu den Langschläfern gehörend, wachte durch die Schnarchgeräusche seiner Pritschennachbarn als Erster auf. Er ging durch den langen, mit rissigem Linoleum belegten Mittelflur in den Wasch- und Toilettenraum am Ende des Ganges, um dort prompt in ein schmuddeliges Waschbecken zu urinieren. Er beschaute dabei aufmerksam die Decke des Raumes, an welcher dick überstrichene Stuckornamente prangten. Anfang 18. Jahrhundert, dachte er. Bandelstil! Meßdorf gab sich wieder einmal selbst Gelegenheit, seinen stilistischen Scharfsinn zu bewundern. Das tat er wirklich gern. Dann öffnete er mittels eines elegant geschwungenen, patinierten Wirbelgriffs das hohe Fenster zum verwilderten Brehnaer Gutspark. Der Morgen war sehr still und schön und schimmerte feucht. Über Baumriesen leuchtete es rot, der Himmel flammte durch das Filigran von Ästen, Nebel kroch über Wiesen. Vögel schlugen ihr Kiwitt in Konkurrenz zu den heiseren Schreien der Krähen. Fernes Hundegebell. Auch hier Georges Verse »Durchs fenster dringt der herbstgeruch hier wird ein trost dem der nicht hofft …« Aber er, Berthulf nun, hoffte eigentlich auf alles. Plötzlich durchfuhr es ihn zerschneidend: Und wenn das Studium nun eine Forz-Idee ist? Wenn du es nicht schaffst? Ihn befiel plötzlich eine ungeheuere Angst. Berthulf rechnete mit den Fingern, wie er es immer machte, wenn er sich allein und unbeobachtet glaubte: Vor sechs Jahren verließ er die Zehnklassenschule. Zum Abitur langte es nicht, obwohl der alte Meßdorf Parteimitglied und ein durchaus geachteter und eifrig gegrüßter mittelhoher Kleinstadt-Behördenangestellter war. Es langte auch zensurenmäßig weder vorn noch hinten. Gott, wenn er an Mathe dachte. Desaströs! Nun, das gab es in dieser Studienrichtung nicht, dafür aber Russisch. Bei diesem Gedanken machte sich der Darm bemerkbar. Meßdorf flüchtete in eine Toilettenbox, zumal auch schlurfende Schritte vom Flur aus hörbar wurden. Er mochte jetzt niemanden sehen. Reichte schon, wie weiland bei der Armee (er dachte »Asche«, nicht Armee) mit lauter Unbekannten in einem Raum logieren zu müssen und am Abend nicht zum selbst- sondern fremdbestimmten Zeitpunkt einzuschlafen. Die Peinlichkeit morgendlicher Themenlosigkeit, Männerschlafsaal-Unterleibshu-mor und blöde studentische Heiterkeit waren ihm tatsächlich zuwider und nervend.
Auf dem schattigen Flur begegnete er dem römischen Mädchen. Liane hieß sie, er horchte immer angestrengt auf, wenn sie angesprochen wurde, um ihren Namen inkognito eruieren zu können. Wie eine zierliche, braungebrannte Amazone, dachte er.
»Guten Morgen!« Sein Herz schlug bis in den Hals. Gut, dass er einen grünen Morgenmantel mitgenommen hatte. Obwohl der knapp die Hälfte des Gepäckvolumens seiner großen, braunen und grobgenarbten Ledertasche verschlang, verlieh er jetzt Sicherheit und Würde, die sein verwaschener Pyjama ihm nie hätte geben können. Außerdem hatte er einen Halbsteifen, ein morgendlich-erigiertes Glied, welches es in den Falten des englischgrünen, hausjackenähnlichen Bademantels vor dem Mädchen zu verbergen galt. Sie antwortete mit einer dunklen, überraschend samtigen Stimme: »Morgen!« Ihr Haar war im Nacken zu einem kompliziert wirkenden Knoten gebunden, ihre Augen standen über hohen Backenknochen merkwürdig weit auseinander. Vor Verlegenheit wand er sich und las die ausgeschnittenen Schlagzeilen einer vergilbten Wandzeitung: »Täglich höchste Planerfüllung und qualitativ neue Intensivierungsschritte. Kollektiv der LPG Brehna zog konkrete Schlussfolgerungen aus der Bezirksdeligiertenkonferenz.« Worthülsen irgendeines lokalen Parteisekretärs, wahrscheinlich eine der trivialsten Existenzen des Ortes.
»Wir essen jetzt wie die alten Germanen!«, lallte Frank Osten mit biergerötetem, schwitzigen Gesicht. Winzige Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Bald wird man von den alten Ostzonis sprechen!«, übertönte Phils volle Stimme das durcheinandereilende Geplapper am Tisch der »Abschlussveranstaltung«.
Bert weigerte sich strikt, vom armen Spanferkel zu essen, welches die LPG am letzten Tag des Ernteeinsatzes den Studenten großherzig spendiert hatte. Abends stahl er sich mit Norton aus der von allen widerspruchslos akzeptierten Gruppenveranstaltung in der Kneipe davon. Wolken glitten rasch über den Abendhimmel. Wind wehte vom dunklen Grün des nahen Waldes und der Horizont schwamm ölig-golden.
»Ich hätte Nachtwächter auf der Wiesenburg bleiben sollen«, meinte Berthulf resigniert und mit vom Kneipenqualm rau-heiserer Stimme zu Norton.
»Quatsch, was willst du machen, wenn der ganze Scheiß hier mal flöten geht? Die guten alten Nachtwächter braucht dann keiner mehr!«
»Was für ein Scheiß?« Meßdorf schaute Norton entgeistert an, als hätte der etwas völlig Unsinniges, Undenkbares geäußert. Im gleichen Moment schauten sich beide prüfend und verschämt um. »Zumindest das hat man uns perfekt beigebracht«, lachte ungeniert Norton mit der Überlegenheit seiner auf Bert uralt wirkenden sechsundzwanzig Jahre.
»Uns und andere zu beschwindeln nebst der Aufmerksamkeit, es keinen wissen zu lassen: Na, was denkst du, Berthulf, wie lange sich das alles noch hält?«
Meßdorf war total überfordert.