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© 2018 Peter Mersch

2., korrigierte Auflage

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

ISBN: 9783748104520

Inhaltsverzeichnis

  1. Hintergrund
  2. Neuerungen gegenüber der Darwinschen Theorie
  3. Systeme
  4. Evolutionsfähige Populationen
  5. Kompetenzerhalt
  6. Selektion und Wettbewerbskommunikationen
  7. Evolutionsprinzipien
  8. Anmerkungen
  9. Beziehung zur Darwinschen Evolutionstheorie
  10. Biologische Sonderfälle
  11. Nichtbiologische Evolutionen
  12. Technische Evolution
  13. Evolution von Allem
  14. Sozialdarwinismus
  15. Ethische und politische Konsequenzen
  16. Glossar
  17. Literatur

Vorwort des Autors

Bei der Systemischen Evolutionstheorie (Systemic Theory of Evolution) handelt es sich – grob gesprochen – um eine systemtheoretische Verallgemeinerung der biologischen Evolutionstheorie, deren Ziel es ist, alle auf dem Leben beruhenden eigendynamischen Evolutionen – inklusive der biologischen und soziokulturellen Evolution – mittels einheitlicher Evolutionsprinzipien zu beschreiben. Im vorliegenden Buch soll ihr Ansatz und ihr Weltbild möglichst präzise, umfassend und detailliert dargelegt und begründet werden. Insoweit erhebt der Text einen wissenschaftlichen Anspruch.

Bestrebungen, die Darwinsche Evolutionstheorie für eine Anwendbarkeit außerhalb der Biologie zu verallgemeinern, gab es in der Vergangenheit bereits reichlich. Einige Popularität erzielte Richard Dawkins' Ansatz, ein technisches Feature der biologischen Evolution – den Replikator – zur Grundlage jeglicher Evolution zu deklarieren: für die biologische Evolution das Gen, für die kulturelle Evolution das Mem. Die Systemische Evolutionstheorie könnte man demgegenüber eher als informationsbeziehungsweise wissensbasiert bezeichnen. Damit trägt sie der Vorstellung Rechnung, mit dem Leben sei auf der Erde eine Form der natürlichen Informationsverarbeitung entstanden, die per Evolution gewissermaßen "Geist" aus Materie entstehen lasse. Entsprechend ist sie in einigen Aspekten allgemeiner und abstrakter gehalten als die meisten alternativen Evolutionsmodelle.

Sie unterscheidet sich aber auch in einem weiteren wesentlichen Punkt von vielen anderen universellen Evolutionsansätzen: Statt die Prinzipien der Darwinschen Selektionstheorie als von vornherein gegeben und unveränderlich anzunehmen und sich deshalb primär auf die jeweils unterschiedlichen "Einheiten der Evolution" zu konzentrieren, stellt sie die Fundamentalität des Selektionsprinzips insgesamt infrage.

In den Naturwissenschaften folgt man für gewöhnlich dem Paradigma des Reduktionismus, dem zufolge alle Phänomene der Welt auf die grundlegendste Wissenschaft (die Mikrophysik) zurückzuführen sind1. Ich möchte eine solche Vorgehensweise nicht kritisieren, denn auch die Systemische Evolutionstheorie argumentiert über weite Strecken reduktionistisch. Im Rahmen ihrer Begründung wird sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die aktuellen Fundamente der Biologie (Gen-Egoismus, Evolutionstheorie) bislang nicht physikalisch, sondern ausschließlich biologisch plausibilisiert wurden. Allerdings sind mittlerweile selbst in der Physik Zweifel am Alleinerklärungsanspruch der reduktionistischen Methode aufgekommen. Beispielsweise gibt Philip W. Anderson in seinem Artikel More Is different. Broken symmetry and the nature of the hierarchical structure of science zu bedenken2:

(…) the reductionist hypothesis does not by any means imply a "constructionist" one: The ability to reduce everything to simple fundamental laws does not imply the ability to start from those laws and reconstruct the universe.

In Edward O. Wilsons Buch Sociobiology3 wurde eine Rekonstruktion der belebten Welt (inklusive des Menschen mit seinen Gesellschaften und Kulturen) – ausgehend von den fundamentalen Gesetzen und Annahmen der Biologie (unter anderem Gen-Egoismus und Evolutionstheorie) – konkret versucht, was dem Autor den baldigen Vorwurf des Biologismus einbrachte. Dabei war die gewählte Vorgehensweise durchaus naheliegend, denn schließlich eignet sich die Evolutionstheorie aufgrund ihres algorithmischen Charakters bestens zur (Re-)Konstruktion von natürlichen Phänomenen, was im Übrigen einen Großteil ihrer Wirkmächtigkeit und ihres Reizes ausmacht: Sie kann nämlich erklären, wie komplexere biologische Phänomene aus einfacheren entstehen, wie sich über einen längeren Zeithorizont etwas organisiert.

Allerdings fragt es sich, ob das Ansinnen unter den angenommenen biologischen Paradigmen auch Erfolg versprechend war. Genau das darf jedoch bezweifelt werden, und zwar unter anderem aus den folgenden Gründen4:

Etwas Ähnliches ist von der Kommunikationstheorie her bekannt. Analysiert man beispielsweise den Datenstrom zwischen zwei benachbarten Rechnern im Internet, wird man auf der untersten Ebene vermutlich eine Menge an Nullen und Einsen, bestimmte Start- und Endsequenzen zum Kennzeichnen der Nutzdaten und Prüfverfahren wie CRC (Cyclic Redundancy Check) oder SHA (Secure Hash Algorithm) vorfinden. Daraus lässt sich jedoch keineswegs das darüber liegende Netzwerkprotokoll, welches unter anderem zusätzlich für eine End-zu-End-Kontrolle von Gesamtnachrichten zwischen entfernten Informationssystemen, für deren Verschlüsselung, für Routing-Informationen und die Aufsplittung von Nachrichten in kleinere und unabhängig voneinander und gegebenenfalls sogar über unterschiedliche Wege zu transportierende kleinere Nachrichtenpakete sorgt, "rekonstruieren", von den darauf aufsetzenden Kommunikationen zwischen eventuell in verschiedenen Erdteilen lebenden Menschen einmal ganz zu schweigen. Man wird das Internet nur verstehen können, wenn man ein Modell aller Kommunikationsebenen besitzt. Und man wird selbst das, was auf der untersten Netzwerkebene abläuft (zum Beispiel die vorgefundenen CRC- und SHA-Prüfungen), nur dann korrekt einordnen können, wenn man weiß, dass auf der obersten Ebene Menschen wichtige vertrauliche Nachrichten austauschen.

Im Buch wird deshalb die These aufgestellt, dass eine allgemeine Evolutionstheorie nicht Bottom-up auf der Grundlage der biologischen Evolutionstheorie entwickelt werden kann, sondern es müssen dabei alle Evolutionsebenen betrachtet werden. Aus diesem Grund werden zentrale evolutionsbiologische Begriffe und Konzepte wie genetischer Code, Gen-Egoismus, Fortpflanzung, Kampf ums Dasein, sexuelle Selektion etc. im Buch zunächst so verallgemeinert und abstrahiert, dass sie sich auch auf höhere Kompetenz- und Evolutionsebenen anwenden lassen5. Die Vorgehensweise entspricht durchaus der Methodik, wie in der Mathematik Problemstellungen und Theoreme verallgemeinert werden.

Wissenschaft sollte die uns umgebende Welt jedoch nicht nur elegant und wortreich beschreiben, sondern darin auch konkrete Phänomene erklären und prognostizieren können. Und in diesem Punkt dürfte – trotz ihrer Allgemeinheit und Abstraktheit – das eigentliche Potenzial der Systemischen Evolutionstheorie liegen: Demografisch-ökonomisches Paradoxon, demografischer Wandel, Vorteilhaftigkeit der Getrenntgeschlechtlichkeit, Tragik der Allmende, Theorie der komparativen Kostenvorteile etc. – dies alles steht nicht nur im Einklang mit der Systemischen Evolutionstheorie beziehungsweise kann aus ihr abgeleitet oder vorhergesagt werden, sondern es lassen sich dafür zum Teil auch völlig neuartige Erklärungen finden.

Ich bin davon überzeugt, dass die Menschheit angesichts der sich global verknappenden Ressourcen und dem Erreichen der Grenzen des Wachstums6 dringend eine Evolutionstheorie benötigt, die auch ihr eigenes Tun mit einschließt und die Entwicklung menschlicher Phänomene, Gesellschaften und Kulturen wenigstens in Grundzügen modellieren kann. Wachstum, Beschleunigung und sich verknappende Ressourcen sind typische Begleiterscheinungen von Evolution, die Verteilung knapper Ressourcen in Populationen und die hierdurch bewirkten unterschiedlichen Reproduktionschancen Kernthemen von Evolutionstheorien, denn schließlich wird Evolution durch das kollektive Erlangen von Ressourcen mittels Kompetenzen und das sich daran anschließende Reproduzieren der Kompetenzen mithilfe der erlangten Ressourcen getriggert. Selbst wenn sich die Systemische Evolutionstheorie für all das einmal als nicht ausreichend tragfähig erweisen sollte, wird man mit Hochdruck an den Themen weiterarbeiten müssen, denn wie sonst wollte man die immer mehr Geschwindigkeit aufnehmenden Entwicklungsprozesse in menschlichen Gesellschaften noch rechtzeitig entschleunigen oder in andere Richtungen lenken können?

Ich danke allen Lesern, die den Text vorab gelesen und kritisch kommentiert haben. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Klaus Rohde (UNE, Armidale, Australien), ohne dessen zahlreiche konstruktive und zugleich kritische Anmerkungen das Buch in der Form nicht hätte entstehen und erscheinen können.

Saasen, im Oktober 2012

Peter Mersch

1 Für eine eingehende Diskussion des Themas, siehe Laughlin, Robert B. (2009): Abschied von der Weltformel. Die Neuerfindung der Physik. München: Piper

2 Anderson, Philip W. (1972): More Is different. Broken symmetry and the nature of the hierarchical structure of science, Science Vol. 177, S. 393-396

3 Wilson, Edward O. (1975): Sociobiology: The New Synthesis. Cambridge, MA: The Belknap Press of Harvard University Press

4 Weitere grundsätzliche strukturelle Limitationen der biologischen Evolution, die in den Voraussetzungen, Begrifflichkeiten und Prinzipien der Darwinschen Selektionstheorie ihren unmittelbaren Ausdruck fanden, sind:

  1. Eine Informationsübertragung beziehungsweise Replikation von Informationen erfolgt in biologischen Systemen üblicherweise (eine Ausnahme stellt der horizontale Gen-Transfer bei Bakterien und anderen einfachen Lebensformen dar, der von der Darwinschen Selektionstheorie jedoch nicht betrachtet wird) ausschließlich während der Fortpflanzung und vertikal von Eltern auf ihre Nachkommen. In menschlichen Gesellschaften und in oder auch zwischen menschlichen Organisationssystemen (zum Beispiel Unternehmen) findet hingegen ein fortwährender ausgeprägter horizontaler Informationsaustausch statt.
  2. Menschen (und menschliche Organisationssysteme) sind in der Lage, einen Großteil ihrer erworbenen Kompetenzen (Informationen) auch außerhalb ihres eigenen Körpers (in Schriftform oder digitalisiert) zu speichern. Hierdurch können sie anderen Individuen besonders rasch und umfassend (auch solchen, die in einem fernen Erdteil und in einer anderen Zeitzone leben oder erst in 100 Jahren geboren werden) zur Verfügung gestellt werden.

5 Es wird folglich zunächst die Frage gestellt, was etwa die Begriffe genetischer Code, Gen-Egoismus, Fortpflanzung, Kampf ums Dasein, sexuelle Selektion in einem abstrakten, systemischen Sinne bedeuten. In einer ersten Annäherung lautet die Antwort:

genetischer Code = in den Genen gespeicherte Kompetenzen (gespeichertes Wissen, gespeicherte Informationen) der Systeme (Evolutionsakteure)

Gen-Egoismus = Reproduktionsinteresse der Systeme bezüglich ihren in den Genen gespeicherten Kompetenzen

Fortpflanzung = Kompetenzreproduktion (Kompetenzerhalt/erneuerung) der Systeme mit niedriger Zeitpräferenz

Kampf ums Dasein = der von den individuellen Reproduktionsinteressen angetriebene Wettbewerb der Systeme um die Erlangung von knappen Ressourcen, die zur Kompetenzreproduktion benötigt werden

sexuelle Selektion = Wettbewerbskommunikation des Rechts des Besitzenden beim Wettbewerb der Systeme um knappe Ressourcen

6 Siehe etwa Meadows, Dennis L. (1972): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, München: Deutsche Verlagsanstalt und Meadows, Donella/Randers, Jorgen/Meadows, Dennis L. (2006): Grenzen des Wachstums. Das 30-Jahr-Update: Signal zum Kurswechsel, Stuttgart: Hirzel

Vorwort von Klaus Rohde

(Prof. Dr. Klaus Rohde, Zoology, University of New England, Armidale NSW 2351, Australia; Clarke Medal Winner)

Die Evolutionslehre ist heute generell akzeptiert. Sie kann nur von Obskuranten abgelehnt werden. Dies heißt aber nicht, dass Übereinstimmung über alle der Evolution zugrunde liegenden Mechanismen besteht. Darwin hat einen heute weitgehend akzeptierten Mechanismus für die Evolution biologischer Arten gegeben, die natürliche Auslese: Generell werden mehr Nachkommen produziert, als die in der Umwelt zur Verfügung stehenden Ressourcen unterhalten können; Individuen einer Population unterscheiden sich genetisch und diejenigen überleben oder erzeugen zumindest mehr Nachkommen, die sich im Wettbewerb um die Ressourcen durchsetzen (Kampf ums Dasein). Darwin hat auch die geschlechtliche Auslese begründet, gemäß der Sexualpartner aufgrund bestimmter Merkmale vorgezogen werden. Seit Darwin sind weitere Mechanismen vorgeschlagen worden, so die ebenfalls generell akzeptierte neutrale Selektion, die Selbstorganisation komplexer Systeme durch Stuart Kauffman und andere, und die zentrale Rolle der Evolution symbiotischer Systeme (vor allem Zellen) nicht mittels Wettbewerb, sondern Kooperation durch Lynn Margulis. Sehr umstritten ist die Bedeutung der Gruppenselektion, die unter anderem auch von Konrad Lorenz angenommen wurde (die Auslese fördert den Vorteil der Art manchmal sogar auf Kosten des Individuums). David Sloan Wilson hat den Begriff der "multilevel selection", eine Modifikation der Gruppenselektion eingeführt, ebenfalls sehr umstritten. All diese Mechanismen werden im Allgemeinen auf Organismen angewandt.

Evolution ist jedoch nicht auf biologische Arten begrenzt, wir beobachten, dass auch menschliche Gemeinschaften, Staaten, Wirtschaftssysteme, wissenschaftliche Theorien, Technik usw. evolvieren. Können wir eine Theorie entwickeln, die die Entwicklung (Evolution) auch solcher Systeme einschließt? Es gibt Versuche dies zumindest für einige Systeme zu tun, darunter der Sozialdarwinismus und die Soziobiologie, die jedoch nicht allgemeine Zustimmung gefunden haben. Peter Mersch hat eine generelle Theorie der Evolution entwickelt, die eine Verallgemeinerung des Darwinismus darstellt und auf der allgemeinen Systemtheorie, der Kommunikationstheorie, der Soziobiologie, der Ökonomie und der modernen Demografie basiert. Sie ist "mit der Ontologie des systemischen Materialismus vereinbar". Er nennt diese Theorie die Systemische Evolutionstheorie.

Sie ist nicht nur auf biologische Organismen, sondern auch auf andere evolutionsfähige Einheiten wie Superorganismen (zum Beispiel Staaten, Unternehmen) anwendbar. Mersch meint, dass die Darwinsche Lehre nicht zur Beschreibung der soziokulturellen Evolution benutzt werden kann, und er hat grundsätzliche Einwände gegen die von Richard Dawkins vorgeschlagene Memetik, die eine Fortentwicklung der Darwinschen Evolutionslehre darstellt. Vor allem sind Meme als Analogien zu Genen wie letztere nicht reproduktionsfähig. Der Darwinismus kann auch nicht das demografisch-ökonomische Paradoxon erklären, gemäß dem der Reproduktionserfolg des Menschen nicht positiv, sondern oft negativ mit dem sozialen Erfolg (Erlangung von Ressourcen) korreliert ist.

Die Systemische Evolutionslehre stellt fest, dass nur "Populationen, deren Individuen selbstreproduktive Systeme sind, evolutionsfähig" sind. Gene und auch Meme im Sinne von Dawkins sind nicht reproduktionsfähig und daher auch nicht evolutionsfähig. Evolutionsfähig sind dagegen die biologischen Organismen, die Gene und Meme besitzen. Aus diesem Grunde ist es auch falsch, davon zu sprechen, dass Gene sich selbst reproduzieren wollen ("das egoistische Gen"). Mersch definiert evolutionsfähige Systeme (= Evolutionsakteure) als gegenüber der Umwelt offen (das heißt, im Sinne von Ludwig von Bertalanffy als nicht im Gleichgewicht stehend), die

  1. Kompetenzen zur Erlangung von Ressourcen besitzen,
  2. Kompetenz reproduzieren können, und
  3. Reproduktionsinteressen besitzen, das heißt, die ihre Evolution "aktiv und eigendynamisch" betreiben können.

Die ersten beiden Punkte stimmen mit denen des Darwinismus überein, der letzte Punkt ersetzt die natürliche Auslese Darwins. Wichtig für die Anwendung der Systemischen Evolutionstheorie ist, dass man die Evolution von Systemen nur verstehen kann, wenn man die selbstreproduktiven Einheiten in ihnen nachweisen kann. Kompetenzen müssen nicht genetisch bedingt sein, und die Verteilung der Ressourcen kann durch das Recht des Stärkeren (dominante Kommunikation) und das Recht des Besitzenden (Gefallen-wollen-Kommunikation) erfolgen, das letztere wichtig in der geschlechtlichen Selektion und als Grundlage der Bildung von Märkten und der Zivilisation.

Etwas anders formuliert kann man sagen, dass die Evolutionsprinzipien der Systemischen Evolutionslehre die folgenden sind:

  1. Variation (selbstreproduktive Individuen mit unterschiedlichen Kompetenzen),
  2. Reproduktionsinteresse (Individuen mit möglicherweise unterschiedlichen Reproduktionsinteressen, was zur Konkurrenz um Ressourcen mittels des Rechts des Stärkeren (dominante Kommunikation) und/oder Rechts des Besitzenden (Gefallen-wollen-Kommunikation) führt, und
  3. Reproduktion (variationserhaltende Reproduktionsprozesse).

Prinzipien 1 und 3 sind Verallgemeinerungen der Evolutionstheorie Darwins, Prinzip 2 ersetzt die verschiedenen Selektionsprinzipien Darwins.

Die Systemische Evolutionstheorie betont, dass die die Evolution vorantreibenden Einheiten eigendynamische Evolutionsakteure im Gegensatz zu rein passiv selektierten Einheiten sind, sie unterscheidet sich vom Darwinismus darin, dass sie nicht davon ausgeht, dass sich Individuen (oder Gene) einer Population generell möglichst oft reproduzieren wollen, sondern dass sie unterschiedliche Reproduktionsinteressen besitzen können (wie zum Beispiel verschiedene Kasten von sozialen Insekten). Sie unterscheidet sich von der Soziobiologie, die annimmt, dass individuelle Reproduktionsinteressen das soziale Verhalten bestimmen, darin, dass die soziale Organisation die individuellen Reproduktionsinteressen nicht notwendigerweise auf genetische Art bestimmt. Die darwinsche Erklärung ist ein Sonderfall der Systemischen Evolutionstheorie für Populationen, deren Individuen alle ähnliche Reproduktionsinteressen besitzen. – Generell behauptet die Systemische Evolutionstheorie, dass "der unterschiedliche Erfolg der Evolutionsakteure bei der Reproduktion ihrer Kompetenzen (Informationen)" die Evolution bedingt.

Ein Blick auf die Entwicklung der Technik zeigt, dass der Nachweis von Selbstreproduktion entscheidend ist. In der Technik sind nicht die technischen Geräte, sondern die sie herstellenden Unternehmen die selbstreproduktiven und daher evolutionsfähigen Einheiten; Maschinen sind nur die Kompetenzen solcher Unternehmen. Ressourcen zur Finanzierung des Kompetenzerhaltens sind Geld, um die verschiedene Konkurrenten im Markt, ihrem Lebensraum, konkurrieren. Man kann demnach auch sagen, dass die Entwicklung (Evolution) der Technik ein "Nebeneffekt" der eigentlichen Evolution der evolutionsfähigen Markt-Anbieter (Unternehmen) ist. Ähnlich könnte man sagen, dass nicht die Art des Handels mit Aktien, sondern die Geldinstitute, in denen der Handel stattfindet, die evolutionsfähigen Akteure sind.

Von besonderer Bedeutung ist die Ablehnung des Sozialdarwinismus durch die Systemische Evolutionstheorie. Der Sozialdarwinismus behauptet, dass das in der Natur allgemein geltende Recht des Stärkeren auch in der menschlichen Zivilisation gilt: der Stärkere (Individuum, Klasse, Staat) hat immer recht. Wie aber oben gezeigt, sind in sozial organisierten Gemeinschaften, wie die des Menschen, die Reproduktionsinteressen der Individuen nicht identisch, das heißt, verschiedene Individuen stehen nicht unbedingt im maximalen Wettbewerb um Ressourcen, und das Recht des Besitzenden (Gefallen-wollen-Kommunikation) hat das Recht des Stärkeren (dominante Kommunikation) weitgehend ersetzt.

Wir fragen uns, in welcher Hinsicht die Systemische Evolutionstheorie einen Fortschritt gegenüber dem Darwinismus darstellt. Kann sie biologische Evolution und darüber hinaus die Evolution von höheren Systemen wie Staaten, Kulturen, der Technik und Wirtschaftssystemen erklären? Mir scheint, dass die Systemische Evolutionstheorie vor allem neues Licht auf die Evolution menschlicher Kulturen im weitesten Sinne, inklusive der Technik und staatlicher Organisation werfen kann, und eingehende kritische Berücksichtigung verdient. Ihre Terminologie ist klar und leicht verständlich, was vor allem auch für die Diskussion des Sozialdarwinismus wichtig ist. Es ist ja eindeutig, dass nicht alles in der lebenden Welt durch den "Kampf ums Dasein" bestimmt ist. Selbst der Mensch könnte nicht existieren, wenn alle seine Komponenten (Zellen usw.) nur zu ihrem eigenen Wohl selektiert wurden, sondern sie "kooperieren".

Eine Prüfung der Systemischen Evolutionstheorie muss allerdings kritisch sein. Mersch behauptet, dass der Darwinismus das demografischökonomische Paradoxon nicht erklären kann. Es ist jedoch zumindest theoretisch möglich, das Paradoxon als Exzessivbildung zu erklären: Überentwicklung des Gehirns und damit verbundener unerwünschter Folgen, wie die Unlust Kinder zu kriegen. Es gibt viele Beispiele fossiler Degenerationsserien (Exzessivbildungen) in der Evolutionsgeschichte, die durch einseitige darwinsche Selektion erklärt werden können: Exzessive Eigenschaften hatten Konkurrenzvorteile aber führten schließlich zum Aussterben. Selbst Eigenschaften biologischer Superorganismen, deren Ursachen bis heute noch nicht eindeutig geklärt sind, werden sich in der Zukunft durch eingehendere Untersuchungen vielleicht aufgrund schon bekannter Mechanismen erklären lassen, so zum Beispiel die soziale Organisation von Honigbienenstaaten. Dennoch wirft die Systemische Evolutionstheorie Licht darauf, wie solche Superorganismen organisiert sein müssen. In anderen Worten, es besteht kein Widerspruch zwischen der "reduktionistischen" Naturwissenschaft und der systemischen Theorie. Vielmehr ergänzen sich beide.

Die Annahme von die Evolution vorantreibenden eigendynamischen Evolutionsakteuren im Gegensatz zu rein passiv selektierten Einheiten steht im Einklang mit neueren theoretischen Erkenntnissen, die die Selbstorganisation komplexer Systeme für einen wesentlichen Evolutionsfaktor halten.

Ich empfehle das Buch vor allem Politikern, Politologen, Soziologen, Wirtschafts- und Kulturwissenschaftlern, die sich mit Fragen der Struktur und Entwicklung menschlicher Gemeinschaften (Staaten) befassen; aber auch Biologen könnten Anregungen für ihre Untersuchungen gewinnen.

Stimmen

Prof. Dr. Jochen Oehler

(Neuro- und Verhaltensbiologe)

Das Darwinsche Evolutionsparadigma hat mit seinem hohen Erklärungspotenzial auch für die Ausformung unseres heutigen Menschenbildes teils nicht nur ansatzweise viel beigetragen, wenngleich immer wieder zu bemängeln ist, dass die interdisziplinäre Wirksamkeit aus verschiedenen Gründen unzureichend geblieben ist. Eine Reihe von interessanten Ansätzen vonseiten der Molekularbiologie, der Verhaltens- und Soziobiologie einschließlich der Memtheorie haben für bestimmte Bereiche das evolutionäre Erklärungspotenzial zwar erweitert, aber noch nicht zu der erhofften übergeordneten neuen Theorie geführt.

Peter Mersch legt nun als Systemtheoretiker mit seiner Systemischen Evolutionstheorie einen umfassenden, vor allem übergeordneten Ansatz vor, der höchste Beachtung verdient. Er berücksichtigt alle vorgenannten Ansätze, demonstriert ihre Vorteile und Grenzen ihres Erklärungspotenzials und ihrer Aussagefähigkeiten und setzt sein systemtheoretisches Herangehen darüber, sodass in beindruckender Weise ein theoretisches Gebäude entsteht, was über den biologischen Bereich hinaus eine Fülle von Erklärungen und prognostischen Ansätzen enthält, die für den kulturellen menschlichen Daseinsbereich mit seinen komplexen sozialen, soziologischen, ökonomischen und politischen Dimensionen von wesentlicher Bedeutung werden kann. Wenngleich er dabei mitunter ein hohes Abstraktionsniveau erreicht, werden aber damit so manche festgefahrene Grundprinzipien wie das Selektionsprinzip nicht abgelehnt, aber doch für generelle Evolutionsverläufe als "nicht nur" dargestellt. Wenngleich in der Biologie unterschwellig verschiedentlich auch darüber diskutiert wird, wie zum Beispiel mit den Begriffen einer inneren und äußeren Selektion, zeigt Mersch durch seine übergeordnete systemische Betrachtungsweise einen höchst interessanten Zusammenhang von Phänomenen, der sich aus nur biologischer Sicht schwerlich erklären lässt. Evolutionsakteure sind eben nicht per se Konkurrenten, sondern können aufgrund neu entstehender Kompetenzen eine neue Systemebene und damit Funktionsebene als Kooperanten, Partnern oder auch Feinden werden. Damit ist sofort die Anwendung auf die aktuelle Situation der Menschheit mit ihren globalen Problemen der Ressourcennutzung in einem friedlichen Miteinander verbunden.

Der leider viel zu früh verstorbene Gerhard Neuweiler hat einmal geschrieben: Im Menschen emanzipiert sich die Evolution, denn er ist das einzige Lebewesen, das die Werkzeuge der natürlichen Evolution in die Hände nehmen und ihr eine eigene, humane Welt entgegensetzen kann. Beim richtigen Verstehen vor allem durch die verschiedensten anthropologischen, geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen und schließlich politischen Ebenen kann Peter Merschs Systemische Evolutionstheorie einen wichtigen Beitrag leisten. Ihr ist daher schnelle Verbreitung zu wünschen.

Prof. Dr. Dr. Franz Josef Radermacher

(Mathematiker/Informatiker; Leiter des Forschungsinstituts für anwendungsorientierte Wissensverarbeitung/n (FAW/n) in Ulm; Mitglied des Club of Rome)

Dies ist ein großartiges Werk. Es ist eine umfassende Darstellung des Gedankens der Evolution unter Einschluss allgemeiner Superorganismen, damit auch von Unternehmen, Staaten und der ganzen Menschheit, was mir thematisch immer schon ein besonderes Anliegen war und ist. Interessant ist insbesondere die Möglichkeit der Veränderung von Zielvorstellungen von Akteuren, in der Wechselwirkung der verschiedenen Ebenen, also beispielsweise das möglicherweise stärkere Interesse eines Menschen an der Beeinflussung des Denkens vieler anderer Menschen im Vergleich zur eigenen biologischen Reproduktion und Konzentration auf die eigenen Nachkommen.

Es ist ein großartiges Werk. Ich bin froh, dass ich es vorab lesen konnte.

Prof. Dr. Jürgen Tautz

(Biologe; BEEgroup Biozentrum Universität Würzburg; Communicatorpreisträger 2012)

Unter den Büchern, die sich mit dem Prozess und den Resultaten von Evolution befassen, ist dieses Buch für mich eines der originellsten seit Langem. Wie hier gezeigt, gelingt es, die Darwinsche Basis der Vorstellung von Evolution, die ja auch den Kern jeder Weiterentwicklung entsprechender Gedankengänge in der modernen Biologie bildet, gewinnbringend weiterzuführen und über viele sehr unterschiedliche Disziplinen hinweg zu verallgemeinern, wenn man seinen Blick weitet und möglichst unterschiedliche dynamische Systeme in die Analyse einbezieht. Das Werk bietet auch durch seine zum Teil überraschenden Blickwinkel und Verknüpfungen ein spannendes und sehr anregendes interdisziplinäres Gedankengebäude, dessen Erarbeitung für den Leser aller Mühe lohnt. Die Einbeziehung der soziokulturellen Evolution des Menschen gibt den anspruchsvollen theoretischen Überlegungen eine zusätzliche besondere Bedeutung.

Prof. Dr. Dr. Gerhard Vollmer

(Physiker und Philosoph; Mitbegründer der Evolutionären Erkenntnistheorie)

Der Evolutionsgedanke ist uralt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann er sich durchzusetzen: in der Kosmologie mit Kant, in der Geologie mit Buffon, in der Biologie mit Lamarck, in der Sprachwissenschaft mit Bopp, Rask und Grimm. Inzwischen hat der Evolutionsgedanke seine Fruchtbarkeit auch in weiteren Disziplinen bewiesen. Wir sind deshalb bereit, von universeller Evolution zu sprechen. In einigen Fällen konnte dieser Gedanke zu einer handfesten Theorie ausgebaut werden. Für die Biologie verdanken wir eine solche Theorie, die wir auch heute noch weitgehend akzeptieren, Charles Darwin. Allerdings hat diese Theorie inzwischen viele Ergänzungen erfahren und hat auch noch mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, auch mit solchen, die mit der grundsätzlichen Ablehnung von Evolution durch Fundamentalisten nichts zu tun haben.

Die Frage liegt nahe, ob die evolutionären Theorien der verschiedenen Gebiete etwas gemeinsam haben, ob es vielleicht sogar eine übergreifende Theorie gibt, die alle oder wenigstens viele evolutive Prozesse umfasst. Die meisten dieser Versuche begnügen sich mit dem Vergleich zweier Evolutionsarten oder - klassen (und damit zweier wissenschaftlicher Disziplinen oder Theorien) und arbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Andere suchen zwar eine allgemeine Theorie, begnügen sich dann aber doch mit zwei oder drei Evolutionsfaktoren, etwa Reproduktion, blinde Variation, Selektion nach Kriterien. Eine allgemeine Evolutionstheorie, die diesen Namen wirklich verdient, gab es bisher nicht.

Peter Mersch legt eine solche Theorie vor. Er arbeitet dabei nicht so, dass er die Grundbegriffe und Grundsätze der biologischen Theorie hernimmt und schrittweise verallgemeinert. Vielmehr betrachtet er alle Ebenen, auf denen Systeme sich reproduzieren, gleichzeitig und sucht die universellen Muster, die für alle diese Ebenen gelten. So ist es zu erklären, dass Darwins Prinzip der natürlichen Auslese von ihm nicht als Grundprinzip gefordert wird, sondern sich als Folgerung aus allgemeineren Gesetzmäßigkeiten ergibt. Die drei Grundprinzipien bei Mersch lassen sich durch die Stichworte Variation, Reproduktionsinteresse und Reproduktion kennzeichnen. Mit großer Umsicht, wenn auch in eigenwilliger Terminologie, in die man sich hineindenken muss, formuliert er die Prinzipien seiner Systemischen Evolutionstheorie und belegt ihre Anwendbarkeit auf verschiedenen Systemebenen. Es ist geradezu verblüffend, wie sich dabei nichtbiologische Systeme in seine Begrifflichkeit und in seine Prinzipien einpassen. Auch die Unterschiede zur Darwinschen Evolutionstheorie werden deutlich. Einige Probleme dieser Theorie lassen sich dabei elegant darstellen, teilweise auch lösen, Phänomene des Altruismus etwa oder das demografische Paradoxon, dass Gebildete bei uns in der Regel weniger Nachkommen haben als "einfache" Leute.

Der Fortschritt in der Wissenschaft lebt von neuen Ideen. Peter Mersch hat neue Ideen. Diesem Buch ist eine weite Verbreitung und eine gründliche Auseinandersetzung zu wünschen.

Zusammenfassung

Bei der Systemischen Evolutionstheorie (Systemic Theory of Evolution) handelt es sich um eine Verallgemeinerung der Darwinschen Evolutionstheorie, die auf der allgemeinen Systemtheorie, der Kommunikationstheorie, der Soziobiologie, der Ökonomie und der modernen Demografie basiert und mit der Ontologie des systemischen Materialismus vereinbar ist. Sie stellt den Versuch dar, alle eigendynamischen Evolutionen – inklusive der biologischen und soziokulturellen Evolution – mit den gleichen einheitlichen Evolutionsprinzipien zu beschreiben.

Die Theorie ist interdisziplinär angelegt und weder der Biologie noch den Gesellschaftswissenschaften zurechenbar. Ihr Grundgedanke ist in etwa: Der lebende Teil der Welt besteht aus lauter Evolutionsakteuren, die alle mehr oder weniger stark und mit oftmals differierenden Zeitpräferenzen bestrebt sind, ihre Kompetenzen gegenüber ihrem Lebensraum zu bewahren, und zwar während ihres eigenen Lebens und gegebenenfalls über ihr Leben hinaus. Dazu benötigen sie fortwährend Ressourcen aus ihrer Umgebung, die mittels unterschiedlicher Wettbewerbskommunikationen unter den Evolutionsakteuren verteilt werden. Aufgrund des Wettbewerbs um die Ressourcen werden die Akteure zu Feinden, Konkurrenten oder Partnern. Eventuell weiten sie ihre aktuelle Nische aus, verändern sie oder besetzen neue Nischen. Ist die Kooperation einiger Akteure besonders intensiv, kann sich eine neue Systemebene an Evolutionsakteuren – per Selbstorganisation – bilden, für die nun wieder das Gleiche gilt. Der unterschiedliche Erfolg der Evolutionsakteure bei der Reproduktion ihrer Kompetenzen bewirkt schließlich Evolution.

Die Systemische Evolutionstheorie darf nicht mit der Systemtheorie der Evolution gemäß Rupert Riedl verwechselt werden.

1 Hintergrund

Die Darwinsche Evolutionstheorie7 beziehungsweise die auf ihr beruhende Synthetische Evolutionstheorie8 sind die zurzeit am besten belegten theoretischen Modelle zur Erklärung der belebten Natur. In den Wissenschaften stoßen sie auf breiteste Akzeptanz. Die Synthetische Evolutionstheorie gilt heute als das Standardmodell der Evolution9.

Allerdings existieren weiterhin Bereiche und Anwendungsfälle, wo die Theorien an ihre Grenzen stoßen, keine plausible Erklärung liefern oder gar zu Widersprüchen führen. Hiervon soll im vorliegenden Kapitel die Rede sein.

Kernstück der Darwinschen Evolutionstheorie ist das Prinzip der natürlichen Selektion, welches Ernst Mayr wie folgt beschrieben hat10 11:

Jede Spezies bringt weitaus mehr Nachkommen hervor, als von einer Generation zur nächsten überleben können. Alle Individuen einer Population unterscheiden sich genetisch voneinander. Sie sind den Widrigkeiten der Umwelt ausgesetzt, und fast alle gehen zu Grunde oder pflanzen sich zumindest nicht fort. Nur wenige – im Durchschnitt zwei Individuen je Elternpaar – überleben und bringen ihrerseits Nachkommen hervor. Diese Überlebenden sind aber keine Zufallsstichprobe aus der Population: Dass sie weiterleben können, haben sie zum Teil bestimmten Eigenschaften zu verdanken, die das Überleben begünstigen.

Charles Darwin 1868

Evolution per natürlicher Selektion ist in diesem Sinne ein dreistufiger Prozess:

Dagegen lassen sich unter anderem die folgenden Einwände erheben:

Some microevolutionary change is adaptive, and some is neutral. Adaptive evolution occurs in traits that fulfill three conditions:

  1. they vary among individuals;
  2. their variation affects how well those individuals survive and reproduce;
  3. some of their variation is determined by genes that also vary among individuals;

The reproduction of the successful individuals then causes the frequency of the genes and the traits that they determine to increase in the next generation. As this process continues over generations, the population becomes better adapted, more capable of successfully surviving and reproducing, and the inheritance of the adaptive change is reflected in the genetic composition of the population. Natural selection is the correlation of traits with reproductive success; the response to selection is the change in the genetic composition of the population caused by variation in reproductive success. Natural selection thus works on heritable variation to produce adaptive change.

Dies lässt sich in etwa wie folgt übersetzen:

Einige mikroevolutionäre Veränderungen sind adaptiv, andere neutral. Adaptive Evolution erfolgt in Merkmalen mit den folgenden drei Eigenschaften:

  1. sie variieren unter den Individuen;
  2. ihre Variation (Ausprägung) beeinflusst, wie gut die Individuen überleben und sich fortpflanzen;
  3. ein Teil ihrer Variation beruht auf Genen, die ebenfalls unter den Individuen variieren;

Die Fortpflanzung der erfolgreicheren Individuen hat dann eine anteilsmäßige Zunahme ihrer Gene und der auf ihnen beruhenden Merkmale in der nächsten Generation zur Folge. Über mehrere Generationen hinweg verbessert die Population hierdurch ihre Anpassung an den Lebensraum, das heißt, ihre Fähigkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen, und die Vererbung der adaptiven Veränderungen spiegelt sich im Genpool der Population wider. Natürliche Selektion liegt bei einer Korrelation von Merkmalen mit Fortpflanzungserfolg vor; das Ergebnis der Selektion ist die durch den unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg der Individuen bewirkte Veränderung der Genpoolzusammensetzung der Population. Natürliche Selektion setzt folglich auf vererbbarer Variation an, um Anpassungsveränderungen zu bewirken.

Die Intelligenz von Menschen erfüllt alle drei von Stearns und Hoekstra genannten Merkmalsbedingungen21. In modernen Industrienationen besteht im Allgemeinen einerseits eine negative Korrelation22 23 zwischen dem teilweise genetisch bedingten24 25 26 27 28 29 Merkmal Intelligenz (IQ) – beziehungsweise dem Bildungsniveau30 – und dem Fortpflanzungserfolg (Fitness), andererseits aber auch eine positive Korrelation zwischen Einkommen und Intelligenz31 32. Gemäß Stearns und Hoekstra käme es beim Merkmal Intelligenz somit zur natürlichen Selektion. In der Folge würde die durchschnittliche Intelligenz der Population sinken, deren Adaption und Anpassungsfähigkeit sich jedoch verbessern ("the population becomes better adapted, more capable of successfully surviving and reproducing"). Wie Untersuchungen und die in ihnen erarbeiteten Korrelationen nahelegen33 34, dürfte es stattdessen zu einem Absinken des Pro-Kopf-Einkommens in der Bevölkerung (das heißt, zu einer Zunahme von Armut) und damit auf lange Sicht zu einer Verschlechterung der Anpassung und Anpassungsfähigkeit kommen. Das Fortpflanzungsverhalten in den Industrienationen steht folglich im Widerspruch zum Prinzip der natürlichen Selektion der Synthetischen Evolutionstheorie.

Ein anderes – fiktives – Gegenbeispiel wäre das Folgende: Stellen wir uns eine sich asexuell vermehrende soziale Gemeinschaft vor, in der alle Nachkommen zunächst in der Jagd unterrichtet werden. Vor dem Erwachsenenalter müssen sie eine praktische Jagdprüfung ablegen. Die 50 Prozent Besten werden anschließend "Jäger", deren Aufgabe es ist, die Nahrung für die gesamte Population zu beschaffen, die 50 Prozent anderen hingegen "Fortpflanzer", die sich für die gesamte Population reproduzieren. Oberflächlich betrachtet besäße die gewählte Aufteilung durchaus Ähnlichkeiten mit der sexuellen Arbeitsteilung des Menschen, völlig absurd ist sie somit nicht. Im Beispiel sei ferner angenommen, dass die Jagdfertigkeiten maßgeblich auf Genen beruhen. Dann sind die drei von Stearns und Hoekstra genannten Bedingungen für adaptive Evolutionen erfüllt. Tatsächlich evolviert die Gemeinschaft jedoch keineswegs adaptiv. Stattdessen würde gelten:

As this process continues over generations, the population becomes less adapted, less capable of successfully surviving and reproducing.

(beziehungsweise in deutscher Übersetzung):

Über mehrere Generationen hinweg verschlechtert die Population hierdurch ihre Anpassung an den Lebensraum, das heißt, ihre Fähigkeit, zu überleben und sich fortzupflanzen.

Dies wäre anders, wenn die Gemeinschaft die beiden Rollen exakt vertauschte. Dann könnte die Population tatsächlich adaptiv evolvieren. Biologen mögen einwenden, dass sich die beschriebene Arbeitsteilung in der Natur nicht ausbilden kann, da sich Individuen stets genegoistisch verhalten. Mal abgesehen davon, dass sie sich in menschlichen Sozialstaaten längst entwickelt hat (siehe das Beispiel davor), wäre der vermeintliche Gen-Egoismus eine zusätzliche Annahme (welche durchaus Ähnlichkeiten mit dem noch zu erläuternden Prinzip Reproduktionsinteresse der Systemischen Evolutionstheorie besitzt), die in der Formulierung der natürlichen Selektion seitens Stearns/Hoekstra jedoch nicht angeführt wird. Das Beispiel zeigt, dass das Prinzip der natürlichen Selektion in der aktuellen Fassung nur bedingt auf soziale Gemeinschaften anwendbar ist.

Auf ein weiteres Problem in der Formulierung der natürlichen Selektion seitens Stearns/Hoekstra wird im Abschnitt Reproduktionsprozess auf Seite → näher eingegangen: Die Lehrbuchformulierung berücksichtigt zu wenig, dass die aufseiten der Eltern mit dem Reproduktionserfolg positiv korrelierenden Merkmale (genauer: die ihnen zugrunde liegenden Gene) in ausreichendem Maße an die Nachkommen weitergegeben werden müssen, damit es überhaupt zur natürlichen Selektion (beziehungsweise zu einer zunehmenden Adaption) kommen kann.

Das eigentliche Problem in den aktuellen Lehrbuchformulierungen der natürlichen Selektion ist, dass darin Korrelation mit Kausalität verwechselt wird. Formal wird zwar lediglich von einer Korrelation zwischen Merkmal und Fitness gesprochen, gemeint ist aber in Wirklichkeit, dass die genetisch bedingten Merkmale ursächlich für die unterschiedliche Fitness der Individuen verantwortlich sind. Nur dann wird man unter den gegebenen Voraussetzungen einen adaptiven Prozess erwarten können (siehe dazu auch die Ausführungen in Abschnitt Soziale Selektion auf Seite →).

Sehr deutlich tritt die Nebenannahme der Kausalität in einer Darlegung der natürlichen Selektion durch Richard Dawkins hervor35 36:

Without any kind of choosing agent, those individuals that are 'chosen' by the fact that they happen to possess superior equipment to survive are the most likely to reproduce, and therefore to pass on the genes for possessing superior equipment. Therefore every gene pool, in every species, tends to become filled with genes for making superior equipment for survival and reproduction.

(beziehungsweise in der deutschen Übersetzung37):

Ohne dass irgendjemand auswählt, pflanzen sich mit größter Wahrscheinlichkeit diejenigen Individuen fort, die 'ausgewählt' werden, weil sie zufällig überlegener ausgestattet sind; diese Überlegenheit geben sie in ihren Genen weiter. Deshalb reichern sich in jedem Genpool jeder Spezies diejenigen Gene an, die einen für das Überleben und die Fortpflanzung besser ausstatten.

Das würde nur stimmen, wenn die Beziehung zwischen Merkmal und Fitness letztlich ursächlich ist. Genau das kann aber in sozialstaatlichen Umgebungen nicht angenommen werden: Niedrige Intelligenz mag zwar in modernen Industrienationen mit höherer Fitness (im Sinne von relativer Fortpflanzungserfolg) korrelieren, sie ist aber keineswegs deren Ursache.

Historisch gesehen hat man bislang fast jegliche biologische Abweichung zu den bereits vorhandenen Selektionsprinzipien der Evolutionstheorie durch ein zusätzliches Selektionsprinzip zu lösen versucht:

Auch an dieser Vorgehensweise ist Kritik geübt worden41. Unter anderem wurde darauf hingewiesen, dass die Verwandtenselektion zwar durchaus die soziale Organisation von Feuerameisenstaaten erklären könne, keineswegs aber die von Honigbienenstaaten42 43. Ferner existieren Situationen in Honigbienenkolonien (zum Beispiel beim Wechsel der Königin), in denen die Verwandtschaftsverhältnisse zu gering sind, als dass sich das Verhalten der Individuen mithilfe der Verwandtenselektion erklären ließe44 45. Auch ist die Synthetische Evolutionstheorie nicht in der Lage, Insektensozialstaaten als Superorganismen46 47 48 zu verstehen und damit in Begriffe zu fassen, die den Anforderungen der am Objekt forschenden Biologen genügen. Beispielsweise reproduzieren sich Honigbienenkolonien durch Austausch ihrer Elemente und durch Teilung statt per Fortpflanzung, was der einzelnen Kolonie eine potenzielle Unsterblichkeit verleiht49. Zentrale Begriffe der Synthetischen Evolutionstheorie wie Fitness (relativer Lebenszeitfortpflanzungserfolg) und Selektion sind für sie dann jedoch nicht mehr definiert.

Recht des Stärkeren5051