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© 2018 Willi Süß

Lektorat: Susanne Jäkel

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7481-1315-7

Inhaltsverzeichnis:

  1. Kapitel: Der neue Lehrer
  2. Kapitel: Aufbruch ins Abenteuer
  3. Kapitel: ISO-12-B
  4. Kapitel: Der Mörder aus der Urzeit
  5. Kapitel: Der Orientierungslauf
  6. Kapitel: Ein kugeliger Held
  7. Kapitel: Der Anschlag
  8. Kapitel: Die Monsterspinne
  9. Kapitel: Das Unwetter
  10. Kapitel: Die Gefangennahme des Halim-La-Can

1. KAPITEL

DER NEUE LEHRER

Die Weihnachtsferien waren wie im Fluge vergangen. Dummer Weise war es genau am Heiligen Abend viel wärmer geworden und der gefallene Schnee wie Butter dahin geschmolzen. Doch es wurde auch ohne die weiße Pracht ein schönes Fest. Die Schulleitung hatte im Gemeinschaftsraum einen Weihnachtsbaum aufstellen lassen und jedes Kind, das die Ferien in der Schule verbrachte und nicht nach Hause gefahren war, bekam ein Päckchen unter den Baum gelegt.

Die Jungs hatten eine Haarbürste und ein Duschgel in ihrem Päckchen. Die Mädchen Rouge und Make-up. Klerila war noch in Okiama, einer Kleinstadt am Südufer des großen Sees, ungefähr dreitausend Kilometer von Terranico entfernt. Sie teilte dort mit ihren fünf Schwestern aus derselben Klonserie (genauer gesagt waren sie genetisch vollkommen identische Sechslinge) eine große Wohnung im Hauptgebäude der Firma Technoklon. Hier befand sich das Labor in dem sie vor fast fünfzehn Jahren „produziert“ wurden. Jedes der Mädchen wurde im Rahmen einer Testreihe, zur Erforschung der Entwicklung von Klonen, eine etwas andere Erziehung und Ausbildung zuteil.

Es war Montag. Das Schulgebäude war in den Ferien auf Hochglanz gebracht worden. Frischer Duft von Reinigungsmitteln lag in der Luft. Die Tische und Stühle in den Klassenzimmern waren fein säuberlich aufgestellt.

Es war erst halb acht und Gerry war bereits da. Er konnte es nicht erwarten, Klerila wieder zu treffen. Dr. Kaufmann saß beim Lehrerpult und blätterte in einem Heft.

„Guten Morgen, Kadett Mayer, Sie können es wohl nicht mehr erwarten, dass der Unterricht beginnt?“

„Na klar, was haben Sie denn geglaubt?“, scherzte Gerry.

Dr. Kaufmann schmunzelt und blätterte weiter in seinem Heft.

Nach etwa zehn Minuten kam Fiep als nächster und dann tauchten alle nach und nach auf.

Ständig schaute Gerry zur Eingangstür, doch Klerila kam nicht. Er hatte ein ungutes Gefühl und machte sich ein wenig Sorgen. Dass noch ein Schüler nicht erschienen war, fiel ihm nicht auf: Adrian Springfield.

„Weiß jemand wo die beiden Kadetten Springfield und Betuma geblieben sind?“, fragte Dr. Kaufmann, nachdem ein Trompetensignal den Unterricht angekündigt hatte. Keiner meldete sich. Doch dann hob Iwo die Hand und sagte schmunzelnd:

„Was das Mädchen betrifft, da hat vielleicht Kadett Mayer eine Ahnung wo sie sein könnte. Er scheint sich nämlich in letzter Zeit vermehrt um sie zu kümmern.

Ein Kichern ging durch die Schüler. Gerry errötete und warf Iwo einen finsteren Blick zu.

„Ruhe bitte!“, forderte Dr. Kaufmann und blickte fragend zu Gerry.

„Also, Kadett Mayer?“

„Nein, Herr Major, ich weiß auch nicht wo sie ist.“

„Okay, warten wir’s ab, die beiden werden schon noch auftauchen“, beendete Dr. Kaufmann das Thema und setzte mit dem Unterricht fort. Es war nichts außergewöhnliches dass jemand einmal nicht rechtzeitig erschien, man kann ja auch mal krank werden. Seltsam war nur, dass sich beide noch nicht gemeldet hatten.

Etwa zehn Minuten vor Ende der zweiten Stunde klopfte es kurz an der Tür und Klerila kam herein. Sie wirkte aufgeregt und ein wenig erschöpft. Das Haar ihres ansonsten perfekt gestylten Pagenkopfes war leicht zerzaust.

„Guten Morgen Herr Major, bitte entschuldigen Sie mein Zuspätkommen, aber es ist etwas passiert“, rechtfertigte Klerila mit aufgeregter Stimme ihre Verspätung.

„Ist schon in Ordnung. Beruhigen Sie sich erst mal. Was ist denn passiert?“

„Als ich heute Früh vom Landeplatz zur Schule ging brach Kadett Springfield plötzlich vor mir zusammen. Er war käsebleich und schwitzte. Er war zwar ansprechbar, doch rang er nach Luft und konnte nicht sprechen. Immer wieder ging ein Zucken durch seinen Körper. Er starrte mich mit erweiterten Pupillen an. Ich leistete ihm sofort erste Hilfe.“

„Großer Gott! Konnten Sie ihm helfen?“, fragte Dr. Kaufmann sichtlich erschrocken.

„Ja, es gelang mir seinen Kreislauf zu stabilisieren. Dann rief ich den Notarzt. Der war bereits nach wenigen Minuten hier und diagnostizierte eine akute Vergiftung“, erklärte Klerila.

Im Klassenzimmer war es mucksmäuschenstill geworden.

„Eine Vergiftung? Wann und wie soll sich Kadett Springfield denn vergiftet haben? Er wollte sich doch hoffentlich nicht sein Leben nehmen?“

„Nein, das glaube ich nicht. Ich jedenfalls würde mich danach irgendwohin zurückziehen und mich nicht auf den Weg zur Schule machen“, meinte Klerila kopfschüttelnd.

„Stimmt auch wieder, dafür muss es einen anderen Grund geben.“

Dr. Kaufmann stand auf und ging zur Tür.

„Ich werde mich um die Sache kümmern. Die Unterrichtsstunde ist ohnehin gleich zu Ende. In der nächsten Stunde haben Sie Religion. Ein neuer Lehrer wird Sie begrüßen. Es soll ein junger Mann sein, ich kenne ihn selber auch noch nicht. Ich möchte, dass Sie bei ihm mitarbeiten und ihm den Anfang nicht unnötig schwer machen“.

Klerila setzte sich an ihren Platz und Dr. Kaufmann verließ den Raum. Sogleich brach geschwätziges Lärmen los.

Alles Interesse galt Klerila. Sie musste ihren Mitschülern genau erklären wie sie Springfields Kreislauf durch eine Herz-Lungen-Wiederbelebung wieder in Schwung brachte und ihn dann in stabiler Seitenlage positionierte. Keiner fragte wo sie denn das gelernt habe, denn alle kannten sie schon die Antwort:

„Ach, das hab’ ich mal wo gesehen oder gelesen.“

Als Klon wurde ihr nämlich die Eigenschaft eines fotografischen Gedächtnisses beigegeben.

„Und ich dachte schon du hättest etwas mit Springfield“, sagte Iwo mit einem gespielten Seufzer der Erleichterung.

„Was soll denn das jetzt wieder heißen?“, fauchte Klerila Iwo an.

„Ich mein ja nur. Gerry ist mein bester Freund und da machte ich mir halt Sorgen, wenn du ... na ja, du und Springfield ...“

Klerila bedachte Iwo mit einem Blick, der eine ganze Armee hätte töten können.

Darauf verstummte er augenblicklich. Auch die anderen fanden diese Meldung in Anbetracht der Ereignisse nicht besonders witzig.

In der Pause versuchten Gerry und Klerila, etwas über Adrian Springfields Befinden in Erfahrung zu bringen, doch weder in der Krankenstation noch in der Direktion wollte ihnen jemand Auskunft geben. Überall hieß es:

„Kein Kommentar zum gegebenen Zeitpunkt!“

Die nächste Stunde war noch nicht eingeläutet, als sich die Tür zum Klassenzimmer öffnete. Ein großer, junger Mann mit schwarzem Haar und dunklem Teint war eingetreten. Er trug keine Uniform sondern war wie ein Priester gekleidet: Schwarzes Hemd, graue Hose, schwarze Schuhe. Eine schwere, goldene Halskette mit einem großen, ebenfalls goldenen Kreuz, hing um seinen Hals.

„Guten Morgen, bitte setzt euch auf eure Plätze“, waren seine ersten Worte.

Keiner wusste eigentlich so recht warum, aber alle stürzten sie förmlich zu ihren Stühlen. Innerhalb von wenigen Sekunden saßen die siebzehn Schüler an ihren Plätzen und es war totenstill. Die Aufforderung von Dr. Kaufmann dem neuen Lehrer zu gehorchen und bei ihm mitzuarbeiten, erwies sich deshalb als umsonst. In seinen Worten schwang etwas mit, das keinen Widerspruch duldete.

„Wunderbar“, meinte er mit ungewöhnlich tiefer Stimme. „Ihr scheint ja ganz gut erzogen zu sein. Mein Name ist Silvano Esperanza. Ich komme vom Planeten Merak IV und bin euer neuer Religionslehrer. Ich hoffe für den guten Rei-Male, Gott habe ihn selig, ein würdiger Ersatz zu sein.“

Er legte seinen Laptop auf den Lehrertisch und klappte ihn auf. Auf dem Bildschirm erschienen die Fotos der achtzehn Schüler mit dazugehörigen Namen. Esperanza blickte auf den leeren Platz von Springfield, dann wieder auf seinen Laptop.

„Wo ist Adrian Springfield?“, fragte er kurz darauf.

„Er ist auf der Krankenstation“, antwortete ihm Klerila. „Er wird dort wegen einer akuten Vergiftung behandelt.“

„Wegen einer Vergiftung? Bist du sicher?“

„Ja, Herr Esperanza, zumindest glaubte das der Notarzt bei seiner Erstversorgung festgestellt zu haben.“

„Hoffentlich ist es nichts Schlimmes. Übrigens könnt ihr Silvano zu mir sagen und mich duzen“, meinte Esperanza und schaute wieder auf seinen Laptop.

„Gerald!“, rief er plötzlich. Keiner reagierte darauf.

„Gerald Mayer!“, wiederholte er etwas lauter.

„Das bin ich“, meldete sich Gerry hastig. „Entschuldigung, aber ich bin es nicht gewohnt mit Gerald angesprochen zu werden. Alle nennen mich nur Gerry.“

„Ach so, das habe ich nicht gewusst. Hier steht Gerald Mayer“, sagte Esperanza und deutete auf den Bildschirm. „Also Gerry, bist du derselbe Mayer der auf Alpha CMi III entführt wurde?“

„Ja der bin ich, Herr Espera ... äh ... Silvano. Warum?“, fragte Gerry und wunderte sich, weshalb den Religionslehrer das als Erstes interessierte. Die Blicke der beiden trafen sich. Gerry glaubte diese Augen schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Aber er hatte keinen Schimmer wann und wo das gewesen sein könnte.

„Nur reine Neugierde.“

Esperanza fragte jeden der Schüler zu seiner Herkunft, Interessen und Ziele in seinem Leben. Mit Klerila unterhielt er sich besonders lange. Sie schien ihm zu gefallen, was Gerry wiederum weniger gefiel.

In der Pause war Springfield schon kein Thema mehr. Es wurde nur noch von Silvano gesprochen. Die Schüler fanden Esperanza ganz in Ordnung. Besonders Elli und Klerila schwärmten von ihm. War er doch ein gut aussehender junger Mann, der nicht zuletzt mit seinem autoritären Auftreten beeindruckte.

„Hast du gesehen wie sie ihn angehimmelt hatte, während er mit ihr sprach?“, bemerkte Gerry zu Iwo.

„Ist da einer vielleicht eifersüchtig?“, fragte Iwo.

„Quatsch, ich bin nicht eifersüchtig, aber auch nicht blind.“

„Gerry, bitte, der Mann ist Priester. Den interessiert Klerila nicht die Bohne.“

„Ja genau, Priester! Gerade die haben es oft faustdick hinter den Ohren“, meinte Gerry aufgebracht.

„Ich glaube du steigerst dich da in Etwas hinein. Mir ist dieser Mann völlig schnuppe, ehrlich“, beteuerte Klerila und drückte freundschaftlich seine Hand.

Auf seinem Gesicht erschien ein säuerliches Lächeln.

Die Genesung von Adrian Springfield schritt zügig voran. Dank seiner sofortigen Einlieferung in die Klinik von Terranico konnte ihm rasch ein Gegengift injiziert werden. Es wurde festgestellt, dass das Gift nicht oral in den Körper gelangt ist, sondern entweder gespritzt oder über die Haut aufgenommen wurde. Da sich Adrian beim besten Willen nicht erinnern konnte irgendwann etwas injiziert bekommen zu haben und auch nirgends eine Einstichstelle gefunden wurde, kam eigentlich nur die Sache mit der Haut in Frage. Obwohl sich keiner erklären konnte wer Adrian Springfield etwas antun wollte, wurde schließlich doch ein krimineller Hintergrund vermutet.

Direktor Gudmundsson war verzweifelt. Erst vor wenigen Wochen kam seine Schule wegen der Entführung von Kindern in die Schlagzeilen und jetzt das. Sofort nachdem Kadett Springfield das Krankenhaus verlassen konnte, bat ihn der Direktor in sein Büro. Auch ein Kriminalbeamter war anwesend. Als Adrian den Raum betrat stellte sich der Beamte sogleich als Kommissar Kolping vor und begann mit seiner Befragung:

„Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihnen nach den Leben trachten könnte oder sich vielleicht wegen etwas rächen möchte?“

„Nein, keine Ahnung“, antwortete Adrian.

„Wir kommen nämlich in der Sache nicht weiter“, meinte der Kommissar und fuhr sich mit den Fingern über die Lippen. „Hat Ihnen jemand unerwartet ein Geschenk gemacht; ein Deodorant, eine Seife oder ein Haarshampoo?“

„Nein, niemand!“, versicherte Adrian. „Wer soll denn mir plötzlich etwas schenken? Das einzige, was ich in letzter Zeit bekommen habe, war das Weihnachtspäckchen von der Schule.“

„Was war denn in diesem Päckchen?“, fragte Kolping weiter.

„Eine Bürste und ein Duschgel“, antwortete Gudmundsson für Adrian. „Aber bitte glauben Sie mir, keiner der HokoTiR-Angestellten würde einen der Schüler vergiften wollen.“

„Das glaube ich Ihnen ja gerne, Herr Direktor, aber wir müssen jeder Spur nachgehen. Es wäre auch möglich, dass das Gift schon beigemengt wurde, bevor die Sachen in die Schule kamen“, sagte Kolping.

„Sie denken also an einen Anschlag und es sollte keine bestimmte Person getroffen werden“, bemerkte der Direktor. „Aber dann hätte sich doch schon jemand gemeldet und sich zu dem Anschlag bekannt.“

„Das stimmt allerdings auch wieder“, gab der Kommissar dem Direktor Recht.

„Herr Springfield, haben Sie das Duschgel schon einmal benützt?“

„Nein, hab’ ich nicht, ... aber die Bürste“, überlegte Adrian.

„Wann haben Sie denn die Bürste benützt?“

Adrian grübelte mit heruntergezogenen Augenbrauen weiter nach.

„Am Morgen des ersten Schultages“, antwortete Adrian langsam.

„Interessant! Also an jenem Morgen, als Sie ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Bitte bringen Sie die Bürste doch heute noch in das Kommissariat, wir würden sie gerne in unserem Labor untersuchen“, bat Kolping Adrian.

„Ich habe sie leider zu Hause in Okiama gelassen. Aber wenn Sie in Ihrem Kommissariat einen Transporter haben, könnten Sie die Bürste direkt zu sich beamen. Mein Vater wird Ihnen gerne die Koordinaten durchgeben“, schlug Adrian vor.

„Sicher haben wir so ein Ding. Ich werde die Sache mit Ihrem Vater abklären. Danke für die freundliche Mitarbeit. Wenn Sie der Herr Direktor nicht mehr braucht; von mir aus können Sie gehen.“

Kolpings Blick wanderte zu Gudmundsson der mit geschürzten Lippen nickte.

„Herr Kommissar“, sagte Adrian während er zur Türklinke griff.

„Ja bitte?!“

„Würden Sie mich bitte informieren, wenn Sie die Ergebnisse haben.“

„Selbstverständlich Herr Springfield, Sie werden es als erster erfahren“, versprach Kolping.

Adrian ging direkt in sein Klassenzimmer. Der Unterricht hatte bereits begonnen und die Schüler warfen ihm neugierige Blicke zu. Frau Professor Shuara-Sad, die Lehrerin für Außerirdische Sprachen, grüßte ihn nur kurz und deutete mit einer Geste sich zu setzen. Frau Shuara-Sad kam vom Planeten Shiroff III (benannt nach dem Astronomen und Geologen Prof. Artur Arturowitsch Shiroff; 2201-2289) dem dritten Planeten der Sonne HDE-334001. Sie war von sehr kleiner Statur und für einen Erdmenschen war es unmöglich zu erkennen, dass sie weiblichen Geschlechts war. Ihre Haut war fast schwarz und wirkte dick und ledern. Ihr kahler, ohrmuschelloser Kopf, erinnerte mit seinen großen Augen und der hohen Stirn eher an den einer Kröte, als eines Menschen. Kurzum: Sie war das Hässlichste, was die HokoTiR an einem Lehrer zu bieten hatte. Doch mit ihrer sanften, hellen Stimme erweckte sie unweigerlich den Eindruck, dass man eine verzauberte Prinzessin vor sich hatte.

Gerade wollte Professor Shuara-Sad mit dem Unterricht fortfahren, als sich eine Lautsprecherdurchsage ankündigte:

„Achtung! Achtung! Eine wichtige Durchsage der Direktion. Die Schulleitung warnt eindringlichst vor dem Gebrauch der Haarbürsten, die sich in den Weihnachtspäckchen der HokoTiR befunden haben. Sie könnten eventuell mit einem noch unbekannten Gift präpariert worden sein. Es wird ersucht die Bürsten bis spätestens morgen früh bei Direktor Gudmundsson abzugeben!“

„Sie haben gehört, was die Direktion bekannt gegeben hat“, sagte Professor Shuara-Sad. „Hat schon jemand die Bürste benützt?“

Ein Großteil der Kinder hob zögernd die Hand, als hätten sie etwas Verbotenes gemacht.

„Okay, Sie scheinen ja alle noch gesund zu sein. Bitte befolgen Sie trotzdem die Anordnung der Schulleitung und geben Sie die Bürsten bis morgen im Büro des Direktors ab.“

In der Pause wollten alle von Adrian wissen, was das mit der Bürste zu bedeuten hätte. Er erzählte ihnen von dem Gespräch mit Kolping und dass dieser vermutet, seine Vergiftung könnte damit etwas zu tun haben.

„Meine Bürste wird morgen im Polizeilabor untersucht. Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass nur diese eine präpariert wurde, dann kann es nur ein Anschlag auf mich persönlich gewesen sein. Nur habe ich null Ahnung wer und weshalb“, stellte Adrian kopfschüttelnd fest.

„Das muss es nicht zwingend bedeuten“, grübelte Klerila, „es kann auch sein, dass es dem Giftmischer egal war, wen er damit umbringt. Oder die Päckchen verwechselt wurden und jemand anderer gemeint war.“

„Und wer bitte nach Ihrer Meinung, Frau Oberkommissar, könnte dann gemeint gewesen sein?“, spöttelte Iwo. „Der Einzige, der hier in der Schule Feinde hat, ist Mc-Caffrey, aber der ist bekanntlich nicht mehr hier.“

„Was ist, wenn es umgekehrt ist? Wenn sich McCaffrey zum Beispiel an Fiep rächen wollte, du neunmal Kluger“, konterte Klerila.

„Oder was ist, Klerila, wenn einer dieser Menschenrechtsaktivisten, die immer gegen Klonversuche demonstrieren, dich aus den Weg räumen wollte“, sagte Max und spielte den Entsetzten.

Iwo, Fiep und Elli grinsten breit. Nur Gerry schaute irritiert zu Max.

„Lieber Max“, zischte Klerila, „wenn du ein bisschen mehr Ahnung hättest von dem was du da zusammenfaselst, wüsstest du, dass diese Leute nur gegen Klonversuche sind, nicht aber gegen geklonte Menschen. Und jetzt könnt ihr mich alle mal.“ Schmollend machte sie kehrt und verließ die Klasse.

„Klerila, ich glaube auch …“ rief Gerry ihr noch nach, doch sie hatte schon mit lautem Knall die Tür zugeworfen.

„Was hat sie denn?“, fragte Max achselzuckend.

„So giftig hättest du sie auch wieder nicht anreden müssen“, verteidigte Gerry seine Freundin. „Es hätte auch gut sein können, dass dich die Mafia beseitigen wollte, da du aus Sizilien kommst.“

„Okay, is’ ja schon gut, ich habe es nicht so gemeint“, bedauerte Max mit beschwichtigender Handbewegung.

„Ach kommt, lasst die Streitereien, es ist ja noch nicht einmal sicher ob meine Vergiftung an der Bürste lag. Kommissar Kolping wird die Sache schon aufklären“, meinte Adrian. Genau als die nächste Stunde von einem trompetenartigen Signal angekündigt wurde, betrat Klerila wieder das Klassenzimmer und setzte sich an ihren Platz. Mit finsteren Blick schaute sie zu Max hinüber, der ihren Blick mit einer Art >Was-soll-ich-machen< Geste erwiderte.

John Springfield öffnete mit fahrigen Bewegungen die Schubläden des Kleiderschrankes seines Sohnes. Der Anruf dieses Kripobeamten aus Terranico hatte ihn nervös gemacht. Eine Schublade nach der anderen zog er heraus, durchstöberte sie kurz und schloss sie wieder. Irgendwo musste diese verdammte Bürste doch sein, nachdem er sie im Badezimmer nirgends finden konnte. Da fiel ihm die Ablage oberhalb des Schuhschrankes im Vorzimmer ein. Wenn es Adrian eilig hat, legt er da immer alle möglichen Sachen ab. Und tatsächlich lag sie hier, nicht sofort sichtbar, unter einer Schirmmütze.

„Na endlich!“, seufzte Herr Springfield, nahm die Bürste und drückte seinen IdeTel-Chip. Wie vereinbart teilte er die Koordinaten zum Beamen, die er mittels eines Positionsbestimmers genau ermitteln konnte, dem Kommissar mit. Wenige Augenblicke später war die Bürste verschwunden.

Als er die niederschmetternde Nachricht erfuhr, saß Direktor Gudmundsson in seinem Büro und speicherte Lehrprogramme auf die Laptops einiger seiner Lehrer.

„Guten Morgen, Herr Direktor!“, meldete sich Kommissar Kolping. „Ich habe gerade den Laborbericht mit den Ergebnissen der Untersuchung der Bürste vor mir liegen. Sie war tatsächlich mit dem Nervengift Tetrodotoxin versetzt worden. Das Gift gelangte dermal über die Kopfhaut in den Körper. Es soll ein extrem starkes Gift sein. Der Schüler hatte großes Glück, dass er nur eine minimale Dosis abbekommen hatte.“

„Ja, Gott sei Dank! Aber dass die Bürste wirklich vergiftet war, ist schrecklich genug“, antwortete Gudmundsson. „Bitte bewahren Sie Stillschweigen in der Sache und vor allem halten Sie die Presse raus. Ich möchte nicht, dass die Schule schon wieder in die Schlagzeilen gerät.“

„Natürlich, ich werde in dem Fall so diskret wie möglich vorgehen“, versprach Kolping, „kann Ihnen aber nicht versichern, dass die Paparazzi nicht doch etwas mitbekommen.“

„Danke, Herr Kommissar, ich weiß, dass Sie Ihr Bestes geben werden“, beendete der Direktor das Gespräch.

Der Schulleiter legte den Laptop, an dem er gerade arbeitete, zur Seite und grübelte nach. Wer um alles auf der Welt könnte es auf Springfield abgesehen haben? Ax-La-Can saß im Gefängnis und ansonsten konnte er sich niemand so richtig vorstellen, der in Frage käme. Außerdem gab es kein Bekennerschreiben oder so etwas.

Der Kommissar ging jeder noch so klitzekleinen Spur nach. Sogar sämtliche Mitschüler und einige Lehrer ließ er vernehmen. Doch bei keinem ergaben sich etwaige Verdachtsmomente, geschweige denn ein Motiv. Besonders Silvano Esperanza war über seine Vorladung ins Kommissariat entrüstet.

„Also, einen Geistlichen des Mordanschlages an einem Schüler zu verdächtigen, finde ich schon ein starkes Stück“, wetterte Esperanza, noch bevor er an Kolpings Schreibtisch Platz genommen hatte.

„Ich bitte Sie, Hochwürden, es geht hier nicht um irgendwelche Verdächtigungen, geschweige denn um Anschuldigungen, sondern nur um eine rein routinemäßige Befragung. Es wäre ja möglich, dass Sie etwas beobachtet haben, dem Sie bisher keine Bedeutung zukommen ließen, oder Ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen ist. Ich habe sogar Direktor Gudmundsson hier bei mir gehabt“, beruhigte der Kommissar in sachlichem Tonfall.

Kolping hatte seine liebe Not bei der Vernehmung Esperanzas. Der Religionslehrer ließ sich alles aus der Nase ziehen und beantwortete die Fragen nur widerwillig und in schnippischem Tonfall. Immer wieder bemerkte er dazwischen, dass er sehr wenig Zeit habe und unterstrich dieses mit ständigen Blicken auf seine Armbanduhr.

Der Kommissar gab einen Seufzer der Erleichterung von sich, als die Tür hinter Esperanza ins Schloss fiel. Er hatte jetzt alle Personen befragt von denen er glaubte, dass sie zur Lösung des Falles beitragen könnten und war doch keinen Schritt weiter gekommen. Resigniert warf er seinen Kugelschreiber auf das Papierblatt, auf dem er sich Notizen gekritzelt hatte.

Am Nachmittag hatte die 1b Waffenkunde. Ihr Lehrer war Waffenmeister Major Harnisch. Professor Harnisch war ein groß gewachsener, sehr sportlich wirkender Mann um die Mitte dreißig. Bevor er sich an der Hoko-TiR als Lehrer bewarb, arbeitete er als Physiker für Strahlungstechnik am Raumwaffenstützpunkt Merak IV.

Somit konnte man sich wohl keinen besseren Mann für den Waffenkundeunterricht vorstellen. Er hatte sowohl umfangreiche theoretische Kenntnisse als auch ein hohes Maß an praktischer Erfahrung mit Laserwaffen.

„Die HLP-9000 wird von einem Hochleistungsakku mit Energie versorgt“, begann Professor Harnisch räuspernd, weil sich in der letzten Reihe noch zwei Schüler flüstern unterhielten. Die beiden verstummten und setzten eine Unschuldsmiene auf.

„Auf Grund ihrer enormen Reichweite kann sie nicht nur im Nahkampf, sondern auch im Fernkampf bis 9000 Kilometer eingesetzt werden. Innerhalb einer planetarischen Atmosphäre, also etwa auf der Erde oder auch hier auf Alpha CMi IV, kann es durch Nebel, Wolken oder Regen zu einem deutlichen Energieverlust des Laserstrahls kommen.“

Während Professor Harnisch sprach löste er den Akku aus dem Waffengehäuse, in Form und Größe ähnlich wie das Magazin einer herkömmlichen Schusswaffe.

„Bitte nehmen Sie die Waffe und entfernen Sie den Akku“, forderte er die Schüler auf. Als er sah, dass es einigen Schwierigkeiten bereitete, das Teil zu lösen, schob er seinen Akku wieder in die Pistole und wiederholte den Vorgang langsam, für alle gut sichtbar, nochmals.

„Jeder Akku trägt links unten eine sechsstellige Nummer“, erklärte Professor Harnisch weiter und zeigte mit dem Finger darauf.

„Es ist dieselbe, die auch im Griff der Waffe eingeprägt ist. Das ist wichtig, weil jede HLP-9000 nur von ihrem, sozusagen >persönlichen Akku< geladen werden kann. Der Akku selbst kann auch nur persönlich geladen werden...und zwar von mir.“ Professor Harnisch deutete mit der Hand auf seine Brust und grinste.

Ein kräftig gebauter, sehr großer Junge hob die Hand und fragte, nachdem ihn der Lehrer mit einem „Bitte, Kadett Callanger“ dazu aufgefordert hatte:

„Wie lange dauert es denn bis der voll aufgeladene Akku wieder leer ist?“

„Dazu wollte ich gerade kommen“, meinte Major Harnisch. „Das kommt natürlich auf die Höhe der eingestellten Leistungsstufe sowie auf Dauer und Häufigkeit des Einsatzes der HLP-9000 an. Das kann deshalb sehr verschieden sein. Ein Dauerfeuer auf Stufe 10 würde den Akku nach etwa zehn Minuten bereits entladen haben, eines auf Stufe 1 erst nach sechzehn bis siebzehn Stunden. Aber auch im Ruhezustand entlädt sich der Akku allmählich, nur dauert es dann, vorausgesetzt die Waffe würde niemals verwendet, mehrere Jahre. Bei unserem Übungsschießen werden wir nur mit höchstens Stufe 5 feuern, das heißt Sie müssten mit Ihrem Akku mindestens ein Schuljahr lange auskommen. Vor jeder Schießübung, oder auch auf Befehl der Schulleitung, wird von mir die Waffe auf die erforderliche Stufe eingestellt. Die restliche Zeit hat sie gesichert zu sein und darf nicht benützt werden. Bis auf eine Ausnahme, zu der ich später noch zurückkommen werde. Auch gesichert darf sie nur in dem dafür vorgesehenen Brusthalfter und nicht irgendwo eingesteckt mitgeführt werden. Nur im tatsächlichen Ernstfall, zum Beispiel bei einer feindlichen Bedrohung, ist die Waffe auf die absolut tödliche Stufe 10 gestellt. In diesem Fall kann die Waffe auch feuerbereit in der Hand gehalten werden und muss nicht im Halfter stecken. Jeder unerlaubte Gebrauch kann nachverfolgt werden und wird strengstens bestraft.“

Major Harnisch machte eine Pause und blickte mit ernster Miene durch das Klassenzimmer, um sich zu vergewissern, dass seine zuletzt ausgesprochene Warnung auch bei den Schülern angekommen ist.

„Kann mir jemand sagen, warum der Treffer eines Laserstrahles verletzen beziehungsweise töten kann?“, fuhr der Waffenmeister mit einer Frage fort.

Klerila hob ihre Hand.

„Ich nehme an, dass es die dabei entstehende Hitze ist, Herr Professor.“

„Ja, hauptsächlich durch thermische Wirkung tötet der Laser, aber nicht nur...“, sagte Harnisch, „...auch Strahldurchmesser und natürlich die Energiemenge spielen bei den unteren Leistungsstufen, also im nicht tödlichen Bereich, eine wichtige Rolle. Bis Stufe 3 ist der Strahldurchmesser mit etwa 2,5 Zentimeter zwar am größten, jedoch die Energiemenge von nur wenigen Watt relativ gering. Der Laser kann deshalb den Gegner nicht durchbohren. Wegen des größeren Strahldurchmessers ist auch die Einschlagfläche größer. Dies bewirkt eine Schockwelle in den Blutbahnen und der Kreislauf bricht kurzfristig zusammen. Mehr oder weniger lange Bewusstlosigkeit ist die Folge. Ab Stufe 5 wird der Strahl sein Ziel mit Sicherheit durchschlagen und, obwohl nur noch einige Millimeter dick aber mit Energien bis zu 100 Kilowatt bei Stufe 10, einen mehreren Zentimeter breiten Schusskanal aus dem Körper herausbrennen. Dass die dabei entstehenden Verletzungen zum Tod führen versteht sich wohl von selbst. Es kann schon mal vorkommen, dass durch den Rückstoß der explosionsartig verdampfenden Körperteile eines getroffenen Feindes, ihm nahe befindliche Kameraden ebenfalls schwerst verletzt oder sogar getötet werden können.“

Mit wachsendem Respekt blickten die Kinder ehrfurchtsvoll auf ihre HLP-9000. Der große Junge mit dem Namen Callanger hob wieder die Hand und fragte, ohne das Okay von Waffenmeister Harnisch abzuwarten:

„Sie sprachen vorhin von einer Ausnahme, bei der die Waffe auch mit entsprechender Sicherung benutzt werden kann?“

„So ist es, ich wollte es soeben ansprechen. Sollten Sie einmal in eine Situation kommen, in der Sie auf sich alleine gestellt sind und Ihr IdeTel-Chip* nicht funktioniert, sei es wegen atmosphärischer Strahlung, einer Kopfverletzung oder welchen Gründen auch immer, so können Sie trotz gesicherter Waffe einen Laserstrahl abgeben um sich bemerkbar zu machen. Quasi als Ersatz für eine Leuchtrakete.“

Harnisch ging um das Lehrerpult herum, nahm seine HLP-9000 und hob sie mit ausgestreckten Armen in die Höhe. Dabei zeigte er mit dem Finger auf eine Stelle nahe dem Abzug.

„Schalten Sie den Sicherungshebel auf die Stellung >SOS<.“ Der Waffenmeister machte es den Schülern vor. Und schon haben Sie einen breiten und besonders leuchtstarken Laserstrahl. Damit können Sie sich, wenn Sie in die Luft schießen, kilometerweit bemerkbar machen. Verletzen oder gar töten kann man in der Stellung >SOS< nicht. Der Strahl ist nicht sehr heiß, sondern nur besonders hell.“

Im ganzen Klassenzimmer hörte man metallische Klickgeräusche, als die Schüler die Sicherungshebel ihrer Waffen einrasten ließen.

„Sie können die SOS-Funktion gleich einmal ausprobieren. Bitte richten Sie die Waffe an die Decke und zielen Sie keinesfalls auf einen Mitschüler. Ein Treffer kann die Augen blenden und im schlimmsten Fall sogar zur Blindheit führen“, forderte Harnisch die Schüler auf.

Darauf wurde es im Raum augenblicklich gleißend hell. Zahlreiche Laserstrahlen schossen kreuz und quer nach oben.

„Feuer wieder einstellen!“, befahl Professor Harnisch, nachdem sich die Aufregung über den SOS-Laser zu einem Gekreische gesteigert hatte und nur noch wild an die Decke geschossen wurde.

„Auf Grund der Blendwirkung kann der SOS-Strahl auch zur Verteidigung eingesetzt werden. Ich denke da zum Beispiel eher an die Abwehr von wilden Tieren, nicht so sehr an den Einsatz gegen Feinde.“

„Was passiert, wenn jemand die Waffe verliert oder sie ihm gestohlen wird?“, fragte Fiep und dachte dabei an Joe McCaffrey, der ja mit einer gefundenen HLP-9000 seine Hauskugel Pauli angeschossen hatte.

„Das ist nicht gut“, bemerkte Harnisch, „dann hat derjenige ein Problem. Er kann noch von Glück sprechen wenn die Waffe entsichert war, denn dann sendet sie ein ganz spezifisches Signal aus, das mit einem speziellen Ortungsgerät empfangen werden kann. Und zwar über viele tausende Kilometer. Wenn die Waffe gesichert war wird es schon wesentlich schwieriger, denn dabei wird kein Signal ausgesandt. Sollte die Waffe nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden auftauchen, so erfolgt eine Meldung an die Schulbehörde und der Betroffene muss, je nach Umständen des Verlustes, mit einer mehr oder weniger harten Strafe rechnen.“

Nächste Stunde war Astronomie bei Frau Dr. To-Pan angesagt. Sie löschte das Licht, öffnete ihren Overhead-Laptop und zauberte einen wunderschönen, dreidimensionalen Sternenhimmel in den Raum. Es war ein Nachthimmel, der auf den ersten Blick dem auf der Erde täuschend ähnlich sah und doch ein ganz anderer war:

Der Sternenhimmel von Alpha CMi IV.

Es entstand der realistische Eindruck als säße man irgendwo in der freien Natur und blickte hoch zum Firmament. Mit ein paar technischen Tricks verwandelte der Laptop das Klassenzimmer optisch in ein kleines, aber feines Planetarium.

„Hier seht ihr den Nachthimmel dieses Planeten. Wir befinden uns in den mittleren Breiten der nördlichen Hemisphäre und es ist zwölf Uhr nachts. Jahreszeitmäßig ist es Spätherbst“, begann Frau To-Pan mit ihren Ausführungen.

„Zum Unterschied auf der Erde werdet ihr hier einen Mond immer vergeblich suchen, es gibt nämlich keinen“, fuhr sie fort. „Dafür aber einige sehr markante Sterne und Planeten. Natürlich sehen wir hier vollkommen andere Sternbilder.“

To-Pan war im Dunkel des Raumes kaum zu erkennen, dafür war ihre Stimme umso deutlicher zu hören.

„Aber auch ohne Mond ist es ziemlich hell auf unserem Firmament. Die Ringplaneten Alpha CMi VIII bis XI sind die leuchtstärksten Objekte am Himmel.“

Mit einem kleinen Stift projizierte sie ein gelbes, pfeilartiges Gebilde in den Raum und zeigte damit auf die Sterne. Wie ein leuchtendes Insekt zuckte der Lichtpfeil über den künstlichen Sternenhimmel.

„Das hier ist Alpha CMi VIII“, erklärte To-Pan und der Pfeil blieb neben einem besonders auffälligen Stern stehen. „Er ist mit einer Magnitude* von -5,8 das hellste Objekt am Nachthimmel.“

Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Schüler an die Decke. Der Pfeil wechselte wieder seine Position und hüpfte zu einem weiteren sehr hellen Stern.

„Und dieser Stern hier ist dafür verantwortlich, dass ihr hier sitzt und euch ihn mit mir ansehen könnt. Wer weiß um welchen es sich handelt?“

Die vielen Gesichter, die sich auf diese Frage ratlos anblickten, waren nur ganz schemenhaft zu erkennen. Ein Arm fuhr in die Höhe. Er gehörte Klerila.

„Das ist der Stern Sonne“, sagte sie bestimmt. „Es ist der Hauptstern jenes Planetensystems, dem auch die Erde angehört, die wiederum Ursprung der Spezies Mensch ist.“

„Richtig, das hast du sehr schön gesagt“, lobte Frau To-Pan.

„Das ist der Stern Sonne. Wie redet denn die über unsere Sonne? Als wäre sie ein x-beliebiger Stern“, dachte Iwo entrüstet. Doch er tat Klerila Unrecht, denn sie war auf Alpha CMi VI aufgewachsen und natürlich war für sie deshalb Prokyon der Heimatstern und die Sonne eben nur ein x-beliebiger.

Frau To-Pan zeigte ihnen noch die wichtigsten Sternbilder und nannte ihre Namen. Da gab es keinen Großen Wagen oder einen Wassermann, sondern sie hatten so seltsam anmutende Namen wie: Großes Triebwerk, nördlicher Anti-G oder das Towozon.

„Dieses Gebilde wird euch sicher bekannt vorkommen“, sagte To-Pan und zeigte auf einen verwaschenen Fleck fast senkrecht über ihren Köpfen. „Es ist der Andromedanebel. Auf Grund seiner großen Entfernung von zirka 2,2 Millionen Lichtjahren sieht er natürlich komplett gleich aus wie von der Erde. Genauso groß und gleich lichtschwach. Auch unsere eigene Galaxis, die Milchstraße, bildet ein sehr ähnliches Band über den Nachthimmel; es liegt nur eine kaum erkennbare Spur tiefer.“

Die nächsten Wochen regierten Schularbeiten und Tests. Gerry hatte wegen Klerila vor Weihnachten kaum einen Kopf zum Lernen gehabt. Das hat sich in einigen Tests in Form eines „Nicht genügend“ ausgewirkt.

Jetzt hatte Lernen Vorrang. Da auch Klerila den Großteil ihrer Freizeit mit Pauken verbrachte (was Gerry ob ihres fotografischen Gedächtnisses als reine Zeitverschwendung bezeichnete), konnte er sich zur Genüge mit seinem Lehrstoff beschäftigen. Das Gute daran war, dass die Zeit bis zum Landausflug wie im Flug verging. Bei diesem Ausflug fuhren alle ersten Klassen mit einem großen Luftkissenboot, über Land um den großen See herum, nach Hydronia, einer Stadt am Ufer gegenüber der Hauptstadt. Zurück ging es dann über den See. Das Ganze sollte mit mehreren Aufenthalten an verschiedenen Orten eine Woche dauern.

Es war Dienstagabends als Gerry, Iwo und Max das Nötigste für den Ausflug in ihre Taschen packten. Am nächsten Morgen sollte es schon um 6 Uhr losgehen und deshalb wollten sie heute schon alles fertig haben.

„Nehmt ihr auch Handschuhe und Mütze mit?“, fragte Gerry, während er ein Uniformhemd fein säuberlich in seine Tasche legte.

„Ja sicher, Dr. Kaufmann meinte, dass die Temperaturen vor allem in den Nächten unter null Grad sinken werden“, antwortete ihm Iwo.

„Ich glaube nicht, dass wir uns irgendwann einmal während der Nacht im Freien rumtreiben werden“, sagte Gerry und hielt seine Handschuhe in den Händen. Er überlegte kurz und packte sie schließlich doch zu den anderen Sachen.

„Welche Lehrer werden uns den begleiten?“, wollte Max wissen. Dabei legte er eine dunkelblaue Wolldecke sorgfältig zusammen.

„Walter meinte, dass außer Dr. Kaufmann noch Silvano und Frau To-Pan dabei sind“, sagte Iwo.

„Super, wenn Dr. Kaufmann nicht zu lästig wird, dann werden das ziemlich lockere Tage“, scherzte Gerry.

Auch Iwo und Max waren mit der Auswahl der drei Lehrer zufrieden.

Als am nächsten Morgen ein schrilles Pfeifen die Stille im Zimmer jäh beendete und sich das Licht automatisch anschaltete, war Gerry sofort hellwach.

„Aufstehen Freunde!“, rief er. „Bewegt eure müden Knochen aus den Federn, heute geht’s auf große Fahrt.“

Langsam kroch Iwo unter der Decke hervor und blickte verschlafen auf seine Armbanduhr.

„Was für ein Wahnsinniger hat denn die Weckanlage auf fünf Uhr gestellt? Das ist eine grobe Verletzung der Menschenrechte“, beschwerte sich Iwo schlaftrunken.

„Na hör mal, um sechs Uhr ist Abfahrt und wir müssen auch noch frühstücken“, wies ihn Gerry zurecht.

„Ja schon, aber früh ist es trotzdem“, gab sich Iwo einsichtig.

Als Gerry, Iwo und Max in den Speisesaal kamen, saß Walter mit Klerila, Elli und Fiep bereits an einem Tisch.

„Hallo ihr drei!“, rief ihnen Walter entgegen. „Ihr könnt euch drüben beim Buffet schon mal bedienen und euch dann zu uns setzen. Ich habe noch etwas zu besprechen.“

Da die Küche erst um sieben öffnete, hatte man Wurst, Käse, Butter, Brötchen, Marmelade und vieles mehr an einem großen Tisch fein säuberlich zur freien Entnahme angerichtet. Die Freunde luden sich ordentlich davon auf ihre Teller und setzten sich danach zu Walter und den anderen an den Tisch.

„Seid ihr schon aufgeregt?“, fragte Walter in die Runde nachdem sie alle Platz genommen hatten. Elli zog die Mundwinkel nach unten und antwortete ihm als Erste:

„Nein, glaube ich nicht, denn ich freue mich schon voll auf den Ausflug.“

Auch die anderen schienen nicht sehr aufgeregt zu sein.

„Gut, dann wäre noch folgendes zum Ablauf des Tages zu sagen: Nach dem Frühstück begeben wir uns sogleich zur U-Bahnstation, wo ihr von Major Harnisch die Atemmasken und eure auf Stufe 5 gestellten Waffen bekommt. Von dort fahren wir bis zum Hafen am anderen Ende der Stadt. Hier befindet sich die Anlegestelle für Luftkissenboote. Die HokoTiR hat für den Ausflug eines der Boote gechartert.“

„Warum brauchen wir eine auf Stufe 5 gestellte Waffe? Haben wir irgendwelche Gefahren zu befürchten?“, unterbrach Iwo Walter.

„Na ja, nicht direkt, aber es leben allerhand wilde Tiere auf dem Planeten. Bis auf den Saurus Saccharosus sind sie zwar relativ klein, nicht viel größer als eine Katze, aber ein Großteil von ihnen sind Raubtiere und können einem schon gefährliche Bisswunden zufügen.“

„Und was ist mit diesem Saurus Saccharosus?“, fragte Max neugierig.

„Tja, mit dem Saurus Saccharosus ist es etwas anderes. Das ist ein wahres Monster, fünfzehn Meter hoch und an die hundert Tonnen schwer. Der seltsame Name rührt daher, dass das Tier eigenartiger Weise nicht wie herkömmliche Organismen zum Großteil aus Wasser besteht, sondern aus Zucker. Es ist vom Aussterben bedroht und deshalb selten anzutreffen. Es ist eigentlich ein friedlicher Pflanzenfresser, doch wenn es sich angegriffen oder sonst wie gestört fühlt kann es sehr ungemütlich werden“, warnte Walter die Freunde.

„Können wir gegen diesen Giganten mit unserer HLP-9000 auf Stufe 5 überhaupt etwas ausrichten?“, fragte Iwo zweifelnd.

„Töten wirst du ihn sicher nicht können, aber wenn du ihn im Bereich des Kopfes triffst, ist er vorübergehend außer Gefecht. Aber wie gesagt, diese Tiere sind sehr selten und es ist unwahrscheinlich, dass wir auf sie stoßen werden.“

„Und wo wird übernachtet? In einem Hotel?“, fragte Klerila mit erwartungsvollem Blick.

„Schön wär’s“, zerstreute Walter Klerilas Hoffnungen, „wir sind nur einmal in der Stadt Tepek im gleichnamigen Hotel einquartiert. Ansonsten schlafen wir an Bord des Luftkissenbootes und einmal sogar in einem Zeltlager.“

„Müssen wir deshalb unsere Waffen tragen, um das Lager vor wilden Tieren verteidigen zu können?“, erkundigte sich Elli etwas ängstlich.

„Nein, deswegen nicht. Das Lager wird von einem Strahlenschutzschild abgesichert, aber wir werden einen Orientierungslauf durchführen und da ist jeder auf sich alleine gestellt.“

„Bekommen wir denn nicht unsere Anstecker für den Schutzschild, so wie er im Zoo an Bord der Proconsul verwendet wird.“

„Sicher, aber es soll kein unnötiges Risiko eingegangen werden“, antwortete Walter Elli.

Wer den Zoo der Proconsul besuchte, bekam einen kleinen Sender in Form einer Anstecknadel. Dieser legte einen Strahlenschutzschild um seinen Träger. Diesen Schutzschild konnte kein Fremdkörper, außer einer Person die ebenfalls einen solchen Sender trug, durchdringen.

„Das ist schon okay, Walter“, meinte Iwo abwinkend, „ich persönlich fühle mich mit einer schussbereiten Waffe jedenfalls sicherer.“

Auch die anderen waren dieser Ansicht und stimmten Iwo zu.

„Die Anstecknadel bekommt ihr von Frau To-Pan an der U-Bahnstation und eure Waffen gebt bitte gleich nach dem Frühstück in Major Harnischs Büro ab“, ersuchte Walter seine Schützlinge. „Habt ihr sonst irgendwelche Fragen?“

Als keiner antwortete sagte Walter:

„Gut, dann machen wir es so wie besprochen und treffen uns an der U-Bahnstation.“

Er wischte sich mit einer Serviette den Mund ab, stand auf und verließ den Speisesaal.

Die Schüler der ersten Klassen standen mit ihren Ausbildern am Bahnsteig in Gruppen zusammen. Frau To-Pan verteilte die Anstecksender an die Gruppe von Walter.

„Bitte verwahrt die Sender an einem sicheren Ort, wo ihr sie nicht verlieren könnt. Wann sie anzustecken sind, wird rechtzeitig von uns bekannt gegeben“, bat sie die Kinder.

Die meisten gaben das Teil in ihre Geldbörsen. Kurz darauf bog ein kleiner Elektrowagen mit einem schrankförmigen Anhänger im Schlepp um die Ecke. Am Steuer saß Professor Harnisch.

„Vorsicht bitte!“, rief er.

Während das Gefährt zwischen den Schülergruppen anhielt, drückte der Professor zweimal kurz die Hupe.

„Sie bekommen jetzt Ihre HLP-9000 auf Stufe 5 gestellt und entsichert ausgehändigt. Bitte melden Sie sich, wenn ich Ihren Namen aufrufe und nennen Sie mir die Waffennummer“, forderte Harnisch die Schüler auf.

Mit einem sportlich-lässigen Sprung schwang er sich von dem Elektrowagen und öffnete das Handrolltor des Anhängers. Fein säuberlich aufgereiht steckten unzählige HLP-9000 in ihren Halterungen. Der Waffenmeister rief einen Namen auf und eine Schülerin meldete sich. Sie nannte ihre Waffennummer. Professor Harnisch hakte auf einer Liste die Nummer ab, holte die Waffe von der Aufhängung und rief den Nächsten.

Nach und nach leerten sich die Reihen mit den Waffen im Anhänger, bis schließlich Professor Harnisch: „Kadett Mayer!“, rief.

„Hier!“, meldete sich Gerry und hob seine Hand. „Nummer 079554“.

Professor Harnisch fuhr mit seinem Kugelschreiber die Liste von oben nach unten, hielt bei der genannten Nummer an und machte neben dem Vermerk A19 ein Häkchen. Dann wollte er Gerry seine Waffe geben, doch auf dem Platz A19 war keine.

„Moment mal“, sagte der Major, „Ihre Waffe ist nicht da wo sie sein sollte.“

Harnisch blickte noch einmal auf die Liste und dann suchend durch die Reihen der Pistolen. Da sich alle zum Verwechseln ähnlich sahen, konnte man, ohne auf die Nummer zu schauen, die Waffen nicht unterscheiden.

„Warten Sie bitte bis ich alle Waffen ausgegeben habe. Ihre müsste dann eigentlich übrig bleiben. Weiß der Kuckuck warum sie nicht auf ihrem Platz ist“, bat Harnisch Gerry.

Die Schüler nahmen die Waffen und steckten sie in ihre Brusthalfter.

„So, das müsste jetzt die Ihre sein, Kadett Mayer“, sagte Professor Harnisch, nachdem nur noch eine HLP-9000 einsam in einer der Halterungen steckte. Er nahm sie heraus und kontrollierte die Nummer.

„Ja, 079554, bitte schön.“

Gerry nahm die Waffe entgegen und steckte sie in den Halfter.

Professor Harnisch zog das Handrolltor wieder herunter und ging zur anderen Seite des Anhängers. Dort öffnete er abermals ein Rolltor und stellte einen großen Karton heraus auf den Boden. Mit seinem Fingernagel ritzte er das Paketband auf, mit dem der Karton zugeklebt war.