Herausgegeben von der Heinrich-Kaufmann–Stiftung
des Zentralverbandes deutscher Konsumgenossenschaften e.V.
und vom Adolph von Elm Institut für Genossenschaftsgeschichte e.V.
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Satz und Layout:
Silke Wolf, grafik@hamburg.de
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
2017
ISBN: 978-3-7460-2702-9
Ferdinand Vieth war ein bunter Vogel, voller Ideen und voller Tatendrang. Seinem Leben eine würdige Darstellung zu bieten, ist ein großes Verdienst von Dr. Hartmut Bickelmann. Dabei konnte er zu einem guten Teil auf Texte zurückgreifen, die Vieth selbst verfasst hat, die aber umfangreicher Bearbeitung bedurften.
Vieth entstammte einer armen Korbmacherfamilie, erlernte selbst das Korbmacherhandwerk und war als Geselle in der Werkstatt seines Vaters mit der Herstellung von Körben für den Warenversand beschäftigt.
Beteiligt an der Gründung des Hamburger Konsum-, Bau- und Sparvereins „Produktion" wurde er zu einem erfolgreichen Kaufmann, der maßgeblichen Einfluss auf die schnell wachsende Konsumgenossenschaftsbewegung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlangte. Er entwickelte und realisierte das Konzept des Bezirkskonsumvereins mit einem ausgedehnten Filialnetz, der nicht auf ein Dorf oder eine Stadt beschränkt war. Er dokumentierte seine Erfahrungen in zahlreichen Artikeln und Broschüren und förderte so die Kommunikation über eine erfolgreiche genossenschaftliche Geschäftspolitik. Durch Auslandsreisen und die Pflege internationaler Kontakte, u.a. nach Finnland, erweiterte er seinen Horizont.
Er beschränkte sich nicht auf das Gebiet der Konsumgenossenschaften, vielmehr war er als Justiziar der im Zuge der Novemberrevolution geschaffenen Hamburger Konsumentenkammer beteiligt an der Gestaltung des institutionellen Konsumentenschutzes, der in Gestalt der Verbraucherzentralen seine Früchte bis heute trägt.
Hartmut Bickelmann stellt einen bedeutenden genossenschaftlichen Unternehmer vor, der in die biografische Reihe mit Gustav Dahrendorf, Max Langenbucher, Adolph von Elm und auch Friedrich Wilhelm Fritzsche gehört, denen die Stiftung bisher Schriften gewidmet hat. Weitere Darstellungen müssen folgen, z.B. zu Eduard Pfeiffer, Henry Everling und Heinrich Kaufmann. Die Namen Kaufmann, von Elm, Everling und Vieth zu nennen, führt zu einer Hamburger Einrichtung, der sie gemeinsam verbunden waren: zur Fortbildungsschule des Bildungsvereins von 1845, aus der zahlreiche aktive Genossenschafter und Sozialdemokraten hervorgegangen sind und deren Geschichte bis heute kaum erforscht ist. Erwähnt sei nur die Freie Volksbühne, die hier ihre Wurzeln hatte.
Hamburg, September 2017
Burchard Bösche
Heinrich-Kaufmann-Stiftung
Ferdinand Vieth gehört zu den profiliertesten, wenn auch nicht unbedingt zu den bekanntesten Persönlichkeiten der deutschen Konsumgenossenschaften, denn er stand nie in der vordersten Reihe der Genossenschaftsführung. Und doch hat er für die Konsumgenossenschaften in vieler Hinsicht und über einen Zeitraum von fast fünf Jahrzehnten hinweg eine bisher noch nicht ausreichend gewürdigte Rolle gespielt. Diesem Kenntnis- und Wahrnehmungsdefizit soll mit der Edition von ausgewählten Selbstzeugnissen aus seiner Feder abgeholfen werden, umso mehr als sich in seiner Person charakteristische Entwicklungen der Konsumvereinsbewegung verdichten.
Am 18. November 1869 in Altona geboren und am 26. November 1946 in Hamburg an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben, hat Ferdinand Vieth sein ganzes Leben der Arbeiterbewegung gewidmet, wobei er sich seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ganz und gar dem damals in rasantem Aufschwung begriffenen Konsumvereinswesen verschrieb. Aus einfachen Verhältnissen stammend, hat er sich im Rahmen der Arbeiterbildung und gewerkschaftlichen Engagements Schritt für Schritt emporgearbeitet und schließlich, als umtriebiger, innovativer und allgegenwärtiger Multifunktionär der Konsumgenossenschaften der sog. Hamburger Richtung, diese auf mehreren Ebenen nahezu von Anfang an mitgeprägt. Sein schneller Aufstieg, der ihn von Hamburg für einige Jahre nach Bremerhaven und dann wieder in seine Heimatstadt zurückführte, seine hauptamtliche Tätigkeit als Sekretär des „Verbandes nordwestdeutscher Konsumvereine" (1909-1933) wie auch seine 1899 mit der Gründung des Konsum-, Bau- und Sparvereins „Produktion" beginnende Verwurzelung in einem der größten und Maßstäbe setzenden deutschen Konsumvereine und sein ebenfalls schon früh aufgenommenes Engagement im Aufsichtsrat der Großeinkaufs-Gesellschaft deutscher Konsumvereine (GEG) eröffneten ihm hierfür zahlreiche Wirkungsmöglichkeiten. Sie gewährten ihm zugleich Zugang zu den höchsten Kreisen der Konsumgenossenschafts- und der Arbeiterbewegung des In- und Auslandes. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass er bei der Wiederbegründung der Konsumgenossenschaften nach der Befreiung vom Nationalsozialismus eine entscheidende Funktion übernahm.
Dies alles prädestiniert ihn als Augenzeugen für die Zeit der sich formierenden Konsumgenossenschaftsbewegung sowie für die Zäsuren, die zunächst der Erste Weltkrieg und die Inflation und dann die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten geschaffen hatten. Hinzu kommt, dass Vieth sozusagen als Historiker und publizistischer Begleiter der Konsumgenossenschaftsbewegung eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Manuskripten hinterlassen hat. Um einige herausragende dieser Texte, die Auskunft über Vieths Leben sowie über die Konsumgenossenschaften insgesamt geben, geht es in diesem Band.
Am Anfang und zugleich im Mittelpunkt dieser Edition steht eine autobiographische Skizze, die Ferdinand Vieth 1946, nach Wiederbegründung der Konsumgenossenschaften und den Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus unter dem Titel „Mein Lebenslauf", verfasst hat. In ihr lässt er – übrigens nicht zum ersten Mal – sein Leben, seine Herkunft, seinen gesellschaftlichen und beruflichen Aufstieg sowie die allmähliche Entfaltung des konsumgenossenschaftlichen Kosmos aus seiner persönlichen Perspektive Revue passieren. Wir erfahren etwas über seinen Bildungsweg sowie über seine gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten und damit auch über den gesellschaftlichen Alltag im Arbeitermilieu des Raumes Hamburg. Wir lernen vieles über die konsumgenossenschaftlichen Entwicklungen und Aktivitäten in Deutschland und anderen europäischen Ländern, die Vieth überwiegend im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeiten bereist hat, und wir begegnen zahlreichen Persönlichkeiten nicht nur der Arbeiterbewegung, sondern auch aus anderen Kreisen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Und vor allem erhalten wir tiefere Einblicke in Interna des konsumgenossenschaftlichen Alltags und Milieus, in Geschäftsführung und Personalpolitik ebenso wie in das Zusammenspiel mit anderen Organisationen der Arbeiterbewegung oder in gemeinsame Aktivitäten und persönliche Beziehungen der Beteiligten untereinander, mithin in Aspekte, die die ganze Bandbreite konsumgenossenschaftlichen Wirkens veranschaulichen. Dass sich in diesen Beschreibungen auch etwas von der Mentalität und der Persönlichkeitsstruktur des Autors offenbart, versteht sich von selbst, doch wird man gerade deswegen bei der Bewertung seiner Aussagen stets seine Subjektivität und Zeitgebundenheit berücksichtigen müssen.
Nähere Erläuterungen über Entstehung, Anlage und Charakter des „Lebenslaufs", der sich inhaltlich in weiten Teilen mit seinen zwölf Jahre zuvor verfassten „Erinnerungen" deckt, sowie über die Editionsgrundsätze und die Bearbeitung dieser zentralen Dokuments finden sich gesondert im Anschluss an den Quellentext.
Ergänzt wird dieser chronologisch aufgebaute „Lebenslauf" zunächst durch ein Kapitel aus Vieths bereits erwähnten, 1934 abgeschlossenen und unveröffentlicht gebliebenen „Erinnerungen", in denen er sein Leben aus der damaligen Perspektive im Prinzip ähnlich, aber weit ausführlicher und überwiegend thematisch geordnet, schildert. Das hier erstmals veröffentlichte Kapitel mit dem Titel „Von Menschen, Reorganisationen und anderen Dingen" umfasst einen nach Ländern gegliederten Überblick über die Konsumvereinslandschaft Nordwestdeutschlands – von den Lippischen Landen bis Schleswig-Holstein und von Oldenburg bis Mecklenburg –, der in dieser Ausführlichkeit und Stringenz bisher nirgendwo zu finden ist. Da in dieser Tour d'Horizon neben den einzelnen Konsumvereinen auch die handelnden Personen ausführlich angesprochen werden, schien es vertretbar und geboten, ihn – trotz gewisser inhaltlicher Überschneidungen mit dem „Lebenslauf" – vollständig wiederzugeben. Für die Geschichte einzelner Konsumvereine und auch für manche Biographie dürfte sich diese Quelle als Fundgrube erweisen.
Die Aufnahme der daran anschließenden Dokumente in diesen Band hingegen ist einem äußerst bedauerlichen Defizit des „Lebenslaufs" geschuldet. Denn dieser bricht mit dem Jahr 1930 ab, bis zu dem Vieth mit seinem Manuskript gerade gediehen war, als ihn der Unfalltod ereilte. Und damit entgehen uns authentische Informationen über die wichtigen Umbruchsjahre der Finanzkrise der späten Weimarer Zeit, des Nationalsozialismus und der Wiederbegründung nach dem Zweiten Weltkrieg. Da Vieth jedoch weitere autobiographische Aufzeichnungen und Publikationen hinterlassen hat, bot es sich an, mehrere von diesen zur Dokumentation der nicht zur Ausführung gekommenen Zeitabschnitte heranzuziehen. Dies konnte naturgemäß bei weitem kein vollwertiger Ersatz sein, vor allem auch deswegen nicht, weil diese teilweise durch die Zeitumstände gefärbt sind und nicht den Erkenntnis- und Urteilsstand widerspiegeln, den Vieth für die Niederschrift des „Lebenslaufs" zugrunde legte. Immerhin jedoch beleuchten diese weiteren Dokumente Vorgänge, die der breiten Öffentlichkeit überwiegend bisher noch nicht bekannt sind, sodass sie durchaus Material für vertiefte Forschungen bieten können.
In diesem Sinne folgt zunächst das Schlusskapitel aus Vieths drittem unveröffentlichtem Manuskript, der 1934 verfassten Geschichte des „Verbandes nordwestdeutscher Konsumvereine". Dieses – vom Charakter her mehr eine zitatenreiche Dokumentation des zeitlichen Ablaufs als eine in die Tiefe gehende historische Analyse – bezieht sich auf das erste Jahr unter dem Nationalsozialismus und beschreibt insbesondere die Selbstgleichschaltung der Konsumgenossenschaften, an der Vieth persönlich großen Anteil hatte, bevor er sich im Juni 1933 pensionieren ließ. Diesem wird dann ein Zeitungsartikel des Jahres 1946 gegenübergestellt, in dem Vieth öffentlich mit dem Nationalsozialismus abrechnet, ohne allerdings dabei auf die Selbstgleichschaltung einzugehen. Angesichts dieser beiden einseitigen, sich teilweise widersprechenden und auch in ihrer Diktion sehr gegensätzlichen Dokumente muss es dem Leser überlassen bleiben, wie er das Verhalten der Konsumgenossenschaften im Nationalsozialismus und insbesondere auch die Intentionen des Autors zum jeweiligen Zeitpunkt werten will.
Es schließt sich eine tagebuchartige, mit dem 9. Mai 1945 beginnende Aufzeichnung an, welche die ersten Tage nach der handstreichartigen Übernahme des konsumgenossenschaftlichen Eigentums durch Vieth und andere führende Genossenschafter festhält. Sie enthält eine Reihe von Informationen über Aktionen und Personen, die ein wenig Licht auf die ersten Tage der Wiederbegründungsphase werfen.
In welchem Maße Vieth sich – über die bisher angesprochenen Manuskripte hinaus – publizistisch mit der Geschichte, aber auch mit aktuellen Fragen der Konsumgenossenschaftsbewegung auseinandergesetzt hat, erschließt sich aus dem darauffolgenden Verzeichnis seiner Veröffentlichungen, das erstmals für diesen Band zusammengestellt wurde.
Den Band beschließt eine bereits an anderer Stelle veröffentlichte problemorientierte biographische Skizze, die für diese Edition allerdings aktualisiert wurde. Sie ist nicht das letzte Wort zu Ferdinand Vieth; vielmehr soll sie dazu beitragen, die in diesem Band wiedergegebenen Dokumente in ihren Entstehungs- und Wirkungszusammenhang einordnen zu helfen sowie Anregungen für deren Interpretation zu geben. Wenn damit die weitere Beschäftigung mit der Person eines herausragenden, aber auch widersprüchlichen und nicht immer ganz durchschaubaren Vertreters der Konsumgenossenschaftsbewegung gefördert würde, wäre der Zweck dieser Skizze erfüllt.
Unabhängig von diesen personenbezogenen Aspekten ist es Anliegen dieses Bandes, mit den hier veröffentlichten Quellentexten einen authentischen, wenn auch teilweise subjektiv gefärbten Einblick in die Geschichte der Konsumgenossenschaftsbewegung vorzulegen und bisher wenig bekanntes Material zu ihrer weiteren Erforschung bereitzustellen. In diesem Sinne sei den Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre gewünscht.
Zu danken habe ich zunächst der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg: Frau Angelika Voss-Louis M.A., der ehemaligen Leiterin des Archivs, für die Bereitstellung der Quellentexte aus dem dort verwahrten Nachlass von Ferdinand Vieth und für die langjährige sorgsame archivarische Betreuung des Vorhabens, sowie dem Leiter der Bibliothek, Herrn Karl-Otto Schütt M.A., und seinen Kolleginnen für die stets unbürokratische Bereitstellung einschlägiger Literatur. Die Nutzung von Archiv und Bibliothek der Forschungsstelle war immer erfreulich und gewinnbringend.
Gedankt sei ferner Frau Silke Wolf, in deren Händen Gestaltung und Druckvorbereitung dieses Bandes lagen.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Burchard Bösche für die Anregung zu dieser Edition und für deren Aufnahme in die Schriftenreihe der Heinrich-Kaufmann-Stiftung sowie für die jahrelange vertrauensvolle Zusammenarbeit, die seit der 1. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte im Jahre 2006 besteht und die sich auch auf andere genossenschaftliche Themen erstreckt.
Lübeck, September 2017
Hartmut Bickelmann
FERDINAND VIETH
In meinen Adern fließt rein holsteinisches Blut. Meine Vorfahren väterlicherseits haben bis zu den Ururahnen immer in Wedel, Schulau und Umgegend gelebt und meine Vorfahren mütterlicherseits in Altona. In den Elbegemeinden kommt der Name Vieth zum ersten Mal in der Geschichte von Blankenese vor. Der erste Gastwirt und Fährmann in Blankenese führte den Namen Vieth-Breckwold3. Die Nachkommen dieses Vieth-Breckwold siedelten sich später weiter elbabwärts an, und aus diesen Siedlungen sind die Ortschaften Wedel, Schulau, Spitzerdorf und Tinsdal entstanden, die jetzt gemeinsam die Stadt Wedel bilden. Der Doppelname Vieth-Breckwold ist aber nach der Umsiedlung verschwunden, die einen hießen nun kurz Vieth, die anderen Breckwold. Die Breckwolds haben sich sehr stark vermehrt, denn in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hieß in Wedel, Schulau und Umgegend fast jeder zweite Mann Breckwold. Die Vieths haben sich nur schwach vermehrt, denn seit Jahrzehnten ist der Name Vieth in Wedel und Umgegend ausgestorben.
Der vorherrschende Beruf bei den männlichen Vorfahren meines Vaters und meiner Mutter war der des Seefahrers. Auch der Bruder und die sämtlichen Vettern meines Vaters, die Brüder und Vettern meiner Mutter, wie auch einer meiner Brüder und meine sämtlichen Vettern waren Seefahrer. Nur mein Vater, mein ältester Bruder und ich sind aus der Art geschlagen und haben ein Handwerk erlernt, und zwar alle drei das Korbmacherhandwerk.
Mein Vater wurde am 18. April 1833 als Sohn des Seemannes Hans Hinrich Vieth und seiner Ehefrau geb. Breckwold geboren. Er erhielt ebenfalls die Vornamen Hans Hinrich. Den Schulunterricht hat mein Vater noch in Wedel in der damals üblichen Art genossen, d.h. im Winter in die Schule gehen und im Sommer beim Bauern als Junge dienen. Die Schulkenntnisse meines Vaters waren aber trotzdem sehr gute. Nach beendeter Schulzeit siedelte er mit seinen Eltern nach Altona über, wo sein Vater den Beruf des Seefahrers mit dem eines Hafenarbeiters wechselte. Unter den Hafenarbeitern in Altona galt mein Großvater lange Zeit als der stärkste Mann. Es wurden Wunderdinge von ihm darüber erzählt, was er an Lasten tragen konnte. Bei dem damaligen Fehlen der technischen Hilfsmittel wurden solche Körperkräfte sehr geschätzt.
Mein Vater lernte in Altona das Korbmacherhandwerk beim Korbmachermeister Deike in der Breitenstraße. Als Geselle wanderte er zunftgemäß durch Nordwestdeutschland und arbeitete an verschiedenen Plätzen, am längsten in Lüneburg. Nach Beendigung seiner Militärzeit bei den dänischen Dragonern in Slagelse4 und Kopenhagen, hatte er die Absicht, sich zu verheiraten. Nach den damals herrschenden Zunftregeln durfte ein Handwerker aber nur dann heiraten, wenn er vorher Meister und Bürger geworden war, andernfalls mußte er aus dem Gewerbe ausscheiden und sich als ungelernter Arbeiter betätigen. Das Meister- und Bürgerwerden war aber in Altona mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Abgesehen davon, daß der Betreffende sechs Wochen ohne Entlohnung in der Werkstatt des Obermeisters drei vom Korbmacheramt vorgeschriebene Meisterstücke anzufertigen hatte, war eine Abgabe von 1.200 Kurant Mark damit verbunden, eine für die damalige Zeit sehr hohe Summe, die mein Vater nicht zur Verfügung hatte. Nun bestand aber in der Zunftgesetzgebung die Klausel, daß, wenn in einem Ort das betreffende Handwerk noch nicht vertreten war, die Ortsverwaltung es aber für nötig hielt, daß sich dort einer als Meister niederließ, dann konnte sich dort ein Handwerker ohne Beachtung der Zunftregeln selbständig machen und heiraten. Pinneberg war der Ort, für den diese Voraussetzungen zutrafen und in dem mein Vater sich deshalb 1850 selbständig machte und sich mit Johanna Margarete Müller, die am 14. Dezember 1834 in Altona geboren war, verheiratete. Meine beiden ältesten Geschwister sind in Pinneberg geboren. 1863 siedelten meine Eltern wieder nach Altona über, wo mein Vater nun unter den Zunftbedingungen Meister und Bürger wurde. Das Geld dazu hatte er sich in Pinneberg verdient. Lange hat die Freude am zünftigen Meistertum aber nicht gedauert, denn 1866 wurde das Herzogtum Schleswig-Holstein eine preußische Provinz, und bald darauf trat die Gewerbefreiheit ein.
Meine Eltern betrieben in dem Hause Große Bergstraße 94 ein gut gehendes Korbwarengeschäft mit Laden und Werkstatt. In diesem Hause erblicke ich am 18. November 1869 als viertes Kind meiner Eltern das Licht der Welt. Ich war nach den Mitteilungen meiner Eltern ein sehr schwaches Kind, das nach Ansicht der Ärzte nicht lebensfähig sei. Als mein Vater 1870 in den Krieg ziehen mußte, hat er endgültig von mir Abschied genommen, weil er der festen Überzeugung war, daß er mich nach seiner Rückkehr nicht wieder sehen wird. Über meine Lebensfähigkeit haben sich Eltern und Ärzte gründlich getäuscht, denn ich stehe jetzt im 77. Lebensjahr und bin bei dem Wiederaufbau der Konsumgenossenschaften noch rege tätig.
Nach dem Kriege von 1870/71 gab es in Deutschland einen starken wirtschaftlichen Aufschwung, der unter der Bezeichnung „Gründerperiode" berühmt und berüchtigt geworden ist. Auch das Geschäft meines Vaters nahm einen lebhaften Aufschwung, wodurch er sich verleiten ließ, das Grundstück Große Bergstraße 107 für einen sehr hohen Preis käuflich zu erwerben. Dieser Hauskauf sollte ihm zum Verhängnis werden. Die Kriegskonjunktur hielt nicht lange an. Ihr folgte eine Wirtschaftskrise, in der viele Firmen zusammenbrachen, die Geschäfte allgemein schlecht gingen und die Grundstückspreise erheblich sanken. Da mein Vater mit der Korbmacherei die Lasten des Hauses nicht tragen konnte, eröffnete er darin eine Gastwirtschaft, in der Hoffnung, durch den starken Verkehr in der Großen Bergstraße und durch seine große Bekanntschaft diese zum Florieren bringen zu können. Zunächst ging die Wirtschaft auch sehr gut, und zwar dadurch, daß die sozialdemokratische Partei das Lokal meines Vaters zu ihrem Verkehrslokal machte. Der damalige Führer der S.P.D. in Altona, der Reichstagsabgeordnete Otto Reimer, betrieb bei uns im Nebenhaus ein Zigarren- und Tabakwarengeschäft. Bei einer Reichstagswahl war das Lokal meines Vaters das Wahlbüro der sozialdemokratischen Partei. Viele der bekannten sozialdemokratischen Führer, wie Wilhelm Hasenclever, der den 8. schleswig-holsteinischen Wahlkreis, Altona-Stormarn, im Reichstag vertrat, Ignaz Auer, Karl Frohme und viele andere sind Gäste in der Wirtschaft meines Vaters gewesen.
Da kam 1878 die Katastrophe. Am 1. Oktober 1878 trat das Ausnahmegesetz gegen die sozialdemokratische Partei in Kraft, und bald darauf wurde über Hamburg-Altona der so genannte kleine Belagerungszustand verhängt. Auf Grund dieses „kleinen Belagerungszustandes" wurden alle bekannten Sozialdemokraten aus Altona ausgewiesen. Gleich beim ersten Schlag waren es 38, darunter Otto Reimer, der Strohhutpresser Finn, der Zigarettenmacher Forschner mit zwölf Kindern und viele, viele andere. Viele der Ausgewiesenen wanderten damals nach Amerika aus, und die Abfahrt Otto Reimers und einer Reihe anderer Ausgewiesener ist mir von Jugend her in Erinnerung geblieben. Damals wurden die Hapag-Dampfer5 noch an der Stelle abgefertigt, wo sich jetzt der Elbtunnel befindet. Auf dem Altonaer Fischmarkt hatten sich viele Hunderte Menschen eingefunden, die Otto Reimer und seinen Genossen einen Abschied zuwinken wollten. Als der Hapag-Dampfer am Altonaer Fischmarkt vorbeifuhr, entfaltete Otto Reimer die Altonaer Parteifahne, die er glücklich mit an Bord geschmuggelt hatte. Er hat sie 1890 bei seiner Rückkehr aus Amerika auch wieder mit nach Altona gebracht.
Zu den brutalsten Verfolgern der Sozialdemokraten gehörte der Polizeiinspektor Engel. Dabei war das tragische, daß dieser Engel ein früherer Duzfreund meines Vaters war. Sie hatten beide zusammen bei den dänischen Dragonern gedient. Er verkehrte auch häufig in der Wirtschaft meines Vaters und hatte dabei alle bekannten Sozialdemokraten Altonas kennengelernt, was ihm bei seiner Verfolgungstätigkeit nachher sehr zustatten kam. Das Wirken Engels war wiederholt Gegenstand von Verhandlungen im deutschen Reichstag. Von dem reaktionären preußischen Innenminister Puttkammer wurde er für seine Tätigkeit mit dem Roten Adlerorden 4. Klasse belohnt. Nach diesen Vorgängen lag die Wirtschaft meines Vaters verödet da. Es wagten nur wenige, sie zu betreten, weil man glaubte, Gefahr zu laufen, mit zu den Verfemten gezählt zu werden. Hinzu kam noch, daß nun auch die Behörde meinem Vater in der Ausübung der Schankkonzession zum Ausschank von alkoholhaltigen Getränken Schwierigkeiten machte. So mußte das Verhängnis seinen Lauf nehmen. Das Haus kam unter den Hammer, so daß mein Vater dasselbe nicht nur mittellos, sondern mit Schulden belastet verlassen mußte.
Sein Versuch, die Wirtschaft an anderer Stelle, zuletzt in einem Keller an der Großen Mühlenstraße, fortzusetzen, fand ein schlimmes Ende. Eines Tages befanden sich an allen Gegenständen der Wirtschaft wie auch an den Wohnungsmöbeln Siegel mit dem preußischen Wappen, im Volksmund der „preußische Kuckuck" genannt. Das bedeutet, daß der Gerichtsvollzieher dort gewesen war und alle diese Sachen gepfändet hatte. Kurze Zeit darauf fand die Versteigerung statt. Das war für uns ein schwarzer Tag. Mein Vater hatte an diesem Tag das Haus verlassen. Meine Mutter saß weinend in einem Raum, von wo aus sie durch ein Glasfenster die Versteigerung beobachten konnte. So sah sie, daß Gegenstände, an denen sie mit Leib und Seele hing, für wenig Geld versteigert wurden. Wir behielten weiter nichts, als für jeden eine Schlafstelle, einen Tisch, vier Stühle und den nötigen Hausrat. Als alle Sachen fortgeschafft waren, war es unheimlich in unserem Keller. Die Räume waren öde und leer, und es klang hohl. Es wäre für unsere vielen zahlungsfähigen Verwandten und Bekannten ein leichtes gewesen, uns zu helfen. Es meldete sich aber niemand. Als mein Vater noch wohlbestallter Bürger und Hausbesitzer war und meine Eltern große Bewirtung machen konnten, hatten wir viel Besuch, als wir arm waren, kam selten jemand, und wenn einer kam, war es bestimmt auch ein armer Schlucker. Unter den honetten Bürgern Altonas galt damals Armut als eine Schande.
An diese Zustände habe ich später oft gedacht, wenn ich das folgende Heine'sche Gedicht las6:
Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazu bekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das Wenige genommen.
Wenn Du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse Dich begraben –
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.
Wir verließen nun bald diese Stätte und bezogen eine Kellerwohnung in der Blumenstraße, in der wir derzeit so lebten, wie heute viele Ausgebombte. Nach solchen Schicksalsschlägen wäre es kein Wunder gewesen, wenn mein Vater auf abschüssige Bahn gekommen wäre. Aber das Gegenteil war der Fall. Er packte das Leben neu an und arbeitete wieder als Korbmacher; nun aber nicht als Meister, sondern als Geselle. Der Verdienst eines Korbmachers war nicht hoch, und von dem geringen Verdienst mußten wir mit vier Personen leben, und außerdem sollten noch Schulden abgetragen werden. Auch mußten wir meinem Großvater, der im Reventlowstift7 untergekommen war, Mittagessen geben.
Diese Rückschläge meiner Eltern nötigten mich, frühzeitig mitzuverdienen. Und dieses Mitverdienen hat mich um den schönsten Teil meiner Jugend und um eine ordentliche Schulbildung gebracht.
In Altona herrschten damals noch eigenartige Schulverhältnisse mit folgender Einteilung: Gymnasium, Realschule, Mittelschule, Bürgerschule, Freischule und Halbtagsschule.
Die Freischule führte ihren Namen daher, daß kein Schulgeld erhoben wurde. Es wurden nur vierteljährlich 90 Pfg. für Lernmittel eingezogen, wofür Schulbücher, Schreibhefte, Tafel, Griffel usw. gestellt wurden. Jeder Freischule war eine Halbtags-Klasse angegliedert, in die man ohne Rücksicht auf Vorbildung aufgenommen wurde. Voraussetzung war lediglich, daß man 12 Jahre alt war und nachweislich auf Erwerb ging. Da ich bei der Firma Eimer Thier, Reichenstraße 31, einem vornehmen Geschäft der Seiden- und Kurzwarenbranche, eine Stellung als Lauf- und Arbeitsbursche hatte, mußte ich die Halbtagsklasse besuchen, und zwar die in der Freischule Kleine Freiheit. Die Schulzeit konnte man sich wählen, entweder morgens von 7 – 10 Uhr oder nachmittags von 1 – 4 Uhr. Der Abendunterricht von 5 – 8 Uhr war zu meiner Zeit schon aufgehoben. Ich hatte die Zeit von 1 – 4 Uhr gewählt.
Mein Tagespensum war nun das folgende: von 8–12 Uhr im Geschäft, von 12 – 1 Uhr vom Geschäft nach Hause zum Mittagessen und in die Schule, von 4 – 5 Uhr von der Schule nach Hause und von dort wieder ins Geschäft.
Das mußte alles im Galopp gehen. Nachmittags sollte meine Arbeitszeit von 5 – 9 Uhr dauern. Ich bin aber nur ganz selten mal um 9 Uhr fortgekommen, meistens wurde es 9 ½ – 10 Uhr. Auch mußte ich an jedem zweiten Sonntag tätig sein. Die heutige Jugend wird es kaum begreifen, daß es damals noch keine gesetzliche Ladenzeit und keine Sonntagsruhe gab. Jeder Geschäftsmann konnte seinen Laden solange aufhaben, wie es ihm beliebte, und die meisten Geschäfte waren abends bis 10 Uhr und noch länger geöffnet. Auch das Geschäft von Eimer Thier wurde selten vor 10 Uhr geschlossen. Mein Chef war ein alter Herr mit schneeweißem Haar, Junggeselle, aber der typische Geizhals. Wenn ich z.B. abends im Laden die Gaslampen anstecken mußte, durfte ich dazu nicht mehr als 1 Streichholz für die erste Lampe gebrauchen. Für das Anzünden der weiteren Lampen mußte ich aus alten Papierfetzen Fidibusse drehen. Dabei kostete damals 1 Paket Streichhölzer mit 60 Stück 10 Pfg.
Für meine lange Arbeitszeit erhielt ich einen Wochenlohn von RM8 3. Dazu kamen hin und wieder einige Groschen Trinkgeld.
War der Unterricht in der Freischule schon primitiv, so war er in der Halbtagsklasse gleich Null. Wenn im Sommer die Jungen, die den ganzen Vormittag Milch oder sonstige Dinge ausgetragen hatten oder ab 6 Uhr morgens in einer Zigarrenfabrik als Zurichter tätig waren oder bei einem Reepschläger das Spinnrad gedreht hatten, in die Schule kamen, dann schliefen sie ein. Unser Lehrer, Herr Kähler, ein Mann von Gemüt, ließ sie auch meistens schlafen, nur wenn einer durch zu lautes Schnarchen den Unterricht störte, klatschte er ihm den nassen Wandtafelschwamm ins Gesicht.
Die Schule lag, wie ich schon erwähnte, an der Straße Kleine Freiheit, und die Große und Kleine Freiheit mit ihren Nebenstraßen wie Peter- und Marienstraße, Pfeifersgang usw. bildeten den weltberühmten und berüchtigten Sündenpfuhl von Altona, den alle Fremden als einen Teil von St. Pauli betrachteten.9 Die ganze Gegend bestand aus Tanzlokalen, Singspielhallen, Animierkneipen, Chinesenkneipen, und Bordellen. Die Bordellmädchen aus der Peter- und Marienstraße standen damals noch stark dekolletiert auf offener Straße und lockten die Männer an. Ausgerechnet in einer solchen Gegend mußte eine Freischule für Knaben und Mädchen stehen.
So floß meine Jugend freudlos dahin. Das Schlimmste sollte aber noch kommen. Im Winter 1883/84 wurde mein Vater wegen einer schweren Entzündung am Finger acht Wochen arbeitsunfähig. Also war er ohne Verdienst. Seinerzeit gab es noch keine sozialpolitische Gesetzgebung, keinen Arbeiterschutz, keinen Mieterschutz, keine Versicherungsgesetzgebung, nicht einmal eine obligatorische Krankenversicherung. Es gab zwar freie Hilfskassen, die aber zum Teil in schlechtem Ruf standen, so daß viele Arbeiter sich davon fernhielten. Kam einer in Not, so blieb ihm nur die Armenunterstützung, die einmal sehr mäßig und zum anderen mit der politischen Entrechtung verbunden war. Von diesem Zustand kann sich die jüngere Generation ebenfalls kaum eine Vorstellung machen. Mein Vater war auch in keiner Kasse. Mein ältester Bruder, der in Wandsbek beschäftigt war, brachte uns jeden Sonntag RM 8 als Unterstützung. Das war – gemessen an seinem Verdienst – eine gute Leistung. Hierzu kam mein Wochenlohn von RM 3. Von diesen RM 11 sollten wir leben und Miete bezahlen.
In dieser traurigen Zeit begann nun die Vorbereitung für meine Konfirmation. Ich hatte mir als Pastoren den Hauptpastor Dohrn von der Johanniskirche gewählt. Pastor Dohrn hatte großen Zulauf von Konfirmanden. Erstens weil er als bester Kanzelredner von Altona bekannt war und zweitens, weil er keine Hausarbeit aufgab. Den Konfirmandenunterricht erhielten wir Freischüler für uns allein. Für die Schüler der höheren Schulen waren besondere Stunden angesetzt. Als der Konfirmandenunterricht sich seinem Ende zuneigte, sagte uns Pastor Dohrn, daß wir nächstes mal einen Geldbetrag für das Dienstmädchen mitzubringen hatten. Es war damals noch üblich, daß die Dienstmädchen bei den Pastoren kein Gehalt bekamen. Dafür hatten sie zweimal im Jahr – Ostern und Michaelis – die Einnahmen von den Konfirmanden.
Meine Mutter war mit diesen Gepflogenheiten so verwachsen, daß sie meinte, etwas müßte ich dem Dienstmädchen doch auch in die Sammelbüchse stecken. Und ich bekam 20 Pfg. dafür. Ich selbst war aber der Meinung, daß die 20 Pfg., umgesetzt in Nahrungsmittel, in meinem Magen besser aufgehoben wären, als in der Sammelbüchse von Pastors Rieke10. Als die letzte Unterrichtsstunde zu Ende war, stand richtig das Dienstmädchen mit ihrer Sammelbüchse an der Treppe und klöterte damit wie im „Dritten Reich" die Treppen-Terrier11. Ich steckte ihr auch etwas hinein, aber nicht die 20 Pfg. von meiner Mutter, sondern einen Hosenknopf. Nachher erfuhr ich, daß eine ganze Reihe meiner Mitschüler dasselbe gemacht hatten. Wenn dieses Dienstmädchen sich später verheiratet hat, dürfte es ihr an Hosenknöpfen für ihren Mann nicht gefehlt haben. Die Sammlung wird sich für das Mädchen aber immerhin gelohnt haben, denn es wurde gesagt, daß es bei den höheren Schülern üblich sei, dem Mädchen 2 und 3 RM zu geben.
Die Konfirmation fand am 23. März 1884 in der Johanniskirche statt. Es war dabei alles nach Rang und Stand geordnet. Die ehemaligen Schüler des Gymnasiums und die Schülerinnen der höheren Töchterschule saßen auf dem Altarpodest mit dem Gesicht dem Kirchenschiff zugekehrt, so daß sie von allen Kirchenbesuchern bewundert werden konnten. Im Kirchengestühl kamen dann der Reihe nach Realschule, Mittelschule I, II, III und IV, Bürgerschule I, II, III und IV, Freischule und dann zuletzt die Halbtagsschüler – und das alles im Namen von Jesus Christus.
Es war damals Sitte, daß die Pastoren nach der Konfirmation den Eltern einen Besuch machten, wo bei ihnen dann außer einer Bewirtung ein Geldbetrag und auch sonstige Geschenke übergeben wurden. Meine Mutter war der festen Überzeugung, daß Pastor Dohrn auch zu uns kommen würde, und sie hatte deshalb von ihrem wenigen Geld eine Flasche Wein angeschafft, um ihn zu bewirten. In unsere armselige Kellerbehausung hat sich Pastor Dohrn aber nicht hineingewagt, und die Flasche Wein blieb stehen bis zur Silberhochzeit meiner Eltern, die einige Monate später stattfand.
Ich mußte mich nun für einen Beruf entscheiden. Da mein Vater die Absicht hatte, sich, wenn auch in bescheidenem Umfange, wieder selbständig zu machen, erklärte ich mich bereit, bei ihm in die Lehre zu gehen. Vorläufig war es aber mit der Selbständigkeit noch nichts, und so mußte ich mit meinem Vater zusammen nach seiner Arbeitsstelle bei der Firma Holst gehen, wo ich das Beflechten von Demions12 erlernte.
Hiermit trat ein Wendepunkt in unserem Leben ein. Wir verließen unsere Kellerwohnung in der Blumenstraße und bezogen eine Etagenwohnung in der Norderstraße, wo wir wieder Luft und Sonne hatten.
Mein Vater wurde bald Werkmeister bei der Firma Holst mit RM 24 Wochenlohn. Meine Arbeit wurde mit RM 10 pro Woche vergütet, so daß mein Vater nun wöchentlich RM 34 nach Hause brachte; für die damalige Zeit ein sehr gutes Einkommen. Davon konnten wir wieder anständig essen, Möbel anschaffen und Schulden abtragen. Die Nahrungs- und Genußmittel waren derzeit in Hamburg-Altona sehr billig, weil beide Städte noch Zollausland waren. Erst 188913 sind Hamburg und Altona in das Zollgebiet eingegliedert worden. Bis dahin wurden alle Nahrungs- und Genußmittel zoll- und steuerfrei abgegeben. Es kosteten z.B. 1 Pfund Salz 3 Pfg., 1 Pfund amerikanisches Weizenmehl 10-12 Pfg., 1 Pfund Schweinefleisch 50 Pfg. und das wundervolle amerikanische Corned Beef 60 Pfg. pro Pfund, 1 gute Zigarre 5 Pfg., 1 Paket Kautabak („schwarzer krauser") 50 g 5 Pfg., 1 Ltr. Hamburger Kümmel 50 Pfg. usw.
Zu dem besseren Einkommen kam noch ein weiterer Glücksumstand. Das alte Korbmacheramt, bei dem mein Vater noch immer Mitglied war, wurde aufgelöst und in die Korbmacher-Innung umgewandelt. Dabei wurde ein Teil des Vermögens des Korbmacheramtes auf die Mitglieder verteilt. Mein Vater erhielt davon RM 300. Damit konnten die letzten Schulden bezahlt werden. Jetzt herrschte wieder Fröhlichkeit und Lebensmut im Hause. Wir hatten nicht nur wieder Sonne in der Wohnung, sondern auch Sonne im Herzen.
Ein Jahr nach meiner Konfirmation begann die Selbständigkeit meines Vaters, indem er von der Sprit- und Hefefabrik Heinrich Helbing, Wandsbek, den Auftrag erhielt, Hefe-Versandkörbe anzufertigen.
So verging meine Lehrzeit. Ich war bei meinen Eltern in Kost und Logis und erhielt zuerst für meine persönlichen Bedürfnisse wöchentlich 30 Pfg. Dieser Betrag erhöhte sich nach und nach und betrug zuletzt RM 2 wöchentlich. Wenn auch das benachbarte St. Pauli sehr zu Ausgaben anreizte, so bin ich doch immer sehr sparsam geblieben und habe mir von dem geringen Taschengeld noch einen neuen Anzug erspart.
Das St. Pauli von damals war ein anderes als das von 1943 vor der Bomben-Katastrophe. Damals war auf dem Spielbudenplatz am Zirkusweg und auf den Plätzen vor und hinter dem Zirkusgebäude,14 die jetzt von Straßen durchzogen werden, jeden Tag Jahrmarkt. Sonntags natürlich in verdoppelter Stärke. Von zahlreichen Verkaufsständen wurden Kokosnüsse, Datteln und Feigen, heiße Knackwürste, alter Käse und Süßigkeiten aller Art feilgeboten. Daneben gab es viele Stände mit Glücks- und Kraftspielen. Dazwischen spielte der berühmte Hamburger Kasper. Seine derben Scherze in Hamburger Mundart wurden von vielen Seeleuten gehört und in die weite Welt hinausgetragen. Sie sind auch in den beiden kleinen Büchern: „Sünd ji all dor" und „Kasper Puccinelli" festgehalten.15
In der Gegend des Zirkusgebäudes standen Schaubuden, Menagerien und Karussells. Vom kleinsten Schieberkarusell bis zum hochmodernen mit Dampfkraft betriebenen Schiffskarussell war alles vertreten. Dazwischen dudelten Orgeldreher und Bänkelsänger, die die nachmittags auf großen Bildern dargestellten Moritaten besangen, abends aber die neusten Schlager zum Besten gaben und die Liedertexte dazu verkauften. Die Häuserfronten an der Reeperbahn und am Spielbudenplatz, sowie die Nebenstraßen, wurden völlig eingenommen von Bierlokalen, Restaurants, Singspielhallen und Seemannskneipen. Von den Spielhallen hat die von Emma Thiele-Lundershausen Weltruf erlangt. Sie stand an der Stelle, wo sich heute das Lokal „Zillertal" befindet.16
Theater gab es auf St. Pauli drei: zunächst das Varieté-Theater, das im Volksmund „warmes Tee-Theater" hieß und später Ernst-Drucker-Theater genannt wurde. Es gab darin aber keine Varieté-Vorstellung. Es wurden, genau wie heute, plattdeutsche Volksstücke und daneben Räuberstücke von Charlotte Birch-Pfeiffer17, aber auch klassische Dramen, besonders von Schiller, gegeben. Ein Galerieplatz in diesem Theater kostete RM -,20. Einen solchen Platz habe ich oft eingenommen. Neben diesem Theater gab es noch das Wilhelm-Theater und die Zentralhalle, in dem große Ausstattungs-Stücke wie „Die Reise um die Welt in 80 Tagen" aufgeführt wurden. Tanzlokale gab es nur zwei, die berüchtigte Elbhalle neben Wiezels Hotel und den Salon Alcazar. Dieses heute so berühmte Lokal war damals ein auf sehr tiefem Niveau stehendes Tanzlokal, in welchen nach den Klängen einer furchtbaren Radaukapelle der damals so verpönte Schiebertanz getanzt wurde. Daß viele männliche Besucher ohne Schlips und Kragen gingen, fiel damals nicht auf. Ausgerechnet in diesem Lokal war der Hauptschlager ein Tanz, bei dem Spottverse auf den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Hasenclever allgemein mitgesungen wurden. Jeder Vers schloss mit dem Refrain:
De verdammte Hasenclever
ligt in Bett un hett dat Feber.
Das hat aber der ungewöhnlichen Popularität von Hasenclever, der schon 1874 den 8. Schleswig-Holsteinischen Wahlkreis (Altona-Stormarn) eroberte, keinen Abbruch getan.
Im Sommer drückten zwei Unternehmungen St. Pauli den Stempel auf. Es waren die Freiluft-Arena von Belli und der weltberühmte Zirkus Renz. Eine solche Popularität wie die Familie Renz und Belli damals genossen haben, ist heute kaum noch zu verstehen. So war das damalige St. Pauli.
Es gehörte immerhin einige Standfestigkeit dazu, bei all diesen Darbietungen sein Geld in der Tasche zu behalten, aber schließlich konnte man sich in diesem Trubel auch ohne Geld amüsieren.
Was mich von früh an interessierte, war die hohe Politik. In der Werkstatt meines Vaters wurde immer politisiert, und zwar in sozialistischem Sinne. Einer der Gesellen hielt sogar die streng verbotene Zeitschrift „Der Sozialdemokrat", die unter dem Sozialistengesetz zuerst in Zürich und später in London erschien und nach Deutschland eingeschmuggelt wurde. Der Inhalt einer jeden Nummer wurde in der Werkstatt verlesen. So wurde auch ich schon als ganz junger Mensch begeisterter Anhänger der Sozialdemokratie. Alle politische Literatur, die ich nur erhaschen konnte, las ich mit großem Interesse. Die Berichte über die Verhandlungen im deutschen Reichstag verschlang ich förmlich. Heute sind Jungsozialisten etwas ganz Selbstverständliches, damals war ein politiktreibender Lehrling etwas Unvorstellbares.
Die Beschäftigung für die Firma Helbing, Wandsbek, nötigte uns, nach Wandsbek zu übersiedeln. Am 1. Mai 1887 zogen wir um, und am gleichen Tage wurde ich Geselle.
Am I. Mai 1887 siedelte ich mit meinen Eltern zusammen nach Wandsbek, wo uns von der Helbing´schen Sprit- und Hefefabrik Räumlichkeiten für die Korbmacherei und zwei Wohnungen für meine Eltern und meinen verheirateten Bruder in dem Gewese19 der früheren Omnibusgesellschaft an der Lydiastraße, das Heinrich Helbing gehörte, zugewiesen waren. Der größte Teil dieser Anlage wurde vom Husarenregiment als Fouragemagazin benutzt.
Ich blieb bei meinen Eltern in Kost und Logis, erhielt aber für meine Arbeit nunmehr den Gesellenlohn ausbezahlt. Für die Hefeversandkörbe, die wir anfertigten, gab es 40 Pfennig Arbeitslohn, und man mußte bei sehr langer Arbeitszeit im Akkord sehr anstrengend arbeiten, wenn man davon 50 Stück in der Woche fertig stellen wollte. Von meinem Wochenverdienst von 20 M. mußte ich 8 M. an die Eltern für Kost und Logis abgeben. Da es damals keine Abzüge für Sozialversicherung u.s.w. gab, blieb mir ein Betrag von 12 M. zur freien Verfügung. Ich mußte nun erst noch sehr sparsam sein, um die erforderliche neue Kleidung zu beschaffen.
Daneben schaffte ich mir Literatur an wie die Werke von Heine, Goethe, Schiller, Freiligrath und sozialistische Literatur, soweit sie unter dem Sozialistengesetz zu beschaffen waren. Am meisten haben mich damals Ferdinand Lassalles Reden und Schriften begeistert, die ich abgesehen von seinem philosophischen Werk „Heraklit der Dunkle"20 und seinem rechtsphilosophischen Werk „Vom21 System der erworbenen Rechte" fast samtlich besaß. Andere Bedürfnisse, als Lesen, hatte ich nicht. Es war damals im Korbmachergewerbe allgemein üblich, daß jeder Schnaps mit zur Arbeit brachte, der zum Frühstück und Vesper, aber auch zwischendurch, getrunken wurde. Außerdem kaute jeder seinen Tabak, entweder Hamburger „Schwarzer Krauser" oder Nordhäuser Rolltabak. Solche Gewohnheiten hatte ich nicht. Ich bin bis zu meinem 32. Lebensjahr abstinent gewesen, und rauchen und kauen tue ich bis heute noch nicht.
Nach einem Jahr fand ich bereits Verbindung mit der Geheimorganisation der sozialdemokratischen Partei, die sich im Wandsbeker Männergesangverein verkörperte, und seitdem habe ich immer zu dieser Partei gehört. Als am 1. Oktober 1890 das Sozialistengesetz fiel, bin ich sofort dem neugegründeten sozialdemokratischen Verein für Wandsbek und Umgegend beigetreten, obgleich es für einen jungen Menschen, dessen Militärdienst noch nicht geordnet war, mit gewissen Gefahren verbunden war. Damals mußte noch jedes Mitglied des sozialdemokratischen Vereins polizeilich gemeldet werden, und die jungen Männer, die als Rekruten eingezogen wurden, erhielten, wenn sie Mitglied der SPD waren, ein Kreuz. Diese bekreuzigten Rekruten wurden dann beim Militär besonders beachtet.
Im sozialdemokratischen Verein gehörte ich sehr bald zu den sogenannten aktiven Genossen. Es hat von 1890 bis zu meinem im Jahre 1902 erfolgten Fortzug von Wandsbek keine Flugblattverbreitung und keine Landagitation stattgefunden, an der ich nicht teilgenommen habe. Bei der Landagitation habe ich zehn Jahre lang das Schloßgehege das Grafen Schimmelmann in Ahrensburg und das sich anschließende Dorf Bünningstedt alljährlich mehrfach mit Flugblättern, Volkskalendern, Broschüren und dem Witzblatt „Der wahre Jacob" belegt, so daß mich dort schon bald jeder Einwohner kannte.
Wiederholt wurde ich zu Kreis- und Provinziallandtagen gewählt. 1899 wurde ich mit Johannes Bruhns zusammen als Vertreter Wandsbeks in die Pressekommission des „Hamburger Echo" gewählt. Die Pressekommission bildete zugleich eine Art Aufsichtsrat der Druckerei und Verlagsanstalt von Auer & Co, denn sie hatte auch die Gehälter der Geschäftsführer und Redakteure dieser Firma festzusetzen. Firmenträger dieses Parteiunternehmens waren August Bebel, Paul Singer, Ignaz Auer und Hermann Förster. Da wiederholt Sitzungen mit den Firmenträgern zusammen stattfanden, wurde ich mit diesen großen Führern der sozialdemokratischen Partei persönlich bekannt. Während der Zeit meiner Zugehörigkeit zur Pressekommission wurde der große Bau an der Fehlandtstraße durchgeführt. Die Druckerei von Auer & Co entwickelte sich unter der ausgezeichneten Leitung von Heinrich Bérard, der als einer der besten Fachleute der Branche galt, in der Gemeinschaft mit seinem Kollegen Schröder und dem alten Faktotum Karl Mähl, der 40 Jahre lang Kasse und Buchführung in der gewissenhaftesten Weise führte, zu einer der größten Druckereien Norddeutschlands. Das Unternehmen konnte alljährlich große Summen an die Partei abführen und dabei auch noch genügend Eigenkapital für die Erweiterung des Geschäfts bilden.
Die Pressekommission war in menschlicher Beziehung verschiedenartig zusammengesetzt. Neben hochintelligenten, wie Adolf von Elm, Helma Steinbach, August Kirch, Gustav Niendorf usw. gab es auch einige Originale, wie den in der Maurerorganisation sehr bekannten Adje22 Baker, der immer „Matteri" sagte, wenn er „Materie" meinte, den Gastwirt Hein Ostwald vom Billhorner Röhrendamm und den kleinen Johann Berkhahn Kohn.23 August Kirch war auf Grund seiner Intelligenz schon im Alter von 20 Jahren in die Pressekommission gewählt worden. Als er zum ersten Mal zu einer Sitzung erschien, empfing ihn Helma Steinbach mit den Worten: „Na, nu kommt hier jetzt auch lütje Kinner". Damals herrschten über die Jugend andere Anschauungen als heute. Durch meine Übersiedlung nach Bremerhaven-Geestemünde24 im Oktober 1902 mußte ich aus der Pressekommission, in der ich immer gern mitgewirkt hatte, ausscheiden.
Bei meiner geistigen Regsamkeit empfand ich sehr unangenehm den Mangel an gewissen Elementarkenntnissen, die mir die Schule in Altona nicht mitgegeben hatte, besonders im Rechnen, deutscher Sprache und Schönschreiben. Ich trat deshalb 1892 dem Fortbildungsverein für Barmbek und Umgebung bei, bei welchem ich an vier Abenden der Woche Unterricht nahm. Das Unterrichtslokal befand sich in einem tiefgelegenen Wirtschaftskeller von Peter Blesgen an der Oberaltenallee. Der Gastwirt Peter Blesgen war ein Original. Er beschäftigte sich mit vielen anderen Dingen, am wenigsten aber mit seiner Gastwirtschaft, so daß in der vieles im Argen lag. Er war auch einem guten Tropfen nicht abgeneigt und hatte dadurch eine sehr rote Nase. Der Wochenplauderer im „Hamburger Echo", Gustav Stengele, brachte über diese Nase einmal folgenden Vers:
Lieber Leser, sei nicht dumm,
Trink stets Grog von purem Rum,
Dann bekommst du ein rotes Näs'chen,
Noch roter, wie der Peter Blesgen.
Unser Unterricht wurde leider recht bald durch eine Katastrophe unterbrochen. Anfang August 1892 brach in Hamburg die Cholera mit ganz verheerender Wirkung aus, bei der etwa 10.000 Menschen ihr Leben lassen mußten. Die Zahl der Erkrankungen war natürlich das Vielfache. Der Unterricht mußte während der Epidemie ausfallen, und als wir uns nach
Beendigung derselben wieder zusammenfanden, war nur ein Drittel der Kursisten von der Seuche verschont geblieben. Größte Schwierigkeiten bereitete dem Fortbildungsverein die Lehrerfrage. Wegen seiner sozialistischen Einstellung war es den Hamburger Lehrern verboten, in ihm zu unterrichten. Es wagte trotzdem immer einmal einer, aber nach einiger Zeit mußte er seine Tätigkeit wieder einstellen. Im ersten und zweiten Jahr meines Schulbesuches unterrichtete in den Elementarfächern der äußerst tüchtige Hamburger Lehrer Friedrich, dem ich in der Entwicklung meiner Elementarkenntnisse sehr viel zu danken habe.