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Titelseite

Inhalt

Kapitel 1 – Es war sieben …

Kapitel 2 – Am folgenden Morgen …

Kapitel 3 – Als wir am …

Kapitel 4 – Wir liefen durch …

Kapitel 5 – Nach dem Essen …

Kapitel 6 – »Hey, was ist …

Kapitel 7 – Wir blieben noch …

Kapitel 8 – »Guck mal, sind …

Kapitel 9 – Endlich lichtete sich …

Kapitel 10 – Als ich wieder …

Kapitel 11 – Ich wachte auf, …

Kapitel 12 – Während wir den …

Kapitel 13 – Nach einem Umweg …

Kapitel 14 – Ich war nach …

Kapitel 15 – »Wir trampen.« Lotti …

Kapitel 16 – Wir beschlossen, bis …

Nachwort

 

 

Für Wolfgang, der auch die tiefsten Täler mit mir durchwandert.

»Solange ich lebe,

geb ich das Beste.

Kein Weg ist der falsche,

ein Baum hat viele Äste.«

Groom

1

Es war sieben Uhr morgens und ich fühlte mich scheiße. Wie immer, wenn ich aufwachte und mir klar wurde, dass ein neuer Tag anbrach, durch den ich mich schleppen musste. Mein Vater schnarchte nebenan, obwohl Max und Milan in der Küche Kein Problem von Apache 207 in voller Lautstärke laufen ließen und mitgrölten. Wie waren die nur aus dem Bett gekommen?

Ich hatte das Gefühl, mein Körper würde eine Tonne wiegen, und stellte mir vor, wie Mama Herrn Balzer anrufen und sagen würde: »Tut mir leid. Jakob kann heute nicht kommen. Er ist zu schwer, um aufzustehen.« Ein guter Witz. Ich war lang und dünn wie eine Brechstange und hatte manchmal das Gefühl, von meinem Vater und den Zwillingen erdrückt zu werden, wenn wir uns gleichzeitig in einem Raum aufhielten. Ich kam mehr nach Mama, die allerdings gar keine Gefahr lief, erdrückt zu werden, weil sie fast immer arbeitete und kaum zu Hause war. Höchstens am Abend. Aber da saßen alle anderen an ihren PCs oder vor dem Flatscreen, für den mein Vater den alten Golf verkauft hatte. Mama wollte ihn noch fahren, aber er meinte, sie könne ja auch die U-Bahn nehmen. Und dann hat er ihn einfach verkauft und am nächsten Tag wurde das Monstrum geliefert, das fast die gesamte Wohnzimmerwand ausfüllt.

Ich schob ein Bein unter der Bettdecke hervor, als Aufsteh-Intro sozusagen. Aber als ich die vielen Beinhaare sah, deprimierte mich das so sehr, dass ich es gleich wieder einzog. Yeti wurde ich deshalb in der Schule genannt. Nur wegen dieser kack Haare. Klar, ich könnte sie einfach abrasieren. Aber das würde doch nichts ändern. Einmal Yeti, immer Yeti. Dann wäre ich eben ein rasierter Yeti.

»Hey, Kleiner, die Küche ist frei. Kannst dich ausbreiten.« Milan steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Und sorry, hab leider dein Handtuch erwischt.« Er lachte sich schlapp, während er mein nasses Handtuch auf die Bettdecke warf.

»Beeil dich lieber, bevor Pa aufwacht!«, brüllte Max aus dem Flur. Die Garderobentür knallte. Gleich darauf die Wohnungstür. Und dann war es ruhig. Zu ruhig. Das vertraute Schnarchen war verstummt.

»Verdammtes Pack! Was ist denn das für ein Lärm, mitten in der Nacht?«, donnerte mein Vater los.

Jetzt ging es plötzlich mit dem Aufstehen. Ich huschte lautlos ins Bad und schloss die Tür hinter mir ab.

Fünf Minuten zu spät war ich in der Schule. Alles Taktik. Dann waren die Idioten schon drin. Über den Unterricht gab es nicht viel zu sagen. Öde, überflüssig, nervig. Und viel zu lang. Aber heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien. Nach der dritten Stunde war Schluss. Den Umschlag mit dem Zeugnis machte ich gar nicht erst auf. Der Weg nach Hause verlief ohne Zwischenfälle. Ich warf mich auf den quietschenden Stuhl vor meinem PC, setzte die Kopfhörer auf … und konnte endlich abtauchen.

Groom war stark, sehr stark. Arme wie Brückenpfeiler, eine goldene Mistgabel als Waffe und eine Schubkarre als Schild. Zusammen mit Justus alias Kellog fegten wir die Lane entlang, in der wir auf ein Dutzend Gegner trafen, und zerlegten alle, die sich uns in den Weg stellten.

»Hey, du Penner.« Max rammte mir fast die Tür in die Seite. »T-E-L-E-F-O-N.«

Ich zuckte zusammen. »Für mich?«

»Ich versteh’s auch nicht.« Er grinste, schob mein Headset an einem Ohr zur Seite und hielt mir den Hörer hin. »Und noch dazu von einer Sie

Sofort klopfte mein Herz wie wild und ich bekam feuchte Hände. Mit der rechten umklammerte ich die Maus.

»Was ist los?« Justus brüllte in mein eines Ohr, während Max immer ungeduldiger wurde und mir den Hörer ans andere hielt.

»Hey, soll ich auflegen oder was?«

Ich nickte.

»Geht’s noch? Du gehst da jetzt schön ran.« Er presste mir den Hörer ans Ohr, während Groom im Sturm des Kampfes reglos auf meine Befehle wartete.

»Mann, komm schon!« Justus, rechts.

»Hi.« Eine sehr warme, weibliche Stimme, links. »Bist du das, Jakob?«

»Wenn du jetzt nicht gleich den verdammten Hörer nimmst, dann sag ich der Ische, dass du dir gerade einen runterholst.«

»Hier ist Lotti«, sagte das Wesen aus einem anderen Universum.

Während ich mit der rechten Hand noch immer die Maus umklammerte, zwang ich die linke, sich zu heben und den Hörer zu nehmen.

»Mann, Alter, bin ich dein Diener oder was?« Max haute mir auf den Hinterkopf und stob aus dem Raum.

»Jaaakooob! Verdammt. Was ist looos?« Justus brüllte mir so laut ins Ohr, dass ich die Maus ruckartig losließ und sie über die Tischkante in die Tiefe stürzte, soweit es das Kabel zuließ – wie ein Bungee-Jumper. Groom war inzwischen fast tot. Gerade mal drei Leben blieben ihm noch.

»Jakob?« Lottis Stimme hauchte gegen das Gemetzel an. Ich bekam kaum Luft, als würde ich die Schläge von Brigan, dem Hüter von Desert Hole, tatsächlich abbekommen.

»Ja«, würgte ich endlich hervor.

»Ah, gut. Also, wie gesagt, hier ist Lotti aus der 10a.«

Lotti aus der 10a? Doch nicht die Lotti?

Mir rutschte fast der Hörer aus der Hand, so feucht war meine Handfläche inzwischen. »Ja.«

Sie lachte. Warum lachte sie denn jetzt? »Ja?«, wiederholte sie. »Heißt das, du weißt, wer ich bin?«

»Ja.« Mein Gott. Ich war der dämlichste Idiot unter der Sonne. Warum konnte ich nicht einfach sagen: Klar weiß ich das. Du bist ja Schulsprecherin und warst mal ein paar Tage in unserer Klasse. Wir sind uns doch auch letztens vor dem Schwimmbad begegnet, als ich dir deine Tasche gebracht habe, die du vergessen hattest. Stimmt’s?

Aber es ging einfach nicht. Auch damals hatte ich mich wie ein Idiot benommen, rumgestottert, als sie mich etwas fragte, und sie ansonsten dämlich angestarrt, was uns jetzt wenigstens erspart blieb. Und es hatte ewig gedauert, bis ich mich an meinen Namen erinnerte. Dabei kannte sie ihn längst. Und als ich das wusste, konnte ich an nichts anderes mehr denken als daran, woher sie ihn kannte.

Noch schlimmer war gewesen, dass ich die ganze Zeit über befürchtete, sie könnte merken, dass ich sie toll fand. Und nicht nur toll. Ich fand sie unglaublich. Lotti war wie ein Sonnenstrahl, der sich den Weg durch eine immer schwarze Wolkendecke brach und mich blendete, mich noch mehr darauf hinwies, wie kläglich mein eigenes Dasein war. Aber von Lotti gesehen zu werden, war wie eine Aufwertung meines eigenen Lebens. Denn so bekam ich einen Funken ihres Glanzes ab.

Sie hatte unsere Klasse besucht, weil sie eventuell ein Schuljahr überspringen wollte. Sie wusste alles, wenn sie aufgerufen wurde. Dennoch war sie nach ein paar Tagen kommentarlos wieder verschwunden. Herr Balzer sagte uns nur, es habe sich erledigt, und ging schnell zum normalen Unterricht über. Während ich noch lange der verpassten Chance nachtrauerte, mich nun fast täglich an Lotti glücklich zu sehen, die mir in diesen Tagen mit entwaffnender Offenheit begegnet war und sich nicht von der Meinung anderer hatte beeinflussen lassen. Beinahe fiebrig hatte ich mich danach gefragt, wie ich es schaffen könnte, trotzdem in ihrer Nähe zu sein. Am besten von morgens bis zum Abend. Ohne in Ohnmacht zu fallen. Und nicht nur in meinen Gedanken.

»Jakob? Bist du noch dran?«

»Ja.« Woher hatte sie meine Nummer?

»Du sprichst doch Deutsch, oder?« Ich hörte sie wundervoll lachen.

»Ja.« Von der Klassenliste. Natürlich. Ich musste unbedingt etwas sagen … unbedingt. Nur was?

»Verdammt. Jetzt hast du es verbockt. Fuck!« Justus klinkte sich aus. Wir waren beide gestorben.

»Also gut«, sagte Lotti, »ich hoffe mal, meine Message wird dich erreichen. Ich hab ein … hm … sagen wir mal, ein Kästchen von dir.«

Ein Kästchen? Ich griff sofort in meine Schultasche und wühlte wie wahnsinnig darin herum. Sie war weg. Meine Notfallbox war weg!!!

Mein Kopf schwoll an und wurde fiebrig heiß. Hatte sie etwa hineingesehen? Na klar hatte sie das. Woher sollte sie sonst wissen, dass es meine Box war. Verflucht. Ohne weiter nachzudenken, drückte ich sie weg. Und dann schossen mir Tränen ins Gesicht und ich kauerte mich zitternd auf meinem Bett zusammen. Ich würde ihr nie wieder unter die Augen treten können. Nie wieder.

»Was is’n nu los?« Max und Milan stürmten in mein Zimmer und warfen sich neben mich aufs Bett. »Du flennst doch nicht etwa?«

»Hat die Ische dir gesagt, was für ein Penner du bist?« Max und Milan schlugen ein.

»Wenn das die Lotti war, Schulsprecherin Lotti, dann drück ich sofort die Rückruftaste.« Max wedelte mit dem Telefon herum. »Die ist ein echtes Sahnetörtchen.«

»Ganz genau und das kann man ja nicht alleine verdrücken.« Milan machte eindeutige Bewegungen mit dem Unterleib. Das Telefon in Max’ Hand klingelte. Die beiden hielten inne, sahen sich triumphierend an und Milan strich sich die Haare glatt, als könnte Lotti ihn sehen. Dann drückte Max die Telefontaste und stellte auf Lautsprecher.

»Ja, bitte?«, sagte er gespreizt und grinste Milan an. »Wer ist da?«

»Jakob, bist du das? Die Verbindung war plötzlich unterbrochen.«

Lotti. Lotti. Lotti. Ich konnte nichts anderes denken.

Max und Milan kloppten mir in die Seite und blickten mich an, als hätte ich einen an der Waffel. Hatte ich ja wahrscheinlich auch.

»Oh, hallo, Lotti.« Max sprach so gestelzt sanft, dass es unerträglich obszön klang. »Schön, dass du noch einmal anrufst. Jakob kann gerade nicht. Ich bin Max, der ältere Bruder.«

»Einer der älteren Brüder«, fiel Milan ein.

»Oh, hi«, sagte Lotti. »Wann kann Jakob denn wieder?«

»Ich weiß nicht, ob er überhaupt kann.« Max und Milan brüllten vor Lachen. Und nun legte Lotti einfach auf.

Meine Brüder warfen das Telefon neben mich aufs Bett und standen auf. »Du bist so eine Flasche. Nicht mal mit der Ische telefonieren kannste.« Und weg waren sie.

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, klingelte das Telefon ein drittes Mal. Auf dem Display stand dieselbe Nummer. Lotti. Ich ließ es ewig klingeln. Bis Milan an die Tür polterte und schrie, er würde gleich rangehen, wenn ich es nicht täte. Da drückte ich doch noch auf den Knopf.

»Jakob?«

»Ja.«

»Ah, gut. Du bist dran. Deine Brüder sind nicht sehr nett.« Da hatte sie allerdings recht. »Ich wollte dir noch sagen, dass das eine tolle Idee ist, also das mit diesen Sätzen. Ich musste sie ja lesen, um herauszufinden, wem das Kästchen gehört. Also, jedenfalls hast du mich damit auf eine Idee gebracht. Danke.«

Ich hatte sie auf eine Idee gebracht. Das war doch etwas Gutes, oder? Ich musste das erst mal sortieren in mir drin. Sie hatte Danke gesagt. Sie fand es eine tolle Idee. Ja, das war eindeutig etwas Gutes. Wenn sie sich nicht über mich lustig machen wollte.

»Jakob. Hör mal. Ich weiß, das klingt jetzt wahrscheinlich völlig verrückt, aber … du bist meine letzte Hoffnung.«

»…«

»Jakob?«

»Ich … also … ich, eine Hoffnung?« Boooaaah. Ich war echt ein absoluter Vollidiot. Shit! Meine Hände zitterten, während ich gegen den Drang ankämpfte, Lotti abermals wegzudrücken. Sie lachte schon wieder. Es klang so wundervoll, dabei hatte ich nicht den leisesten Schimmer, warum sie lachte. Konnte nicht mal bitte jemand reinkommen und mir erklären, was hier vorging und was ich nun tun sollte? Ich schaffte es nicht. Es ging einfach nicht.

»Klingt ja auch komisch«, sagte Lotti da. »Können wir uns vielleicht kurz treffen? Ohne deine Brüder? Wie wäre es in 20 Minuten im Fischi

»Ich …« Verdammt, Jakob, sag es!!! Jetzt sag es doch einfach. Ich öffnete die oberste Schreibtischschublade und blickte auf einen Zettel, der dort für Notfälle bereitlag: Es kann dir nichts passieren!, stand darauf. So ein Quatsch! Es konnte sogar ganz furchtbar viel passieren. Zum Beispiel könnte Lotti mich für einen Schlappschwanz halten und mich nie mehr sehen wollen. Sie könnte denken, dass ich ein Irrer war und es den anderen erzählen, die mich dann fertigmachten. Sie könnte … STOPP! Ich musste jetzt sofort etwas sagen. »Ja.«

»Super«, antwortete Lotti sofort. »Bis gleich!« Sie legte auf.

OH MEIN GOTT!!! Ich hatte Ja gesagt. Im Fischi. In 20 Minuten! Und ich war noch nicht mal geduscht. Mein Fahrrad hatte einen Platten. Meine Haare waren fettig. Und auf meinem Kinn leuchtete ein Pickel. War ich eigentlich noch ganz dicht? Was zur Hölle sollte ich jetzt tun? Ich schwitzte wie verrückt. Wieder klingelte das Telefon. Erleichtert ging ich ran. Na klar, sie wollte mir absagen, hatte mich durchschaut und kapiert, dass Jakob und Hoffnung nicht zusammenpassten.

»Okay, Lotti, macht nichts.«

»Was? Sag mal, Alter, was ist los?« Justus brüllte in den Hörer. »Gehst nicht mal ans Handy!« Ich riss ihn vom Ohr weg. »Ist dir klar, dass wir gerade vorn lagen?«

»Hör mal. Ich erklär es dir später. Kann gerade nicht.« Eine Standpauke hatte mir jetzt noch gefehlt.

»Später? Warum nicht jetzt?«

»Ich bin verabredet.«

»Du? Mit wem?«

»Justus. Später. Okay?«

»Gut. Aber dann will ich alle Details wissen. Das bist du mir schuldig.«

»Mann, ich ruf dich an.« Ich schmiss das Telefon aufs Bett, stürmte ins Bad, duschte eine Minute, fand mein Handtuch nicht – ach ja, war ja in meinem Zimmer –, nahm das von Max, sprang nackt durch die Wohnung, begleitet von Milans Gejohle, Hulk-Hoden auf einsamer Mission!, fasste meine nassen Haare mit einem Gummi zusammen, zog meine besten Jeans an, ein einfaches weißes T-Shirt und klaubte in der Diele den Fahrradschlüssel von Max’ Rad aus seiner Jackentasche.

Als ich auf der Straße war, hatte ich noch knapp fünf Minuten. Das Fahrrad war mir zu klein. Trotzdem schwang ich mich in den Sattel und raste los. Am Altonaer Rathaus bremste ich wie ein Bekloppter ab und suchte in meinem Hirn nach einem Ausweg. LOTTI. Gleich. Im Fischi. Da könnten noch andere aus der Schule sein. Ich könnte wieder Panik bekommen. Was, wenn ich kein Wort rausbrächte, wenn ich rot anliefe, schwitzte, vielleicht sogar umkippte?

War schon mal vorgekommen. Genau hier, in diesem Park. Damals hatte mir ein hübsches Mädchen aus der Schule gesagt, dass es meine Augen so schön fände. Als ich daraufhin rot anlief, stürzten seine Freundinnen aus einem Gebüsch wie ein Überfallkommando und lachten sich schlapp. Ich hatte das Gefühl, anzuschwellen wie ein abgeknickter Gartenschlauch, in den mit Hochdruck Wasser einschießt und sich aufstaut. Alles Blut schien in meinen Kopf zu strömen. Mein Puls verdreifachte sich und schlug Purzelbäume, mir blieb die Luft weg, als hätte jemand den Sauerstoff abgedreht. Und so sackte ich direkt vor den Mädchen auf den Boden, klappte meinen Mund auf und zu wie ein Fisch auf dem Trockenen und dachte, ich müsste sterben. Gerade mal 14 und schon dahingerafft von einem Herzinfarkt oder so was. Die Mädchen rannten erschrocken weg.

Ein Vater mit zwei kleinen Kindern kam vom Spielplatz herüber und half mir auf eine Bank. Kurz bevor er einen Krankenwagen holen wollte, wurde mir klar, dass ich nicht krepierte. Er bestand darauf, meine Eltern zu informieren, und rief meine Mutter an, die viel Ärger auf der Arbeit bekam, weil sie alles stehen und liegen ließ, um zu mir zu eilen. Als sie eintraf, hatte sich mein Zustand normalisiert. Dafür plagte mich lange ein schlechtes Gewissen. Der Fischi war seitdem ein Ort wie Desert Hole in Shift of Power, ein verfluchter Ort, der gemieden werden sollte, weil es dort Dämonen gab, die einem auflauerten und heimtückisch Leben klauten.

Noch drei Minuten. Ich könnte Lotti anrufen und … Nein. Ich hatte ihre Nummer nicht aufgeschrieben. Ich könnte sie versetzen. Nein. Das machte die Sache nicht besser. Ich musste mich mit ihr treffen. Meine Box. Jetzt könnte ich sie gebrauchen.

Wie ein geprügelter Hund legte ich die letzten 300 Meter zurück, stieg ab, machte das Rad am Zaun fest und schlich in den Fischi, den Park, in dem man sich traf. Doch wo genau? Wir hatten keinen Ort ausgemacht. Am Fußballfeld? Am Spielplatz? An der Graffiti-Wand? Oder auf der Wiese? Ich spähte vorsichtig in alle Ecken, als würde ich nach einem lauernden Wolf Ausschau halten, der mich gleich anfallen könnte.

»Hi.«

Ich fuhr zusammen. Lotti stand urplötzlich direkt neben mir. Sie atmete schnell. Ich schneller.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Hat etwas länger gedauert.«

»Ich auch. Also, bin auch gerade erst gekommen.«

»Dann ist ja gut.« Sie lächelte. Oh mein Gott. Sie lächelte so zauberhaft, dass ich ein wenig zu schweben begann. So fühlte es sich jedenfalls an.

Aber gleich darauf schlug ich wieder auf dem harten Boden der Tatsachen auf. Sie sah an mir vorbei und grüßte jemanden. Ich drehte mich um. Keil grüßte zurück. The-one-and-only-immer-der-Tollste-und-Beste-Keil. Er drückte auf einer Bierdose herum, die metallisch knackte, und blickte mich verwundert an. »Yeti, haste was verloren?«

»Ja«, sagte Lotti, bevor ich meine Stimme wiederfinden konnte. »Und ich hab’s gefunden.«

»Na, da hatter aber Glück gehabt.« Er kam zu uns. Fuck. Seine blonden Bürstenhaare standen starr von seinem Kopf ab, seine Oberarme waren so muskulös, dass das schon etwas ältere Wildschweintattoo auf seinem Bizeps inzwischen wie ein fettes Hängebauchschwein mit riesigen Hauern aussah. »Bestimmt seine Brotbox.« Er lachte. Sein Atem roch nach Bier.

»Nein.« Lotti lächelte ihn entspannt an.

»Okay.« Keil schob sich vor mich und damit ganz nah an Lotti. »Dann vielleicht einen Rasierer?« Er grinste sie an und beachtete mich gar nicht mehr. Dabei sprach er immerhin über mich. In meiner Birne sammelte sich schon wieder alles an Blut, das irgend zur Verfügung stand. Wenn sie es ihm sagte … Das wäre der Super-GAU. Ich schwitzte.

»Keili, dein Interesse für Jakob ist ja sehr ehrenwert, aber mal ehrlich: Es geht dich nichts an. Also zieh Leine.«

Keili blieb einen Moment lang reglos stehen. Dann drehte er sich langsam zu mir um und all die Verachtung für mich schien sich in seinen Augen zu bündeln, mit denen er mich fiebrig fixierte. Da war er, der Wolf, vor dem ich mich gefürchtet hatte. »Yeti, Yeti, das ist gar nicht gut für dich.« Er schob seine Bierdose in meinen leicht geöffneten Rucksack, bedeutete mir mit Zeige- und Mittelfinger, dass er mich im Auge behalten würde, und ging.

»Vergiss den Idioten«, sagte Lotti. »Der muss auf dicke Hose machen, sonst fällt seine ganze schöne Fassade zusammen. Puff.« Sie lächelte.

Das klang so einfach. Es war offensichtlich, dass die Dinge in Lottis Welt anders liefen als in meiner. Für mich war Keil eine Bedrohung, für Lotti Keili, ein nicht ernst zu nehmender Chauvi. Dazwischen war ein Graben, tief wie die Gletscherspalte in Shift of Power, die einst das Reich der Rattleskins auseinanderriss.

»Also.« Sie zog meine Box aus ihrer Tasche. »Hier.« Sie tat so feierlich. Als würde sie mir gerade einen Verdienstorden überreichen. Dabei hatte sie mit dem Öffnen der Box tief in meine marode Seele geblickt. Ich nahm sie schnell entgegen und versenkte sie beschämt in meinem Rucksack. Der tropfte. Shit. Keils Bierdose. Sie war noch voll gewesen.

»Oh nein«, sagte Lotti, »das tut mir leid. So ein Arsch. Dem werd ich noch was erzählen.«

»Bitte nicht«, krächzte es aus mir heraus. Ich wusste, was das bedeuten würde … An Lotti würde der Keiler, wie er sich selbst getauft hatte, seine Wut bestimmt nicht auslassen. Lotti sah mich an. Dabei blickte sie milde wie meine Mutter, wenn mein Vater mich mal wieder angebrüllt hatte. Fehlte nur noch, dass sie mich in den Arm nahm und tröstete. Hilfe! Ich sog tief Luft in die Lungen ein und verzog meine Mundwinkel zu einem krampfhaften Lächeln.

»Es bringt nichts.«

»Hm … vermutlich hast du recht. Bei dem hilft nur ein Vorschlaghammer.« Oder eine Mistgabel und ein Schild, groß wie eine Schubkarre. Groom würde diesen Keil zerlegen wie ein Filet. Zack! Zack! Zack!

»Alles klar?« Lotti blickte auf meine verkrampften Hände, die gerade schwere Waffen umklammerten.

»Ja. Alles klar.« Hey. Es schien tatsächlich alles gerade mehr oder weniger klar zu sein. Ich konnte mit ihr reden. Das war eine Sensation. Ich würde mich noch ein bisschen weiter vorwagen: »Und bei dir?«

»Auch.« Sie lächelte wieder so umwerfend. Ich musste aufpassen. »Sag mal …«

»Ja?« Entspann dich, Jakob. Entspann dich!

Lotti räusperte sich.

»Ich möchte zum Château. Da mache ich einen Erholungsurlaub.« Sie sah mich an, als wäre damit alles gesagt. Aber ich verstand nichts.

»Okay.«

»Das Château ist ’n Stück weg und ich möchte dorthin wandern.«

»Okay.«

»Meine Mutter erlaubt mir das aber nicht.«

»Oh.«

»Außer es kommt jemand mit, der mich beschützen kann.« Sie zog die Augenbrauen hoch und nickte mir zu. Nein! Sie meinte doch nicht etwa mich? Mitkommen? Beschützen? Das war zu absurd. Bisher wurde mir immer nur signalisiert, dass ich beschützt werden musste. Ein Supporter war ich nur in Shift of Power. Aber im wirklichen Leben? Unmöglich. Mit welchen Waffen sollte ich sie verteidigen? Wogegen überhaupt? Und warum zur Hölle denn eigentlich ich? Lottis erwartungsvoller Blick wandelte sich in einen Ausdruck purer Enttäuschung.

»Du willst nicht.« Sie blickte an mir vorbei. Ich drehte mich automatisch um und sah Keil auf dem Spielplatz, wie er an einem Reck Klimmzüge machte.

»Warum ich?«

Sie lächelte. »Weil du perfekt dafür bist.«

»Ich?«

»Ja. Du. Also, kommst du mit?«

»Äh … klar. Na sicher. Ich komm mit. Perfekt ist zwar irre, aber egal.« In meiner Brust brach gerade ein Vulkan aus. Ich versuchte, eher nach Eisblock auszusehen, und krampfte eine Hand um den dünnen Ast eines Bäumchens neben mir. »Okay, können wir machen.« Ich richtete mich auf, schob die Schultern nach hinten und scannte die Umgebung, als würde ich mit Adleraugen die Bedrohungslage einschätzen, um Lotti notfalls vor allem Bösen dieser Welt zu schützen. Es sollte entspannt wirken. Der Ast brach ab.

Lotti lachte wie verrückt. »Du bist so lustig. Das wird eine spaßige Wanderung.«

Lustig? Ich? Das war absurd. Mich hatte noch nie irgendjemand lustig gefunden. Höchstens peinlich. Sie blickte mich durchdringend an. »Das meine ich ernst. Ich hab schon lange nicht mehr so viel Spaß gehabt. Danke.« Dann drehte sie sich um, dass ihre langen Haare nur so flogen, und rief im Weggehen: »Morgen um acht am Stromkasten, Ecke Bornstraße. Schlafsack nicht vergessen! Ein Zelt bringe ich mit.« Und weg war sie. Wahnsinn!

ICH, mit LOTTI, in EINEM Zelt, auf WANDERUNG. MORGEN? Der absolute Wahnsinn! Endlich passierte etwas. Ich würde für eine Weile meinem beschissenen Leben entkommen und dabei auch noch in Lottis Nähe sein! Danach hätte ich vielleicht endlich eine Geschichte, an die ich mich gern erinnerte. Etwas, an dem ich mich aufrichten könnte, wenn alles andere zu deprimierend war.

Ich raste nach Hause, wühlte die Schränke durch, fand einen alten, leider nach Hasch miefenden Schlafsack, sprühte ihn mit Fichtennadelspray ein, stopfte ihn, zusammen mit ein paar Klamotten, Geld und meinem Opinelmesser, in einen siffigen Armeerucksack, den Max auf dem Flohmarkt gekauft hatte, und schob alles unter mein Bett. Jetzt bloß keine Aufmerksamkeit erregen und schlafende Hunde oder Brüder wecken! Das bescheuerte Praktikum, das mein Vater mir für die Sommerferien in einem Boxstudio organisiert hatte, »ohne Widerrede … ist ein guter Kumpel, bei dem ich noch was guthatte … vermassel es bloß nicht …«, würde ich nun also leider nicht antreten können. Was für ein Jammer! Ich legte einen Zettel auf den Tisch mit der Botschaft: Mein Kumpel Justus wohnt in der Nähe des Studios. Ich werde die nächste Zeit bei ihm pennen. Bis denne, Jakob. Nur Mama schickte ich zusätzlich eine Nachricht: Sag Vater nichts. Ich geh nicht zu dem Boxer. Ich mach eine Art Sozialpraktikum und begleite jemanden, der nicht allein reisen will. Ich hab dich lieb. Jakob.

2

Am folgenden Morgen ging das Aufstehen zum ersten Mal seit Wochen ganz leicht. Noch vor den Zwillingen war ich in Bad und Küche fertig und warf die Tür ins Schloss, als bei Mama gerade erst der Wecker klingelte. Ich fühlte mich großartig wie lange nicht, hüpfte die Stufen im Treppenhaus hinunter und pfiff der aufgehenden Sonne ein Liedchen entgegen.

Ich war natürlich viel zu früh am Stromkasten. Lotti war noch nicht da. Und je länger ich wartete, desto sicherer war ich, dass sie gar nicht kommen würde. Ich setzte mich auf den Bordsteinrand und sackte von Minute zu Minute mehr in mich zusammen. Na klar, dachte ich, war alles bloß ein Witz! Wie hatte ich nur glauben können, dass sie tatsächlich mit MIR auf Wanderschaft gehen würde. Es kam mir plötzlich so absurd vor, dass ich mir selbst gegen die Stirn schlug. Ich hatte es einfach glauben wollen. Schon die Vorstellung an den gemeinsamen Weg hatte mich in Euphorie versetzt wie eine Droge. Nun war die Wirkung dieser Droge abgeklungen und die brutale Wirklichkeit baute sich vor mir auf wie eine dunkle Mauer, die ich niemals überwinden würde. Alles Schöne, das mich durch meine Träume begleitet hatte, verpuffte und hinterließ einen Krater in meiner Brust, die sich so sehr um dieses Nichts zusammenkrampfte, bis ich kaum noch atmen konnte. Ich japste wie ein Ertrinkender und riss mir das Shirt hoch, um mir damit Luft zuzufächeln.

»Alles in Ordnung, junger Mann?« Ich fuhr herum. Eine Oma, die einen Rollator vor sich herschob, war neben mir stehen geblieben. Es ist nur eine alte Frau, versuchte ich, mich verzweifelt zu beruhigen, aber es half einfach nichts. Sie stand viel zu nah. Und sie sah mich, in all meinem Leid und meiner Verzweiflung, um Luft ringend. Das war zu viel. Ich wich vor ihr zurück, drückte mich an den Stromkasten, hatte Schweißperlen auf der Stirn.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie ich sie an.

Kopfschüttelnd schlich sie vorbei, drehte sich noch ein paarmal um und verschwand schließlich hinter der nächsten Straßenecke.

Ich sackte endgültig in mich zusammen und weinte. Wo sollte ich jetzt bloß hin?

»Sorry, musste noch meine Mutter abschütteln.« Lotti stand plötzlich vor mir. »Hey, alles klar?«

Ich starrte sie schweigend an. Sie war da. Lotti war tatsächlich gekommen. Ich brachte kein Wort heraus, sah bestimmt völlig irre aus, wie ich an den Stromkasten gedrückt dasaß, nass vor Schweiß und mit aufgerissenen Augen.

Aber Lotti lächelte. »Gut, dass du mich begleitest«, sagte sie. »Du bist mein Passierschein.« Sie grinste. »Ist hoffentlich okay. Meine Mutter wollte mich nicht gehen lassen, hat immer wieder gesagt, sie wolle mich lieber selbst zum Château fahren. Erst als ich ihr versichert habe, dass mich ein starker Mann begleitet, der gut im Boxen ist«, Lotti grinste schon wieder, »hat sie sich etwas beruhigt. Aber sie wollte unbedingt deine Nummer. Ich meine, immerhin bist du ein Kerl, und vor denen muss ich ja beschützt werden.« Sie zwinkerte mir zu. »Sie kennt deine Mutter aus den KEVs, weil beide Elternvertreterinnen sind. Das war dann der Punkt, an dem sie aufgegeben hat. Endlich! Gut, meinte sie, dann ist das wohl in Ordnung. Sie weiß, dass ich nicht mehr umzustimmen bin, wenn ich mir erst mal was in den Kopf gesetzt habe. Die Nummer von deiner Mutter hat sie sich eingespeichert. Ist doch okay, oder? Also wenn sie da mal nachfragt.« Lotti sah mich an mit ihren umwerfend schönen Augen. Ich brachte immer noch kein Wort heraus. Meinte sie etwa mich mit dem starken Mann? Oder war das Ganze doch ein nicht enden wollender Witz?

»Hey, Jakob, was ist? Du bist ja ganz verschwitzt.«

»Bin gerannt«, log ich.

»Dann bist du also auch noch nicht lange da.« Ich schüttelte den Kopf. »Du, ich hab ein bisschen viel Gepäck mit dem Zelt und so …«

Ich konnte nicht anders, als sie einfach anzustarren. Mein Hirn entleerte sich in Lichtgeschwindigkeit. Es war nichts mehr drin. Totales Vakuum.

Lotti lachte. »Du guckst wie so ein Irrer, der gerade aus der Anstalt entflohen ist.«

»Ja«, sagte ich wenig geistreich.

»Wie bitte? Ja?«

»Nein, meine ich. Natürlich. Also, wegen der Anstalt. Nein.« Lotti bekam wieder einen ihrer erfrischenden Lachanfälle. Aber diesmal wusste ich nicht, ob das gut war.

Dann drehte sie sich um und zeigte mir ihren vollgestopften Rucksack, an dem eine Tasse und ein paar Flipflops baumelten. »Das Zelt ist echt schwer.«

»Kann ich doch nehmen!«, rief ich etwas zu begeistert in den jungen Morgen. Sie meinte es DOCH ernst!

»Gut«, sagte sie, ließ den Rucksack auf den Asphalt sinken und zog eine lange Tasche heraus, die sie mir in die Arme plumpsen ließ. Sie war tatsächlich ganz schön schwer. Aber das sagte ich natürlich nicht und stopfte das Teil in meinen halb vollen Rucksack.

»Dann los!« Sie hievte sich ihr Gepäck auf den Rücken, machte einen Schritt und blieb wieder stehen. »Ach, eins noch … Ich mach das mit dir, weil du, glaub ich … Also, ich hab keine Angst vor dir … Aber versprechen musst du es mir trotzdem.« Sie blickte den Stromkasten an, als stünde ihr Text darauf, den sie nun ablas.

»Äh, was versprechen?«

Sie sah verlegen in eine andere Richtung. »Na, du weißt schon.«

Jetzt sollte ich also etwas wissen. Wusste aber nichts. Das machte mich irre nervös. Ich konnte sie gar nicht mehr ansehen, fixierte nun selbst den Stromkasten. »Es geht … um die Wanderung?«, tastete ich mich vorsichtig heran.

»Ja, genau.« Sie schien etwas erleichtert.

»Und es hat mit mir zu tun.«

Sie nickte.

»Du willst …« Plötzlich ahnte ich etwas.

»Richtig«, sagte sie. Dabei hatte ich noch gar nichts ausgesprochen.

»Also geht es um …?«

»Ja, es ist ja eng im Zelt und so.«

»Ich lass dich natürlich in Ruhe.«

Sie blickte mich dankbar an. »Puh«, machte sie, kam unvermittelt auf mich zu und umarmte mich. »Wusste ich es doch.«

Ich versuchte, tief und ruhig zu atmen. Jetzt bloß nicht austicken! Bitte nicht. Ich stand da, starr wie ein Brett, und wartete, bis sie wieder zurücktrat.

Und dann ging es endlich los.

Wir liefen schweigend die Bornstraße entlang, bis wir am Allendeplatz ankamen.

»Weißt du, was?«, rief Lotti plötzlich begeistert. »Wir trinken noch feierlich einen Kaffee oder so und stoßen auf unsere Abmachung an.«

»Okay«, sagte ich zögerlich. »Auf unsere Abmachung?«

»Na, du weißt schon. Dass wir für die Wanderung zusammenbleiben, uns gegenseitig nicht stressen und die Bedürfnisse des anderen achten.«

Hui, das klang fast wie eine therapeutische Maßnahme. Irgendetwas war mehr als merkwürdig an dieser Abmachung. Aber ich wollte nun nichts hineininterpretieren, was meinen Atem beschleunigen oder meine Schweißproduktion anregen könnte. Lotti wollte mit mir wandern. Das war toll. Ich würde alles dafür unterschreiben, vielleicht sogar meine Seele verkaufen. »Okay.«

Lotti steuerte zielstrebig die Ponybar an, streifte den Rucksack ab und warf sich auf eines der urigen Sofas, die den Raum ausfüllten. Sie klopfte auf den Platz neben sich, dass es nur so staubte. »Ich fühl mich super!« Sie klang überzeugend. Nicht nach Spiel oder so. Ich ließ den schweren Rucksack auf den Boden sinken.

»Ach ja, hier ist Selbstbedienung.«

»Ich mach das schon.«

»Danke. Ich hätte gern einen Cappuccino mit Hafermilch.« Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Hände im Nacken und strahlte mich glücklich an. Ich holte uns zwei Cappuccinos mit Hafermilch. Und als ich die Tassen auf dem Nierentischchen abstellte, legte sie sofort den Keks von ihrer Untertasse auf meine. »Ich glaub, ich vertrag den nicht. Wer weiß, was da drin ist.« Sie hob entschuldigend die Schultern und grinste dabei entwaffnend süß. Ich stellte mir vor, wie Groom seine Mistgabel wegwarf, lauter tiefrote Herzen aus seiner Brust über den Bildschirm waberten und er verzückt die Augen schloss. »Hey, setzt du dich auch hin?«

»Ja, klar.« Vorsichtig ließ ich mich neben sie aufs Sofa sinken und versuchte, so viel Abstand wie möglich zwischen uns zu lassen. Was nicht einfach war. Ich lehnte mich weit über die geschwungene Armlehne und stützte meinen Kopf mit einer Hand ab.

Lotti lachte wieder. »Du übertreibst so lustig.« Sie hob mir ihre Tasse entgegen. »Auf unsere Wanderung und unsere Abmachung.« Ich stieß meine Tasse an ihre. Klonk, machte es dumpf.

Ihr Blick wurde plötzlich sehr konzentriert und ernst. Ich konnte sehen, wie sie einen Satz vorbereitete, und wurde sofort nervös. »Jakob.«

»Ja?«

»Danke.«

»Kein Ding.« Was für eine bescheuerte Antwort. Kein Ding! Das hätte von Milan kommen können. Verdammt. Die gerade noch so warme Energie in meinem Körper kühlte in Sekundenschnelle auf Minusgrade ab. Was für eine absolut bescheuerte Antwort. Hätte ich nicht einfach Mach ich gerne! sagen können?

Lotti hielt den Kopf schief und sah mich prüfend an. Jetzt kam’s. Ich hab mich doch in dir geirrt. Oder: Nee, so wird das nix mit unserer Wanderung. »Hör mal, Jakob«, sagte sie. »Für mich ist das sehr wohl ein Ding. Du weißt nicht, wie wichtig mir diese Wanderung ist. Und ohne dich wäre nichts daraus geworden. Also, wenn ich mal irgendwie komisch sein sollte, umkehren will oder so, dann lass es nicht zu, ja? Schleif mich notfalls hinter dir her. Versprochen?«

Ich nickte und schwieg. Es war alles etwas schwer zu verstehen.

»Gut. Lass uns noch Handynummern austauschen, für alle Fälle, ja? Ich bin manchmal ein bisschen … na ja, sagen wir, unberechenbar.« Sie sah mich ein wenig scheu an, und als sie die Verwunderung in meinem Blick las, fügte sie schnell hinzu: »Aber kein Grund zur Sorge.«