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© 2018 Hans-Walther Braun und Volker Neumann
Herstellung und Verlag
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7528-9007-5

Inhalt

Vorwort

1960-62 schrieb St. Pauli Musikgeschichte. Hier entstand die wohl berühmteste Rockband aller Zeiten: The Beatles. Hans-Walther Braun, genannt Icke, den mit den Musikern, besonders mit Paul McCartney, eine persönliche Freundschaft verband, hat ihre Entwicklung hautnah miterlebt. In diesem Buch schildert er seine Erlebnisse mit ihnen, insbesondere auch abseits von Star-Club und Top Ten. Die Jungs waren leichtsinnig und abenteuerlustig, gerieten manchmal in schräge Situationen und unterschieden sich nicht wesentlich von anderen jungen Leuten. Kein Mensch konnte vorhersagen, dass sie einmal im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit stehen würden. Am Neujahrsmorgen 1963, als Icke zum letzten Mal mit ihnen in vertrauter Runde im Café des Hamburger Flughafens saß, vier Stunden lang mit ihnen diskutierte, herumblödelte und die Zeit totschlug, weil der Flieger nach London Verspätung hatte, da planten sie noch, ein paar Monate später zur Großen Freiheit zurückzukehren. Die neuen Verträge für den Star-Club hatten sie schon in der Tasche. Aber dann kam alles ganz anders. Buchstäblich über Nacht waren sie berühmt, und St Pauli sah sie nie wieder.

Ickes Erlebnisse mit den Beatles klingen genauso unwahrscheinlich wie die mit Evelyn Hamann. Gemeinsam hatte Icke mit ihr auf der Studio-Bühne der Uni Hamburg gestanden. Er als Absolvent der Ingenieurschule Berliner Tor, der soeben seine Leidenschaft für die Schauspielerei entdeckt hatte, sie eine Schülerin der Staatlichen Schule für Musik und Theater an der Milchstraße. Es folgte eine turbulente Zeit in „wilder Ehe“, wie man es damals nannte. 1964 heirateten sie. Trotz Evelyns Engagements in Göttingen, Heidelberg und Bremen, die für die beiden naturgemäß viel Trennungsschmerz mit sich brachten, und trotz gelegentlicher Seitensprünge hielt die Ehe ganze zehn Jahre. 1974 dann wurde sie geschieden. Gleichzeitig fing Evelyns Zusammenarbeit mit Vicco von Bülow alias Loriot an und damit ihr rasanter Aufstieg zu einer der beliebtesten Schauspielerinnen Deutschlands. Erst kürzlich, am 10. August 2017, als der NDR zu ihrem 75. Geburtstag eine 90-minütige Sendung ausstrahlte, wurde wieder beklagt, dass rein gar nichts über ihr Privatleben bekannt sei. Icke könnte da weiterhelfen, u.a. mit einem Fotoalbum, das Evelyn eigenhändig zusammengestellt und kommentiert hat.

Das war die glanzvollste Phase in seinem Leben, wenn man das Ganze rückblickend betrachtet. Weniger glanzvoll, aber nicht weniger aufregend war seine Vorgeschichte. Er wurde im Jahr 1936 geboren, war also alt genug, um den Krieg und die Nachkriegszeit bewusst mitzuerleben. Seine Erfahrungen mit einem sehr eigenwilligen Vater und dessen zivilem Ungehorsam gegen die Nazis, mit den abenteuerlichen Reisen im Viehwagon durch das zerstörte Deutschland, seine skurrile Begegnung als Junger Pionier mit Wilhelm Pieck, dem ersten und einzigen Präsidenten der DDR, und schließlich seine Versuche, sich als Jugendlicher völlig selbständig, ohne Hilfe der Familie ein eigenes Leben aufzubauen, das alles würde Stoff für einen Roman liefern.

Die Art, wie Icke seine Erinnerungen sprachlich wiedergibt, hängt naturgemäß mit dem zusammen, was er erlebt und wie er es erlebt hat, also mit seiner ganzen Person. Deshalb war es uns beiden wichtig, dass seine Sprechweise in der schriftlichen Darstellung nicht ganz verloren geht. Beispielsweise tauchen immer wieder regionalsprachliche Ausdrücke auf, und indirekte Rede wird fast durchgehend durch Formen der direkten Rede ersetzt.

In langen Gesprächen erzählte Icke, was er in seiner fast achtzigjährigen Vergangenheit erlebt hatte. Obwohl am Ende nur ein relativ schmales Buch dabei herausgekommen ist: Wir haben uns ungefähr zehn Mal getroffen, und jedes Mal redeten wir mehrere Stunden lang. Während er erzählte, gab es natürlich viele Wiederholungen, aber es kamen auch immer wieder neue Erinnerungen hoch, manchmal mit starken Gefühlen verbunden, mit Glück, Liebe, Stolz, aber auch Ekel, Hass, Angst, Hunger, Gefühlen jeglicher Art. In solchen Fällen waren die Erinnerungen noch sehr lebendig, auch wenn die Geschehnisse lange zurücklagen. Wir mussten sie dann nur noch ordnen und in den Kontext einfügen. Meistens waren sie aber nur bruchstückhaft und frei von Emotionen, obwohl sie von der Art waren, dass sie Menschen eigentlich nicht kalt lassen dürften. Dann war es unsere Aufgabe, die Zusammenhänge zu rekonstruieren, in die sie gehörten. Die Darstellung bietet hier einen Detailreichtum, den das Langzeitgedächtnis normalerweise nicht hergibt, ist also weitgehend fiktional. Zu solchen Stellen sagte Icke dann: „An diese Einzelheiten erinnere ich mich nicht genau, aber es könnte so gewesen sein.“ Grundsätzlich orientiert sich die Darstellung an den Fakten. Insgesamt ist etwas entstanden, was die Franzosen biographie romancée nennen, eine Biografie, die sich teilweise wie ein Roman liest.

Volker Neumann

Das Ende vom Anfang

Heute habe ich Evelyn besucht. Eigentlich hatte ich mir das schon für gestern vorgenommen, aber ich hatte zu viel um die Ohren. Zuerst musste ich nach Lütjenburg, das Auto aus der Werkstatt holen, dann hatte ich einen dringenden Termin beim Zahnarzt in Kiel und saß anderthalb Stunden im Wartezimmer rum, auf der Rückfahrt steckte ich natürlich noch im Stau. Es war einfach nicht zu schaffen. Trotzdem machte ich mir Vorwürfe, denn gestern wäre Evelyn fünfundsiebzig geworden. Ich war zugleich ärgerlich und sentimental. In der Friedhofsgärtnerei stand ich lange Zeit unschlüssig zwischen all den Kränzen und Sträußen, überlegte hin und her. Etwas besonders Schönes wollte ich ihr schenken, aber ich fand nichts, was hundertprozentig passte. Schließlich suchte ich ihr eine langstielige, dunkelrote Rose aus. Keinen Strauß, sondern eine einzelne Rose, schön und einmalig wie ich Evelyn in meiner Erinnerung vor mir sah. Wie lebendig sie noch in mir war! Ich sah ihr Gesicht vor mir, ihre lachenden Augen, als wir am Strand von Dubrovnik lagen, ihre vorgeschobene Oberlippe beim Geschirrspülen, ihre Tränen auf einer Klettertour in den Alpen, wo wir uns in Schwierigkeiten gebracht hatten und sie nicht vor- und nicht zurückkonnte. Doch als ich auf ihr Grab zuging, schwante mir Böses. Es sah so aus, als ob mir jemand zuvorgekommen war. Schon wieder, und das an einem Tag wie heute! Und meine Rose? Die war auch nicht so originell, wie ich gedacht hatte, denn direkt vor dem Grabstein stand dick und fett eine Vase, die mit langstieligen, dunkelroten Rosen nur so vollgestopft war. Ohne sie zu zählen, wusste ich, dass es fünfundsiebzig Stück waren. So wie der Strauß da stand, sah er wie eine Demonstration aus, wie eine Besitzergreifung. Ich wusste sofort, von wem er war. Tief in meinen Eingeweiden nagten wieder Wut und Selbstvorwürfe. Eigentlich war ich gekommen, um mich an die tolle Zeit unserer Liebe zu erinnern, und nicht daran, wie sie sich in einen Albtraum aus Ohnmacht und Habgier verwandelte. Meine Rose hatte ich, gedankenverloren, am unteren Ende des Grabes abgelegt. Aber wie sie da aussah! Richtig verloren sah sie aus! Armselig! Nein, so ging es auf gar keinen Fall. Ich schob die Vase weiter nach unten und lehnte die Rose an den Grabstein, so dass die Blüte genau auf Evelyns Namen ruhte. Das sah doch schon ganz anders aus!

Jetzt, ein paar Stunden später, wundere ich mich, dass meine Gefühle wieder so hochgekocht sind, denn die Geschichte mit Evelyn ist ja lange vorbei. Bis zu ihrem Tod habe ich die Verbindung zu ihr gehalten oder es zumindest versucht. Auch das ist Vergangenheit. Es war eine andere Zeit, und ich war ein anderer Mensch. Aber ich bin eben das, was man eine treue Seele nennt. Auch zu den anderen Leuten von damals habe ich immer noch mehr oder weniger lebhaften Kontakt. Soweit sie noch am Leben sind. Das muss man dazusagen, weil die meisten von uns inzwischen über achtzig sind bzw. wären. Beispielsweise die Leute, mit denen ich früher in der Palette rumgehangen hatte. Einer von ihnen, der Rote Henry, ist kürzlich gestorben. Meine alten Kumpel und ich waren auf der Beerdigung. Die Palette war eine Kellerkneipe in der ABC-Straße, ein Szene-Treff, würde man heute dazu sagen. Gleich am Eingang stand eine amerikanische Musicbox, da steckte man einen Groschen rein und konnte dafür Jazz oder Rock 'n' Roll hören. Was das Herz begehrte. Vor zwanzig Jahren ist ein Freund aus einer späteren Zeit gestorben: Roland Ayck. Mit ihm habe ich das Bauernhaus gekauft, in dem ich immer noch mit meiner Familie wohne. Auch von den Beatles ist nur noch die Hälfte übrig. Oder weniger als die Hälfte, wenn man Stuart Sutcliffe dazurechnet, zu dem ich seinerzeit aber wenig Kontakt hatte. Wie John Lennon und George Harrison starben, ist ja wohl allgemein bekannt. Manchmal frage ich mich, wieso ausgerechnet ich noch nicht unter der Erde bin, nach allem, was ich erlebt habe. Aber ich will mich nicht beschweren. Lieber würde ich mir wünschen, Paul McCartney noch mal zu treffen. mit dem mich sowas Ähnliches wie Freundschaft verband.

Unten in der Küche höre ich Jutta mit den Töpfen klappern. Bis vor zwei Jahren hat sie noch als Lehrerin gearbeitet. In dieser Zeit war ich für das Mittagessen verantwortlich. Nach ihrer Pensionierung hat sie dann in der Küche das Kommando übernommen. Sie kocht fast nur vegetarisch, Bratwurst oder Kotelett kommen nicht mehr auf den Tisch. Ich muss gestehen, das bekommt mir gar nicht schlecht. Seitdem sie kocht, habe ich längst nicht mehr so starke Gichtanfälle. Vor über dreißig Jahren haben wir geheiratet. Wir haben zwei erwachsene Kinder, Lena und Felix. Lena studiert auf Lehramt, und Felix, ihr jüngerer Bruder, ist Ingenieur wie ich. Diese Menschen liebe ich mehr als alles andere auf der Welt. Ich kann sogar sagen, mehr als mich selbst. Leider bin ich für die Kinder ein ziemlich alter Vater. Ich kann nur hoffen, dass sie darunter nicht allzu sehr gelitten haben und ich meine fehlende Jugendlichkeit irgendwie durch andere Dinge wettmachen konnte.

Bis zur Silbernen haben Jutta und ich es schon mal geschafft. Und es soll noch weiter gehen.

Mit Jutta und der Familie kam sozusagen ein roter Faden in mein Dasein. Spät, aber nicht zu spät. Bis dahin, ich war schon hoch in die Vierzigern, war mein Lebensweg schief und krumm gewesen. Insgesamt hat er eine, im wahrsten Sinne des Wortes, fatale Ähnlichkeit mit dem meines Vaters, der ungefähr im selben Alter gewesen war wie ich, als er seine Familie gründete. Auch bei ihm machte das Leben viele Umwege und brauchte lange Zeit, um in die Spur zu finden. Natürlich lebte er unter ganz anderen Bedingungen als ich. Er war stärker politisch engagiert und musste sich unter den Nazis weit größeren Gefahren aussetzen. Das kann man gar nicht vergleichen. Aber auch für mich gab es äußerst brenzlige Situationen, in denen ich mehrmals, wie man so sagt, dem Tod gerade noch von der Schippe springen konnte.

Familien-Odyssee

Mein beruflicher Werdegang zum Maschinenbauingenieur hatte in dem Moment begonnen, als ich mich von meiner Familie trennte. Das war 1950 in Cuxhaven. Ich war vierzehn. Damals konnte ich noch nicht wissen, dass ich eines Tages Ingenieur werden würde, aber ich schlug schon mal die richtige Richtung ein, indem ich mich entschied, Maschinenbaulehrling zu werden. Diese Entscheidung wie auch die Emanzipation von meiner Familie hingen sehr stark mit dem Verhältnis zu meinem Vater zusammen. Obwohl ich ihn mochte, sogar bewunderte wegen seiner Bildung, seiner Klugheit und vor allem wegen seiner Standhaftigkeit. Aber gerade dieser Standhaftigkeit hatten wir es zu verdanken, dass wir fast wie Nomaden ohne festen Wohnsitz leben mussten. Jahrelang war er kreuz und quer durch Deutschland geirrt. Seine Familie, Frau und drei Kinder, hatte er wie einen Rattenschwanz hinter sich hergezogen. Und das, obwohl er Lehrer war. Ein Lehrer hatte normalerweise einen festen Arbeitsplatz und einen festen Wohnsitz. Nicht so mein Vater. Immer, wenn ich mich gerade irgendwo eingelebt hatte, mussten wir weiterziehen, weil er wieder mal in eine andere Stadt versetzt wurde. Und von Mal zu Mal wurde ich wütender auf ihn. Für ihn war auch Cuxhaven nur eine Durchgangsstation. Hierher hatte es uns verschlagen, weil er im Land Niedersachsen ein Recht auf Wiedereinstellung in den Schuldienst hatte. Im niedersächsischen Alfeld hatte er nämlich an einem Gymnasium unterrichtet, bevor er 1933 aus politischen Gründen entlassen wurde. Als aufrechter Sozialdemokrat hatte er den Machthabern gegenüber den Mund nicht halten können. Bevor nun, nach dem Krieg und der Nazi-Zeit, eine neue Stelle für ihn gefunden war, hatte man ihn in Cuxhaven vorübergehend geparkt. Ich hatte mich auch hier schon wieder eingelebt, es gefiel mir sogar ausnehmend prächtig in Cuxhaven. Und dann sollten wir schon wieder unsere Sachen packen und in eine andere Stadt ziehen. Mein Vater hatte ein Angebot, als Schulleiter in Holzminden zu arbeiten. Für ihn war das ein Glücksfall, denn es war die Stelle, die er tatsächlich bis zur Pensionierung behalten sollte. Zugleich war es die Endstation einer rastlosen Irrfahrt, an der zum großen Teil die Nazis schuld waren, die ihn aus dem Schuldienst geschmissen hatten.

Siebzehn Jahre hatte seine Odyssee gedauert. Als man ihn in Alfeld gefeuert hatte, zog er mit seiner Frau in die Uckermark, nach Prenzlau, wo er, grenzenlos optimistisch, ein Reformhaus übernahm. Das muss man sich mal vorstellen: ein Reformhaus kurz nach der Weltwirtschaftskrise. Deutschland lag wirtschaftlich am Boden. Reformhäuser gab es, wenn überhaupt, nur in Großstädten mit mindestens hunderttausend Einwohnern, und auch da ziemlich selten. In einer Kleinstadt wie Prenzlau war sowas ein Witz. Die meisten Leute hatten genug damit zu tun, einigermaßen über die Runden zu kommen. Teure Reformkost und alternative Ernährung standen da wohl kaum auf ihrem Speiseplan, zumal die konventionellen Lebensmittel im Vergleich zu heute kaum belastet waren. Die Reformhausbewegung hatte damals eindeutig etwas Sektiererisches.

Das Geld, das meine Eltern durch das Geschäft einnahmen, reichte schon für sie selbst kaum zum Leben. Und es wurde noch schwieriger, als sie nacheinander drei Söhne in die Welt setzten: 1935 meinen Bruder Wolfgang, 1936 mich, den Hans-Walther, und 1939 den Klaus-Dieter. Ab jetzt musste das kleine Reformhaus eine fünfköpfige Familie ernähren. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir richtig gehungert hätten, zu dieser Zeit vor dem Krieg jedenfalls. Aber ich weiß noch, wie ich mal in unserem Laden stand und nicht begreifen konnte, warum ich mir nicht mal ein Glas Erdbeermarmelade oder Apfelmus aus dem Regal holen durfte. Die Sachen gehörten doch uns!

Prenzlau vor der Zerstörung

Bei Kriegsbeginn profitierte mein Vater, Jahrgang 1889, davon, dass er zu alt für den Kriegsdienst war. Für uns war es natürlich ein Glück, dass er nicht eingezogen wurde und die Familie dadurch zusammenbleiben konnte. Trotzdem sorgte mein Vater immer wieder dafür, dass wir uns mit ihm nicht allzu sicher fühlten.

Gegenüber unserem Reformhaus, auf der anderen Straßenseite war ein Musikgeschäft, dessen Inhaber mir mal eine Mundharmonika geschenkt hat. Das muss um 1942 gewesen sein, denn ich war kurz vorher zur Schule gekommen. Ich sah ihn immer in SA-Uniform durch die Straße stolzieren. Mein Vater mochte ihn gar nicht und war deshalb nicht gerade erfreut, als der SA-Mann mit einem Schild unterm Arm in seinem Reformhaus auftauchte. Ich war nach der Schule zu meinem Vater ins Geschäft gegangen und erlebte alles mit, was dann passierte.. Der SA-Mann brüllte, „Heil Hitler“, stellte uns, ohne gefragt zu haben, das Schild ins Schaufenster, erklärte: „Ihr neues Judenschild!“ - und marschierte wieder ab. Mein Vater war so überrascht, dass er gar nicht schnell genug reagieren konnte. Er stürzte hinter seinen Tresen hervor und riss das Schild wieder aus dem Fenster. Darauf war eine rattenartige Gestalt zu sehen, die den Judenstern auf der Stirn trug. Unter dem Bild stand: „Juden unerwünscht“. Das war seinerzeit politisch korrekt und entsprach hundertprozentig der Propaganda von Joseph Goebbels, der die deutschen Städte „judenrein“ haben wollte. Mein Vater kochte vor Wut. Er schleuderte dem SA-Mann sein Pappschild hinterher, so dass es schnurgerade durch die Luft segelte und ihn im Nacken traf. Der Mann fiel auf die Nase, rappelte sich auf, fluchte, das wirst du mir büßen, du dreckiger Judenfreund, und zog sich wild gestikulierend in seinen Musikladen zurück. Das Ganze spielte sich gewissermaßen vor den Augen der Polizei ab, denn in Sichtweite unseres Ladens war eine Polizeistation, und wie eng und vertrauensvoll Polizei und SA zusammenarbeiteten, war bekannt. Das Verhalten meines Vaters war also nicht nur unvorsichtig, es war selbstmörderisch. Genau das war es, was meine Mutter ihrem Mann vorwarf: dass er sich und seine Familie durch solche, ihrer Meinung nach unüberlegten, Reaktionen immer wieder in Gefahr brachte.

„Jetzt brauchst du nur noch zu warten, bis dich die Polizei abholt,“ sagte sie.

Dieses Foto von unserer Familie muss um 1942 entstanden sein. Ich bin links neben meinem Vater.

Wochenlang waren wir in tiefster Sorge, dass bei uns plötzlich die Polizei oder die Gestapo vor der Tür steht und meinen Vater ins KZ bringt. Ich habe keine Ahnung, warum der SA-Mann nicht zur Polizei gegangen war, aber dass er es nicht getan hatte, war offensichtlich. Jedem von uns saß der Schreck noch in den Gliedern, da nimmt man sich normalerweise etwas zurück, besonders wenn man, wie mein Vater, eine Familie mit Kindern hat. Meine Mutter bat ihn quasi auf Knien darum, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Aber das ging wohl gegen seine Natur.

Ein anderes Mal, als ich ihn nach der Schule in seinem Reformhaus besuchte, grüßte ich laut und zackig, „Heil Hitler“. Das hatte ich nicht aus politischer Überzeugung getan, sondern um meinen Vater zu ärgern, obwohl oder auch weil in diesem Moment mehrere Menschen im Laden waren. Reflexartig verpasste er mir eine saftige Ohrfeige. Wenn ihn einer der anwesenden Kunden hätte denunzieren wollen, wäre das mal wieder eine wunderbare Gelegenheit gewesen. Dazu muss man jedoch wissen, dass unser Reformhaus einen speziellen Kundenstamm hatte. So kam es gelegentlich vor, dass mein Vater seinen Laden mitten in der Geschäftszeit zumachte, um sich mit ein paar Kunden ins Hinterzimmer zurückzuziehen. Was er mit ihnen zu besprechen hatte, wurde vor uns Kindern natürlich verheimlicht. Aber über die Leute, mit denen er sich unterhielt, erfuhr ich später, dass es Genossen von der SPD waren.

Das Geschäft lief nach Ausbruch des Krieges noch schlechter als vorher. Einmal stand ich spät am Abend im Schlafanzug an der angelehnten Tür des Wohnzimmers und sah meine Eltern über ihren Geschäftsbüchern sitzen. Obwohl ich nicht verstand, worüber sie redeten, merkte ich ihnen an, dass sie sich Sorgen machten. Meine Mutter weinte, ich hörte sie sagen: Wie sollen wir das bloß schaffen? Und mein Vater redete flüsternd auf sie ein. In dieser Notlage kam uns im Frühjahr 1943 der Hauptmann Grothe zu Hilfe, dessen Familie in der Nachbarschaft unseres Reformhauses wohnte und dem das Gefangenenlager für feindliche Offiziere in Prenzlau unterstand. Das war eine riesige Kasernenanlage, in der gefangene Offiziere aus sämtlichen Feindstaaten interniert waren, vor allem Russen, Engländer und Franzosen. Da Hauptmann Grothe wusste, dass mein Vater mehrere Sprachen beherrschte, steckte er ihn in eine Uniform und verpflichtete ihn offiziell als Dolmetscher. Unsere materielle Lage wurde dadurch schlagartig besser.

Dass mein Vater jetzt Uniform trug, hinderte ihn allerdings nicht daran, seinen privaten Kampf gegen das Hitler-Regime fortzusetzen. Ein Vorfall ist mir aus dieser Zeit in Erinnerung, weil mein Vater ihn mir später ausführlich erläutert hat. Ich weiß noch, dass ich ihm voller Stolz mein Schreibheft zeigen wollte, weil die Lehrerin mich wegen meiner schönen Schrift gelobt hatte. Er saß in Uniform am Schreibtisch, was ich total ungewöhnlich fand, und schrieb irgendwas. Für mein Heft hatte er überhaupt keinen Blick. Im Gegenteil. Als ich es ihm direkt vor die Nase legte, schrie er mich an, ich sollte mich aus dem Zimmer scheren. Ich verstand die Welt nicht mehr. Normalerweise wollte er alles wissen, was ich in der Schule erlebt hatte. Auch meine Mutter, zu der ich mich geflüchtet hatte, wusste keine Erklärung. Erst lange nach dem Krieg, als wir uns einmal über diesen Vorfall unterhielten, erfuhr ich, was damals passiert war.

Bei einer Razzia im Gefangenenlager hatten Hauptmann Grothe und seine Leute einen Zettel mit englischer Stenographie gefunden, die keiner von ihnen lesen konnte. Ausgenommen mein Vater, der erkannte, dass es sich um eine Liste von Offizieren handelte, die den englischen Boy Scouts angehörten, einer Bewegung, die im Lager bei Todesstrafe verboten war. Er hatte sich gelegentlich mit den Engländern über ihr Land, speziell über Oxford unterhalten, wo er ein Jahr lang studiert hatte. In seinen Augen waren sie keine Feinde, sondern sympathische, gebildete Zeitgenossen. Deshalb wollte er versuchen, sie zu schützen. Um Zeit zu gewinnen, sagte er zu Grothe, ich muss den Zettel mit nach Hause nehmen, um ihn mit Hilfe meiner Bücher zu entziffern. Nach der Razzia ging er von unserer Wohnung aus zur Kaserne zurück und sprach einen der Offiziere an, die auf der Liste standen. Er zeigte ihm den Zettel und sagte:

„Alle, die auf dieser Liste stehen, sind in höchster Gefahr, exekutiert zu werden. Wenn ich Sie und Ihre Kameraden davor bewahren soll, brauche ich einen Zettel mit anderem Inhalt, der aber genauso aussieht wie dieser. Haupmann Grothe darf keinen Unterschied bemerken.“

Der Engländer war anfangs misstrauisch. Er wollte nicht glauben, dass mein Vater es ehrlich meinte und warum er sich unnötig in Gefahr brachte.

„Sie sind gerade im Begriff, Hochverrat an Ihrem Volk zu begehen,“ sagte er. „Wie kann ich Ihnen vertrauen?“

Mein Vater machte ihm klar, dass er keine andere Wahl hatte und sich in dieser Situation nicht zu lange mit Diskussionen aufhalten sollte. Der Offizier trommelte seine Kameraden zusammen und erklärte ihnen, worum es ging. Einer von ihnen schaffte ein Blatt Papier herbei, das dem beschlagnahmten Zettel zumindest ähnlich sah. Mein Vater saß wie auf Kohlen, während die Engländer diskutierten, was sie jetzt schreiben sollten. Das Schriftbild musste nicht unbedingt hundertprozentig so aussehen wie das Original, denn es war nicht davon auszugehen, dass Grothe oder einer seiner Leute es fotografisch genau im Gedächtnis hatte. Aber der Inhalt musste auf jeden Fall plausibel sein. Nach langem Hin und Her hatten sie endlich eine Idee, von der sie meinten, dass sie funktionieren könnte. Einer von ihnen stenographierte auf dem Zettel ein paar Pokervarianten, die er und seine Kameraden sich schon vor einiger Zeit zum Spielen ausgedacht hatten. Mit dem Original als Vorlage bastelten sie einen Zettel, mit dem mein Vater einigermaßen zufrieden war. Nachdem er ihn bei sich zu Hause schriftlich übersetzt hatte, machte er sich mit einem mulmigen Gefühl auf den Weg zu Grothe. Er konnte das Zittern seiner Hände kaum unterdrücken, als er bei ihm im Büro erschien. Deshalb packte er ihm den neuen Zettel samt Übersetzung mit einer schnellen Bewegung auf den Schreibtisch und legte die Hände stramm an die Hosennaht. Grothe saß zurückgelehnt in seinem Schreibtischsessel und taxierte meinen Vater mit zusammengekniffenen Augen, während er nach den beiden Zetteln griff. Wahrscheinlich hatte er meinen Vater noch nie so stramm stehen sehen. Wortlos wandte er sich dem Zettel mit der Übersetzung zu, nahm ihn genauestens unter die Lupe, verglich ihn mit den stenographischen Notizen und gab beides einem Leutnant, der neben ihm stand. Er richtete den Blick wieder auf meinen Vater, der sich inzwischen etwas beruhigt hatte:

„Wie erklären Sie sich das? Das sieht doch nach einem Kartenspiel aus. Kartenspiele haben die Gefangenen aber nicht.“

Auf diesen Einwand war mein Vater vorbereitet.

„Ich vermute,“ schlug er vor, „sie haben sich mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, eine Art Pokerspiel zusammengebastelt, um die Zeit totzuschlagen.“

Grothe, noch immer skeptisch, meinte:

„Das müssen wir nachprüfen. Und dann müssen wir den Tommies wohl mal eine Beschäftigung geben, die sie richtig ausfüllt.“

Das klang wie eine Drohung, aber letztlich entgingen die Engländer ihrer Exekution.

In diesem Haus, Prenzlau, Wittstraße 539, wohnten wir im 3. Stock.

Im Januar 1945 wurde deutlich, dass der Krieg verloren war, auch wenn man es nicht laut sagen durfte. In der Stadt machte sich Unruhe breit. Immer häufiger sah man Leute mit auffallend viel Gepäck zum Bahnhof gehen. Beim Milchmann hörte ich, wie er sich mit einer Kundin über den Krieg in Russland unterhielt. Den Russen dürfen wir hier nicht reinlassen, sagte er. Der frisst uns auf. Und besonders gern frisst er kleine Jungs, fügte er hinzu, als ich meine leere Milchkanne auf den Tresen stellte. Zu Hause fragte ich meinen Vater, ob es stimmt, dass die Russen Menschen fressen. Ach was, lachte er, der Milchmann ist ein alter Nazi. Das Wort Nazi hatte ich schon mal gehört, ohne genau zu wissen, was es bedeutete. Aber ich verstand das so, dass der Milchmann keine Ahnung von den Russen hatte. Wenige Tage später setzten sich Grothe und seine Leute nach Westen ab und nahmen meinen Vater gleich mit.