Ludwig Rubiner: Die Gewaltlosen

 

 

Ludwig Rubiner

Die Gewaltlosen

Drama in vier Akten

 

 

 

Ludwig Rubiner: Die Gewaltlosen. Drama in vier Akten

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Ilya Repin, Unerwarteter Besuch, 1888

 

ISBN 978-3-7437-1145-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1129-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1130-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Potsdam (Kiepenheuer) 1919 mit der Widmung »Dem Kameraden, meiner Frau Frida«.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Klaus Schuhmann, Leipzig: Reclam, 1976.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

Personen

Der Mann.

 

Die Frau.

 

Klotz.

 

Der Gouverneur.

 

Anna.

 

Nauke.

 

Der erste Gefängniswächter.

 

Der zweite Gefängniswächter.

 

Der Offizier.

 

Der erste Gefangene.

 

Der zweite Gefangene.

 

Der Kranke auf dem Schiff.

 

Der Kapitän.

 

Der Führer der Bürger.

 

Drei Bürger.

 

Der Bucklige.

 

Der Krüppel.

 

Der junge Mensch.

 

Drei Revolutionärinnen der Stadt.

 

Der Junge von der Straße.

 

Der Herr im Zylinder.

 

Die Frau aus dem Volk.

 

Ein Soldat.

 

Volk. Soldaten. Matrosen.

 

Die Schiffsgefangenen.

 

[50] Die Niederschrift dieser Legende wurde im Januar 1917 begonnen, im Herbst 1918 beendet. Inmitten der härtesten Verzweiflungsjahre, während die Siege des Weltkapitalismus sich über den Völkern hin und her wälzten. – Zürich. – Die Personen des Dramas sind die Vertreter von Ideen. Ein Ideenwerk hilft der Zeit, zu ihrem Ziel zu gelangen, indem es über die Zeit hinweg das letzte Ziel selbst als Wirklichkeit aufstellt.[51]

 

Erster Akt

Straßenecke.

 

Erste Szene

Der Mann. Ein Junge aus der Menge. Eine Frau aus der Menge. Ein alter Mann. Ein Herr mit Zylinder. Volksmenge.

 

DER MANN an einer Ecke, schreit. Hier ist es. Hier! Alles findet ihr hier.

 

Menge sammelt sich.

 

EINE FRAU aus der Menge. Haben Sie hier Milch?

EIN ALTER MANN läuft atemlos herzu. Sie sagen drüben, hier gibt es Fleisch!

EIN HERR mit Zylinder auf dem Kopfe. Ist es wahr, daß man Kohlen kriegt?

DER MANN. Umsonst! Ganz umsonst! Alles wird verschenkt! Das Leben verschenkt!

MENGE. Wo?

DER MANN. Du kannst haben, soviel du willst. Jeder, der will, bekommt seinen Teil!

MENGE. Ich war zuerst da. Ich!

DER MANN. Niemand braucht länger zu warten. Aufgepaßt. Jeder bekommt gleich alles. Das Leben!

EIN JUNGE aus der Menge. Der redet so ausländisch. Das ist gewiß ein Spion.

EIN ALTER MANN. Wo ist die Polizei? Ich stehe schon eine ganze Nacht. Man weiß heute nicht, mit wem man zu tun hat.

DER MANN zum Jungen. Du kriegst Zigaretten. Zum alten Mann. Ihr kriegt alle Brot!

DIE FRAU AUS DER MENGE. Ich kann nicht länger. Ich falle um.

DER MANN. Ihr braucht nicht mehr zu leiden! Zu der Frau. Halten Sie noch einen Augenblick aus, es wird alles gut.[53]

DER ALTE MANN. Vor dem Sterben noch was essen!

DER MANN. Sie brauchen nicht zu sterben. Seht mich an, ich sterbe auch nicht. Niemand braucht zu sterben. Ihr könnt alles Leben haben, das ihr wollt! Ihr wollt, ihr wollt, ihr wollt!

MENGE. Ja!

DER MANN. Ihr wollt frei sein. Ihr werdet nicht sterben.

DER JUNGE. Die Polizei kommt!

AUS DER MENGE. Maschinengewehre. Militär! Die Truppen.

DER MANN. Die Soldaten sind eure Brüder, sie dürfen nicht schießen.

MENGE Tumult. Sie schießen!

 

Dunkel.

 

DER MANN schon aus dem Dunkel. Soldaten, Brüder! Ihr dürft nicht schießen![54]

 

Zweite Szene

Zimmer.

Der Mann. Die Frau.

 

DER MANN. Jetzt haben sie den Eingang zum Nebenhaus.

DIE FRAU. Es geht gegen Morgen, ist das nicht Brandgeruch?

DER MANN. Sie legen Feuer, damit wir herauskommen.

DIE FRAU. Ich rede mit dem Offizier.

DER MANN. Nein. Sie sollen mich nicht lebendig haben.

DIE FRAU. Was hilft's dir, wenn du tot bist? – So ist noch eine Möglichkeit.

DER MANN. Sie sind schon auf dem Dach. Wir haben keine Waffen.

DIE FRAU. Ich winke mit dem Tuch aus dem Fenster, dann holen sie uns. Ich will nicht ersticken, wie die drüben.

DER MANN. Wir können nicht mehr heraus.

DIE FRAU. Wenn ich sie hereinlasse, kommen wir vielleicht noch davon.

DER MANN. Nein. Sie schießen auf uns. Lieber wehren, bis zum letzten Moment.[54]

DIE FRAU. Womit willst du dich wehren?

DER MANN. Wir haben keine Waffen. Ich kann mit dem Stuhl den ersten, der zur Tür kommt, niederschlagen.

DIE FRAU. Das ist nur einer; sie schießen die Wände ein und kommen durchs Fenster. Dem ersten, der kommt, springe ich an den Hals und beiße ihm die Gurgel durch. Dann weiß man, wofür man stirbt.

DER MANN. Nein – das rettet uns nicht. Sie morden – wir nicht!

DIE FRAU. Aber wie davonkommen – ohne Gewalt?

DER MANN. Mord und Gewalt ist nicht dasselbe!

DIE FRAU. Verwirr mich nicht. Ich sehe nur dies: Unser heutiges Leben – Gewalt. Unser Ziel – Gewaltlosigkeit!

DER MANN. Luise, ich höre sie kommen. Es ist unser letzter Augenblick.

DIE FRAU. Es ist heiß im Zimmer. Der Brand von nebenan schlägt herüber.

DER MANN. Ich werde mich ergeben, dann wird dir nichts geschehen.

DIE FRAU. Nein, so nicht. Ich habe mit dir gekämpft. Ich lasse dich nicht im Stich.

DER MANN. Es wird hell draußen. Ich nehme alles auf mich. Bleib hier. Ich gehe ihnen entgegen.

DIE FRAU. Bleibe. Ich lasse dich nicht. Wir sterben zusammen!

DER MANN. Nein, nicht sterben. Ich will nicht sterben. Wir haben noch nichts getan. Es ist noch nichts getan.

DIE FRAU. Zu spät.

DER MANN. Zu spät oder nicht. Wie still es ist. Man hört nur die Schüsse, wie in einer Fabrik. Die Straße ist ganz still.

DIE FRAU. Du bist jetzt so ruhig. Fast könnte ich Mut haben.

DER MANN. Wir haben nichts zu verlieren. Glaube nur diesmal noch.

DIE FRAU. Wir sollten uns nicht rühren, wenn sie kommen.

DER MANN. Dann machen sie uns nieder.

DIE FRAU. Sie sollen uns niedermachen. Sie sollen uns binden, sie sollen uns erschlagen.

DER MANN. Sie werden uns foltern, wie sie die Kameraden gefoltert haben. Sie werden uns Geständnisse erpressen, und dann erschießen sie uns.[55]

DIE FRAU. Sie erpressen uns nichts. Wir wehren uns nicht, und wir schweigen.

DER MANN. Ich rühre mich nicht. Unser Wille ist mehr als ihre Gewalt! – Es geht zu Ende. Luise, küsse mich.

DIE FRAU. Nein, nicht küssen. – Denke ganz an mich.

DER MANN. Jetzt ist alles gleich. Du bist mein Freund, meine Schwester, mein Wesen, meine Frau. Es ist gleich, ob sie uns martern. Das ist gekommen, wann ich es nicht mehr erwartet habe.

DIE FRAU. Ich umschlinge dich ganz fest. Ich denke nur von dir. – Sei ganz bei mir. Nun können sie morden.

DER MANN. Ich will nur noch bei dir sein. Ich höre nur dich. Ich bin so stark bei dir.

DIE FRAU. Alle Menschen stoßen mich zu dir. Ich höre nur deine Stimme noch. Wir sind ganz allein.

DER MANN. Wir sind ganz allein. Alle sind tot. Ich weiß nur noch von dir. Ich habe nur noch dich. Vielleicht entkommen wir über die Leiter an der Wand.

DIE FRAU. Sie sehen uns.

DER MANN. Sie werden uns nicht sehen. Ich will.

DIE FRAU. Ich will, daß sie uns nicht sehen. Ich will so stark, daß ich lautlos und wie eine Tote unsichtbar bin.

DER MANN. Ich will, daß wir leben. Wir dürfen noch nicht hin sein.

DIE FRAU. Ich will, daß du lebst. Wir haben noch alles zu tun.

DER MANN. Komm, leise. Hinab. Ich will, daß wir ein Schatten der Mauer sind. Verschwinden.

DIE FRAU. Verschwinden unter den Steinen, unter den Menschen für das Leben. Ich glaube an dich.

DER MANN. Fliege mit mir, komm. Ich will. Halte dich an mir. Wir schweben.

DIE FRAU. Hinunter. Hilf mir. Ich will.

DER MANN. Glaube, daß du träumst. Fliege im Schlaf; du rührst nur leise die Füße. Niemand sieht dich.

DIE FRAU. Ich schwebe mit dir.

 

Im Dunkel nur die beleuchteten Köpfe von Mann und Frau.

 

DER MANN. Jetzt. Wir fliegen.

DIE FRAU. Es wird so dunkel. Hinab. Wer zieht mich hinauf?[56]

DER MANN. Rund um mich ist dunkel.

DIE FRAU. Meine Füße sind nicht auf Festem. Der Boden sinkt.

DER MANN. Unten ist hell.

DIE FRAU. Wir sind in einem Gang.

DER MANN. Schreite, schreite. Es brennt wie Feuer. Komm hindurch!

DIE FRAU. Mit dir. Wo sind wir? Ich strecke den Arm, ich fühle keine Wände. Ein runder Gang ist um uns.

DER MANN. Hinab. Es reißt uns hinab. Rasende Schnelligkeit. Woran halt ich mich fest?

DIE FRAU. Halte mich fest. Ich sinke.

DER MANN. Wer ist da? Ich ersticke. Ist ein Mensch da? Wer steht da im Dunkel?

DIE FRAU. Hindurch! O eile.

DER MANN. Die letzte Kraft. Wir sind in einer finsteren Höhle. Ich sterbe für dich.

DIE FRAU. Lebe und töte mich. Ich bin nicht mehr.

DER MANN. Luft. Atme! Ich sehe Sterne. Es ist fest unter meinen Füßen. Luise, frei!

DIE FRAU. Daß ich noch lebe! Fort, fort. Es ist mein Leib.

DER MANN. Wir leben. Kein Mensch wird mehr sterben. Wir helfen allen. Wir sind stark.[57]

 

Dritte Szene

Straße vor dem Zimmer.

Vorige. Später Soldaten.

Der Mann und die Frau machen den letzten Schritt aus dem Dunkel auf die helle Straße. Vor ihnen Trümmer einer Barrikade.

 

DIE FRAU. Wir sind auf der Straße. Komm. Nun hab ich Kraft für die Ewigkeit.

 

Vor dem Zimmer ein Schuß. Die Türe wird aufgebrochen. Soldaten dringen ins halbdunkle Zimmer mit Laternen.[57]

 

Vierte Szene

DER MANN UND DIE FRAU auf der Straße. Ich lebe! Sie winden sich durch die Trümmer der Barrikade, sehen sich schwankend in der Straße um. Komm schnell. Leben!

DIE FRAU. Komm, eh das Wunder zerbricht!

DER MANN. Leben! Für die Menschen! Nun hab ich Kraft auf ewig.

 

Fünfte Szene

Der Mann und die Frau eilen ab. Noch ehe sie die Bühne verlassen, treten Soldaten auf.

 

SOLDATEN. Halt, wer da?

DER MANN zur Frau. Du schnell fort. Zum Schiff. Ich werde frei! Zu den Soldaten. Was wollt ihr?

 

Die Frau eilt nach der anderen Seite ab.

 

SOLDATEN. Entwischt! Das Weib ist uns im Dunkel entwischt! Dafür haben wir den Kerl. Sie packen den Mann und schleppen ihn fort.

 

Sechste Szene

Der Offizier. Später ein Soldat.

 

DER OFFIZIER im Zimmer. Wer hat sie entwischen lassen?

 

Siebente Szene

EIN SOLDAT stürzt auf. Wir haben ihn. Er wird gefesselt abtransportiert.

 

Dunkel.[58]

 

Achte Szene

In der Festung. Raum des Gouverneurs.

Der Gouverneur. Klotz.

 

DER GOUVERNEUR. Sie geben also alles zu.

KLOTZ. Ja.

DER GOUVERNEUR. Wollen Sie jetzt das Protokoll unterschreiben?

KLOTZ. Ja.

DER GOUVERNEUR. Sie werden nicht gedrängt. Sie können es sich überlegen.

KLOTZ. Ich habe es schon überlegt.

DER GOUVERNEUR. Es ist gut, daß Sie sich so vernünftig benehmen. Wir brauchen keine scharfen Mittel gegen Sie anzuwenden.

KLOTZ. Die würden nichts nützen, Herr Gouverneur.

DER GOUVERNEUR. Seien Sie nicht hochmütig. Ich kenne diesen Ton bei den Untersuchungsgefangenen, er hört bald genug auf, wenn es ernst wird. Sie sind nicht der erste, mit dem ich zu tun habe.

KLOTZ. Ich weiß. Aber ich bin nicht stolz.

DER GOUVERNEUR. Sehen Sie doch ein, daß Ihre Handlungsweise unrecht war. Sie war aber auch unsinnig. Ein Mann von Ihrer Intelligenz hat nicht das Recht, unverständige Kreaturen aufzureizen. Das werden Sie ja büßen. Aber ich meine. Sie mit Ihren Fähigkeiten könnten der Gesellschaft wirkliche Dienste leisten. Ich sage nicht, kommen Sie zu uns. Aber ich sage: lassen Sie Ihre bisherige Tätigkeit.

KLOTZ. Nein, Herr Gouverneur.

DER GOUVERNEUR. Glauben Sie doch nicht, bei mir mit diesem Trotz Achtung zu erregen. Das hat gar keinen Sinn.

KLOTZ. Nein, es hätte keinen Sinn. Es ist aber nicht um zu imponieren, und es ist auch kein Trotz.

DER GOUVERNEUR. So, was ist es denn?

KLOTZ. Es ist mein Glaube.

DER GOUVERNEUR. Ihr Glaube? Aber sehen Sie denn nicht, daß er Sie irregeführt hat?[59]

KLOTZ. Nein.

DER GOUVERNEUR. Ja, so sind alle Fanatiker. Sie haben einen Glauben, aber der andere hat keinen oder einen falschen!

KLOTZ. Ich weiß. Auch Sie, Herr Gouverneur, sind ein Mensch.

DER GOUVERNEUR. Lassen wir diesen Ton. – Ernstlich. Sehen Sie mich an. So, wie ich vor Ihnen stehe – warum meinen Sie denn, stehe ich hier, wenn nicht auch ich meinen Glauben hätte?

KLOTZ. Nein, das ist nicht der Glaube. Das ist die Macht.

DER GOUVERNEUR. Die Macht, sagen Sie. Ja, ich habe die Macht. Und der beste Beweis gegen Sie ist, daß Sie sie nicht haben.

KLOTZ. Nein.

DER GOUVERNEUR. Ah, und warum haben Sie sie nicht? Fehlte nur noch, daß Sie mir sagen, weil Sie sie nicht wollen.

KLOTZ. Ja, weil ich sie nicht will.

DER GOUVERNEUR. Nun schön. Ich lasse Sie jetzt abführen. Ich sehe, ich habe mich zu weit mit Ihnen eingelassen. Es ist immer wieder dasselbe: Sie und Ihre Genossen glauben bei der geringsten menschlichen Regung von unsereinem das Recht zum Mißbrauch zu haben. Es soll nicht mehr vorkommen.

KLOTZ. Macht, was ist das? Ihre Zentralheizung, Ihr Telephon, Ihre elektrische Klingel, Ihre Beamten.

DER GOUVERNEUR. Meine Beamten.

KLOTZ. Ihre Beamten – wie lange? Solange Sie auf Ihrem Posten sind. Solange Sie leben. Solange Ihre Beamten leben. Übrigens, sind Sie Ihrer Beamten sicher?

DER GOUVERNEUR. Solange ich lebe, und solange die anderen leben. Solange überhaupt Menschen leben.

KLOTZ. Ah, und wieso stände ich denn hier vor Ihnen? Wie kommt es, daß Sie und Ihre Organisation vergeblich versuchen, meinen Mund zu schließen? Seit Jahrhunderten versuchen Sie das vergeblich.

DER GOUVERNEUR. Vielleicht muß auch das sein. Sie sind nur das dunkle Feld – ich sage nicht einmal: die Gegenseite! –, auf dem unser Bau reiner und höher dasteht. Vielleicht sind Sie sogar nötig, um unsere Macht leuchtender[60] und bewußter zu machen. Aber das hindert nicht, daß wir Sie und Ihre Kameraden aus der Welt schaffen. Und wissen Sie, wer uns dabei am meisten zu Hilfe kommt? Sie selbst. Was wollen Sie? Sie wollen selbst die Macht. In allen Ländern ist es das gleiche: Ihre Freunde schreien so lange, bis sie sich emporgeschrien haben. Schließlich ist alles nur eine Personenfrage. Zufall, daß nicht Sie hier an meiner Stelle stehen, sondern ich.

KLOTZ. Wäre das so, wie Sie sagen, dann hätten Sie nicht das Recht, an dieser Stelle zu stehen. Sind Sie denn dafür, daß in der Welt ein Mensch, besinnungslos vielleicht, einen anderen Menschen beschimpft, oder quält, oder krank macht, oder zuletzt mordet? Nein, dafür sind Sie nicht. Sie sind auf Ihrem Posten, weil Sie glauben, daß dadurch mehr Gerechtigkeit herrscht. Sie vertreten die Gewalt, in Wahrheit, weil Sie glauben, daß Sie dadurch der Güte dienen. Aber Sie haben immer in einer einzigen fürchterlichen Angst gezittert: Man könne Ihnen wegnehmen, was Sie besaßen. Toll vor Angst haben Sie sich in den Jahren Ihren Posten erarbeitet, mit Fleiß, mit Klugheit, mit Protektion, mit Energie. Sie haben heute die Verfügung über Gefängnisse und Maschinengewehre. Und Sie stehen inmitten Ihrer Macht und zittern vor jeder Sekunde Ihrer Zukunft. Aber schon für eine schwache Stimme, wie die meine, für einen Mann, den Sie und Ihre Auftraggeber mit einer kleinen Verfügung beseitigen können, müssen Sie Ihre ganze Geistesgegenwart und Ihre Nervenkraft zusammennehmen. Für uns Schwache müssen Sie dieses große Haus hier mit dicken Mauern bauen, Schildwachen davorstellen. Unablässig müssen Sie eine Armee von Spitzeln in Tätigkeit setzen, Sie müssen die Marterschreie anderer Menschen erdulden. Ihr Leben vergeht in einem angestrengten Unsinn. Ihre ganze Macht ist dazu da, daß Sie Ihrer Angst vor sich selbst ewig neu preisgegeben sind. –

DER GOUVERNEUR. Ich höre Ihnen geduldig zu und lasse Sie für Ihre Reden nicht bestrafen. Sie sehen, ich gebrauche meine Macht sehr milde.

KLOTZ. Sagte ich denn, daß Sie, Sie, die Macht haben? Sie selbst sind doch ein Werkzeug der Macht, ein Sklave[61] der andern sind Sie, wie die Wächter draußen Ihre Sklaven sind. Wissen Sie denn noch, was der Mensch ist, was Leben ist, was Freiheit ist? Sie lassen die Menschen peinigen, foltern, morden. Und Sie haben nur die Angst, daran zu denken, daß die Schmerzen, das geronnene Blut und das erstickte Leben der Gepeinigten und Hingeschlachteten Sie einmal anklagen wird bei der Menschheit, anklagen vor dem Ende der Welt, bei allem anklagen, was in uns noch Menschlichkeit war – und daß der Schrei der Gefolterten Finsternis in Ihre Seele bringt und Ihnen das Herz aus dem Leibe reißen wird.

DER GOUVERNEUR. Warum sagen Sie mir das? Erwarten Sie vielleicht davon Ihre Freiheit?