Bisher bei Schneiderbuch erschienen:
Millenia Magika. Der Schleier von Arken (Band 1)
Millenia Magika. Das Vermächtnis der Raben (Band 2)
Originalausgabe
© 2021 Schneiderbuch in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Falk Holzapfel wird vertreten durch die Agentur Brauer.
Illustrationen und Umschlagidee: Falk Holzapfel
Covergestaltung: Designomicon / Anke Koopmann, München
E-Book-Produktion: Fotosatz Amann, Memmingen
ISBN E-Book 9783505144721
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Das Einzige, was in Arken noch unzuverlässiger war als die Busse, war die Straßenbeleuchtung.
Adrian beugte sich über den Fahrplan an der Bushaltestelle, doch es war einfach zu finster. Frustriert warf er der Gaslaterne daneben einen vernichtenden Blick zu. Sie war ausgefallen, kurz nachdem er an der Haltestelle angekommen war. Normalerweise hätte er jetzt sein Handy aus der Tasche gezogen, aber »normalerweise« war ein Wort, das zu Arken passte wie Zwiebeln zu Pudding.
Na wunderbar, ein Puddingvergleich, jetzt färbte Barnaby schon auf ihn ab.
Adrian seufzte kurz, als er an sein Handy dachte, auf dem alles nur einen Tastendruck entfernt war. Seit sie nach Arken gezogen waren, war es nutzlos. Hier gab es weder Mobilfunknetz noch Internet und, wie ihm die dunkle Laterne bewies, oft nicht einmal Licht.
Adrian versuchte, sich tiefer in seiner Jacke zu verkriechen, und zum wiederholten Mal machte es keinen Unterschied. Er fror. Ihm war so kalt, dass er die Hände unter die Achseln schieben musste und sein Atem Wolken in der Luft bildete. Zumindest nahm Adrian das an. Sicher war er nicht. Sehen konnte er es ja nicht.
Adrian entschied sich, zu Fuß zu gehen, um beim Warten keine Körperteile an den Frost zu verlieren, die er womöglich noch brauchte. Björns Worte, die er sich beim Umzug viel zu oft hatte anhören müssen, schossen ihm bei den ersten Schritten durch den Kopf:
»Wenn dir kalt ist, bewegst du dich einfach zu langsam.«
Dass dem riesigen Nachbarn seiner Tante nie kalt wurde, wunderte Adrian nicht, immerhin wog er das Vierfache, fuhr ein heißes Motorrad und musste nicht vor Sonnenaufgang durch das gefrorene Arken stapfen.
Wenn es wenigstens geschneit hätte … Der Schnee hätte das sparsame Licht der Laternen reflektiert, und der Gehweg wäre erkennbar gewesen. Aber es war nicht eine Flocke gefallen. Dafür war der Boden von einer heimtückischen Eisschicht überzogen, die Adrians volle Aufmerksamkeit forderte. Immer vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, schob er sich über das glatte Kopfsteinpflaster.
Wenn Jazz ihn nicht ohne jede Vorwarnung aus dem Bett geworfen hätte, hätte er sicher daran gedacht, Handschuhe mitzunehmen. Aber er war viel zu sehr mit der Frage beschäftigt gewesen, was sie um diese Uhrzeit von ihm wollte.
»Triff mich am alten Bahnhof, in einer Stunde!«
Das war alles, was die junge Hexe ihm ins Ohr geflüstert hatte, als sie plötzlich nachts vor ihm gestanden war. Er hatte es dreimal wiederholen müssen, bis sie endlich zufrieden war. Natürlich war er viel zu müde gewesen, um nachzufragen, was er vor Sonnenaufgang und bei dieser Eiseskälte draußen an diesem Treffpunkt sollte.
Dafür stellte er sich diese Frage jetzt umso brennender. Das machte doch gar keinen Sinn! Warum der alte Bahnhof, von dem längst keine Züge mehr fuhren? Warum in der Nacht? Und vor allem: Was sollte ausgerechnet er dort?
Adrian rutschte aus, verlor den Halt und konnte sich gerade noch so an einem Baum festkrallen, der die Allee säumte.
Er atmete aus. Wenn das so weiterging, würde er nicht lebendig am Bahnhof ankommen. Doch es half nichts, er musste weiterschlittern. Gerade als er sich ausmalte, wie er zum Eiszapfen erstarrt auf dem Gehweg enden würde, fuhr auch noch der Bus der Linie 2 an ihm vorbei.
Endlich – da war das Tor zur Altstadt, wo es durch die vielen Laternen deutlich heller war. Adrian schleppte sich durch das Tor, folgte der Straße zum Markplatz und stellte fest, dass die ersten Arkener zu dieser frühen Stunde bereits ihre Stände aufbauten. Er war also nicht als Einziger verrückt genug, schon auf den Beinen zu sein.
Adrian lebte inzwischen schon seit einigen Wochen in Arken und kannte sich eigentlich ganz gut aus. Nachdem seine Mutter von Tante Lias »Schlaganfall« gehört hatte, war sie schnell bereit gewesen, mit Adrian und seiner kleinen Schwester zu ihr zu ziehen. Nun wohnten sie gemeinsam in der Villa Nummer 26 in der Eschenallee, die groß genug für die ganze Familie war. Wäre es nach Adrian gegangen, wäre allerdings für Eckart keinen Platz gewesen. Aber seine Mutter hatte ihren Lebensgefährten leider ebenfalls mit nach Arken gebracht. Zum Glück hatte er schnell eine Anstellung als Redakteur beim Arkenspiegel gefunden und war so beschäftigt, dass er Adrian nur noch gelegentlich auf den Wecker ging.
Und so hatten sie in diesem Jahr zum ersten Mal hier und mit Tante Lia gemeinsam Adrians Geburtstag gefeiert. Mit selbst gebackenem Kuchen, peinlichen Liedern und noch peinlicheren Geschenken, so wie es sich gehörte. Über Eckarts Geschenk, ein neues Handy, hatte er sich allerdings kaum freuen können. Das Ding funktionierte in Arken noch schlechter als sein altes und war ziemlich nutzlos. Daher hatte Adrian sich einen alten Stadtplan geschnappt, den er nun immer mit sich trug.
Um zum alten Bahnhof zu kommen, brauchte er ab dem Marktplatz nur der Stadtmauer zu folgen und nach dem großen Gebäude mit dem eingesunkenen Dachfirst Ausschau zu halten.
Noch einfacher wäre es natürlich gewesen, wenn Katze ihm geholfen hätte. Katzenaugen blieb im Dunkeln wenig verborgen. Aber wie so oft in den letzten Wochen war sein »spiritueller Führer«, wie Barnaby ihn nannte, oder »unzuverlässiger Quälgeist«, wie Adrian es ausdrückte, nicht da. Wenn nur auch die Katzenträume mit ihm verschwunden wären …
Als Adrian kräftig gegen einen lockeren Pflasterstein stieß, meldeten sich schmerzhaft seine Zehen und überzeugten ihn, dass sie noch nicht abgefroren waren. Während er versuchte, auf einem Bein das Gleichgewicht zu halten und sich irgendwie den schmerzenden Fuß zu reiben, sah er endlich das baufällige Dach des Bahnhofs vor sich. Er bog in eine schiefe Gasse, wich mäßig geschickt der Weihnachtsdekoration aus und trottete zu dem großen Platz, der nicht so leer war, wie er zu dieser Zeit sein sollte.
Im Schein der Gaslaternen konnte Adrian zwei Silhouetten ausmachen. Die eine war Jazz, und auch die andere Person kam ihm bekannt vor.
Den ganzen Weg über hatte er sich überlegt, was er Jazz zuerst an den Kopf feuern sollte.
Hast du vergessen, dass jeder, der keine Hexe ist, sehr wohl an Erfrierungen sterben kann?
Vielleicht zu dramatisch.
Schön, dass dir die letzten Wochen ohne Entführungen, Verzehrer und Ghulkrieg zu langweilig waren. Ich habe aber überhaupt nichts gegen Langeweile, ein warmes Bett und Schlaf!
Hmm, zu zickig.
Doch er kam gar nicht dazu, nach einer passenden Reaktion auf ihren nächtlichen Überfall zu suchen.
»Adrian, das hat ja ewig gedauert. Wieso hast du denn nicht den roten Blitz genommen?«
Adrian war viel zu perplex, um zu reagieren. Motzte Jazz ihn jetzt wirklich an? Und musste sie dieses Geburtstagsgeschenk erwähnen?
Die Gestalt neben Jazz hob die Hand. Im Licht der Laterne erkannte Adrian jetzt, um wen es sich handelte. Arvid der Ghul, der König der Unterstadt, der sie vor dem Angriff der Siechen gewarnt hatte. Seine Verletzungen waren offensichtlich verheilt, doch an seinem Gesicht konnte man ablesen, dass die letzten Wochen nicht einfach für ihn gewesen waren. Seine Haut wirkte noch blasser, beinahe schneeweiß. Dafür fielen in dem fahlen Licht seine geflickten Klamotten weit weniger auf.
»Adrian hat von Björn ein ganz wunderbares Geburtstagsgeschenk bekommen«, erklärte Jazz bereitwillig.
»Wunderbar?« Adrian war sich nicht sicher, ob sie ihn verspottete. »Das einzige Wunder an dem Ding ist, dass Björn glaubt, ich würde mich da draufsetzen.«
»Ach komm schon, Adrian.« Jazz schüttelte den Kopf. »Weißt du, wie lange Björn an dem Rad gearbeitet hat? Er hat es sogar neu für dich lackiert. Und du kannst damit super Erledigungen für die Magista machen.«
»Was ist denn super daran, den Laufburschen zu spielen? Meine Freizeit muss ich doch eh schon mit Hausaufgaben verbringen. Und zwar mit denen, die mir Tante Lia zusätzlich aufbrummt! Jetzt soll ich in der restlichen Zeit auch noch Bücher ausliefern?!« Adrian stöhnte. »Außerdem sieht das Ding aus wie eine fehlgeschlagene Kreuzung aus Tiefkühltruhe und Dreirad. Wer braucht denn ein Rad mit drei Rädern und Transportkiste? Und dann ist es auch noch rot, als wenn es nicht so schon auffällig genug wäre.«
Arvid grinste. »Ich glaube, ich werde bald ein paar Bücher bei der Magista bestellen, damit ich das Rad zu Gesicht bekomme. Lieferst du auch in die Unterstadt?«
Die Vorstellung, noch mal in die von Ghulen bevölkerten Tunnel der Unterstadt hinabzusteigen, ließ Adrian frösteln.
»Ich schenke dir das Lastenrad gerne, bei euch dort unten fällt die rote Farbe bestimmt nicht so auf«, sagte er.
»Du solltest aufpassen, was du mir anbietest, Adrian«, erwiderte der Ghul lächelnd. »Wir Unterstädter nehmen, was wir kriegen können, und haben für alles Verwendung, was ihr hier oben nicht mehr braucht.«
Tatsächlich wusste Adrian, dass es die Ghule nicht leicht hatten. Er hatte gesehen, mit welchem Schrott dort unten gehandelt wurde. Sein Geburtstagsgeschenk wäre dort sicher ein Highlight. Um das Thema zu wechseln, fragte er:
»Also, Jazz, magst du mir jetzt mal erklären, warum du mich mitten in der Nacht dem Kältetod aussetzt und mich hierher bestellst?«
Jazz warf einen Blick über den Vorplatz und in die dunklen, gewundenen Gassen, als wenn sie nach jemandem Ausschau hielte. Aber zwischen den Fachwerkfassaden pendelten nur die Blechschilder der noch geschlossenen Geschäfte. Sie schnaubte.
»Eigentlich wollte ich damit warten, bis er hier ist. Aber offensichtlich schafft er es, sogar noch später zu kommen als du.« Dabei zeigte sie mit ihren selbst gestrickten Fausthandschuhen auf Adrian. »Die Magista, also deine Tante, ist seit dem …«, sie suchte nach einem passenden Wort, schüttelte dann aber nur den Kopf, »… seit dem Unfall nicht mehr dieselbe.«
Adrian hob eine Augenbraue. Jeder hatte bemerkt, dass seine Tante an jenem Abend um Jahrzehnte gealtert war. Es war auch nicht das erste Mal, dass Jazz mit ihm darüber sprach.
»Adrian, es ist nicht nur, dass sie vor ihrer Zeit gealtert ist. Sie wird schwächer. Noch ist sie die mächtige Hexe, die Arken beschützt. Aber jetzt braucht sie mehr von ihrer Kraft für sich selbst.«
Adrian nickte. Er dachte an die zitternden Teetassen in den Händen der Tante, an Bücher, die plötzlich zu Boden fielen, und den Mittagsschlaf, den sie neuerdings einlegte.
»Was schlägst du also vor?«
»Wir müssen ihr etwas von der Last abnehmen.«
»Aber das machen wir doch schon. Meine Mutter und ich sind schließlich extra hergezogen, sie hilft ihr in der Buchhandlung, und ich übernehme die Buchlieferungen.«
Die Hexe blies eine Wolke Atemluft in die Nacht. »Ja, Adrian. Aber das reicht nicht. Die Aufgabe deiner Tante ist es, Arken zu beschützen, nicht, Bücher zu verkaufen.«
Adrian rieb sich die Hände, um die tauben Finger aufzuwärmen. »Und wie, meinst du, sollten wir Arken an ihrer Stelle beschützen?«
Er sah Jazz an, doch die Antwort gab jemand anderes.
»Wir sorgen für Frieden.«
Ein kleiner Mann war zu ihnen gewatschelt, ohne dass sie es bemerkt hatten. Sein struppiger Bart füllte die untere Hälfte des Gesichts aus, während die obere unter einer fusseligen Strickmütze verschwand. Er schien alles, was er an Kleidung besaß, übereinandergezogen zu haben. Dass er zwei verschiedene Stiefel trug, schien ihn nicht im Geringsten zu stören.
»Barnaby, endlich. Wir waren schon vor einer halben Stunde verabredet«, schimpfte die Hexe, während der zerlumpte, kleine Mann gerade herzhaft in einen Apfel biss.
»Pah, Pünktlichkeit wird völlig überbewertet. Das ist nur was für Leute, die nichts zu tun haben.«
»Wer pünktlich ist, ist unhöflich«, ergänzte Adrian, »weil er denjenigen, der unpünktlich ist, in eine unangenehme Lage bringt. Wer höflich ist, kommt deshalb zu spät.« Das war die erste Lektion, die er von Barnaby gelernt hatte. Der Igelschamane grinste ihn mit einer Mischung aus Verblüffung und Stolz an. Dann zauberte er einen Apfel aus einer seiner Tasche und warf ihn Adrian zu.
»Und das ist der Grund«, er deutete mit seinen Stummelfingern auf Jazz, »warum Adrian einen Apfel bekommt und du nicht.«
Adrian grinste Jazz herausfordernd an und biss hinein.
Jazz schüttelte nur den Kopf und räusperte sich.
»Jetzt, wo wir alle hier sind, sollten wir unsere Taktik besprechen. Wichtig ist, vorsichtig und überlegt zu handeln.«
Bei diesen Worten sah Jazz zu Barnaby, der ihren Blick erwiderte, als hätte sie verkündet, dass Pudding lecker sei.
»Äh, Taktik?«, fragte Adrian, »was denn für eine Taktik? Warum sind wir denn überhaupt hier? Ich …«
»Ach, was«, schnitt ihm Barnaby das Wort ab. »Für derlei Kleinigkeiten ist keine Zeit. Bald geht die Sonne auf, dann wird der Bratapfelstand eröffnet, und das werde ich nicht verpassen.«
Und schon marschierte er mit seinen kurzen Beinen auf den Bahnhof zu, worauf Jazz ihm sofort hinterhersprang.
Arvid zog Adrian über den schummrigen Bahnhofsvorplatz mit sich. Dann schien er den fragenden Blick des Jungen zu bemerken und begann zu erzählen.
Umso mehr Arvid ihm erklärte, desto dringender wollte Adrian umdrehen. Als sie den Igelschamanen und die Hexe endlich eingeholt hatten, wünschte sich Adrian, sein Bett nie verlassen zu haben. Ihm klapperten die Zähne, und zwar nicht nur wegen der Kälte.
»Ist das euer Ernst?«, fragte er mit großen Augen. »Die Ghule, die mit Latit die Wehrwölfe angegriffen haben, haben die Unterstadt verlassen und sich hier im Bahnhof eingenistet?« Er starrte die anderen an. »Und wir sollen mit ihnen verhandeln und einen Pakt schließen, bevor die Sonne aufgeht und Arvid Sonnenbrand bekommt?«
Adrian schüttelte ungläubig den Kopf. Hatten die drei anderen denn vergessen, was damals im Wald passiert war? Er selbst hatte die Bilder der gewaltigen Siechen, die im Arkener Forst Autos umwarfen, noch immer vor Augen.
Arvid legte kurz den Kopf schief, dann nickte er langsam.
»Ja, so könnte man es zusammenfassen.«
Jazz hob beschwichtigend die Fausthandschuhe.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich übernehme das Reden. Ich habe alles vorbereitet und aufgeschrieben.« Sie klopfte dabei auf das Buch, das sie immer bei sich trug. »Du sollst einfach nur zuhören, damit du verstehst, um was sich deine Tante alles kümmern muss. Latit und die anderen Ghulen sind nicht nur im Bahnhof, sie bewegen sich in der Umgebung und sind sogar auf dem Jahrmarkt gesehen worden. Außerdem gibt es immer wieder Stress mit Arvids Unterstädtern, von den Wehrwölfen ganz zu schweigen. Das muss aufhören, sonst werden sogar die gutmütigen Arkener misstrauisch! Und die Magika dürfen kein weiteres Aufsehen bei den Löffeln erregen. Jetzt, wo deine Tante und der Schleier geschwächt sind, sind wir sonst alle in Gefahr!«
Adrian wünschte sich spontan an einen fernen Ort, während die anderen ernst nickten.
»Worauf warten wir also noch?«, fragte Barnaby, und ohne auf eine Antwort zu warten, hämmerte er an das Tor.
»Überlasst mir das Reden!«, schärfte Jazz allen ein.
Quietschend öffneten sich die beiden Torflügel. Innen roch es muffig nach morschem Gebälk, abgestandenem Wasser und Lagerfeuer. Nur vereinzelt glommen Öllampen und kleine Feuerstellen auf. Das Schnaufen und Scharren im Innern machte deutlich, wie viele aus der Unterstadt sich entschieden hatten, Latit zu folgen.
Zwei mit selbst gebauten Waffen gerüstete Ghule traten zur Seite und ließen die Besucher ein. Weitere Lampen wurden entzündet und offenbarten ein provisorisches Lager. Durch Löcher im Dach fiel Sternenlicht ins Innere. Fische hingen an Schnüren über Tonnen, aus denen Glut leuchtete. In einem aus Einkaufswagen erbauten Regal stapelten sich Konservendosen. Holzscheite waren rings um die Säulen gestapelt, die das Dach trugen. Und überall aus der Dunkelheit funkelten ihnen Augenpaare entgegen. Unverständliches Gemurmel drang tiefer aus dem Gebäude.
Wo war Katze, wenn man sie brauchte? Dies wäre wirklich der richtige Moment, um im Dunkeln sehen zu können, dachte Adrian. Wenn er wenigstens die gelangweilte, altkluge Stimme hören könnte, die ständig Fragen mit Fragen beantwortete. Er lauschte in sich hinein, hörte aber nichts außer seinem eigenen unruhigen Herzschlag.
Fackeln näherten sich, und weitere Ghule eskortieren sie tiefer in das Gebäude. Eine Frau kam mit einem Holzhammer in der Faust auf sie zu. Adrian zuckte zusammen. Doch sie lief an ihnen vorbei und begann, auf etwas einzuhämmern, das wie ein schmales Kanu aussah. Als sie unter Fischernetzen hindurchliefen, ahnte er, wie die Ghule ihren Hunger stillten.
Schließlich wurde die Gruppe über einen Bahnsteig in einen Raum geführt, der früher wohl einmal ein Schnellimbiss gewesen sein mochte. Mehrere Ghule hockten auf verankerten Tischen und aufgeplatzten Polstern. Sie wirkten kräftiger und besser genährt als jene in der Unterstadt. Adrian wurde sich schmerzhaft bewusst, wie tief im Innern des Gebäudes sie mittlerweile waren. Ob sie je wieder hinauskamen, hing jetzt vom Wohlwollen der Ghule ab.
Zumindest gewöhnten sich seine Augen langsam an das Halbdunkel. Adrian sah fleckige Plakate an den Wänden, die ausgeblichene Burger und farblose Pommes bewarben. Öllampen baumelten von der Zwischendecke, und auf einem der Tische lagen ausgenommene Fische.
Dann sah er sie.
Hinter der Verkaufstheke stand Latit, die Ghulfrau, die ihn damals im Wald angegriffen hatte. Sie hatte sich mit beiden Armen auf den Tisch gestützt und studierte einen Stadtplan, der ganz ähnlich aussah wie der, den Adrian besaß.
»Ihr seid also tatsächlich gekommen«, sagte sie statt einer Begrüßung und blickte jedem der Neuankömmlinge in die Augen. Als ihr Blick Arvid streifte, verzog sie den Mund.
»Wir kennen uns ja schon, Oberstädter.«
Sie fuhr sich mit einem Finger über die Brandnarbe im Gesicht.
Adrian erstarrte.
Es wurde noch stiller als zuvor. Die Ghule griffen nach ihren Waffen. Barnaby gab ein gefährliches Brummen von sich. Adrian sah, wie sich silberner Nebel über das Gesicht des Zwergs legte und sich langsam zum Kopf eines Tieres verdichtete. Er wusste, dass nur er dies sehen konnte, doch die Gefahr, die plötzlich von dem struppigen Zwerg ausging, schien auch den Ghulen nicht zu entgehen. Auf einmal richtete sich Latit auf. »Keine Angst, Oberstädter. Dir geschieht nichts. Heute haben wir Wichtigeres zu besprechen als die Vergangenheit. Aber ich habe nicht vergessen, was in jener Nacht geschehen ist, Adrian Eisenhut.«
Bevor Adrian reagieren konnte, richtete sich auch Jazz auf. Ihr Buch lag aufgeschlagen in ihrer Hand, und sie begann zu lesen. »Latit, ich spreche im Namen von Magista Eisenhut, um einen Pakt mit dir zu schließen. Einen, der allen Bewohnern Arkens Frieden und Sicherheit bringt.«
Die Ghulfrau grunzte, und ihre Zähne blitzten im Dunkel.
»Mir egal, wer dich schickt. Mir egal, wer du bist, Hexe. Ich weiß genau, was ihr von uns wollt. Aber wir bleiben in der Oberstadt. Wir werden uns nicht länger wie Ratten in den Tunneln verstecken!«
Ihr Seitenblick auf Arvid verfehlte seine Wirkung. Der Ghulkönig blickte sie nur aus kühlen Augen an.
Jazz zögerte kurz, dann zog sie einige Papiere aus ihrem Buch. »Ich habe hier einige Listen mit wesentlichen Punkten, über die wir uns einigen sollten, wenn ihr in Arken bleiben wollt: Aufenthaltsbeschränkungen, eingeschränktes Bleiberecht, Maßnahmen zur Ernährung und Ausrüstung, Grundsätze der Stadtverordnung …«
Barnaby schob sich an ihr vorbei und warf sich den Rest des Apfels in den Mund, ehe er sich die klebrigen Finger an der Theke abwischte. »Ihr bleibt im Bahnhof, lasst aber den Jahrmarkt und alle Bewohner Arkens in Ruhe.«
Latit nickte. »Einverstanden. Dafür gehören uns der Bahnhof und alle angrenzenden Gassen. Und wir bekommen das Recht, im Grundsee zu fischen und unsere Beute auf dem Markt zu verkaufen.«
Barnaby hielt den Kopf schief. »Gut, aber ihr dürft nur an bedeckten Tagen oder nachts durch die Oberstadt laufen oder Handel betreiben. Und ihr dürft euch niemandem zu erkennen geben.«
»Wollen wir eh nicht«, stimmte Latit zu.
»Ihr lasst die Unterstädter in Frieden und dürft nur auf Einladung unser Gebiet betreten«, meldete sich Arvid zu Wort.
»Und jeder von euch, der beginnt, der Sieche anheimzufallen, wird in die versiegelten Tunnel verbannt. Wird auch nur ein Siecher in Arken gesehen, seid ihr alle aus Arken verbannt«, stellte Jazz klar.
Latit zögerte. Ihr Blick schweifte über die versammelten Ghule. Schließlich nickte sie.
»Abgemacht!« Sie ergriff den Unterarm der überraschten Hexe und schüttelte ihn. Adrian blickte von Latit zu Jazz. Das war deutlich schneller gegangen als erwartet, fand er. Zu schnell? Ihm entging auch nicht der Blick, den Latit ihm zuwarf, nachdem sie Jazz’ Unterarm losließ. Es war ein taxierender Blick … wie der, dem man einem nicht ganz frischen Fisch zuwarf.
Barnaby gähnte ausgiebig, offenbarte dabei einen Anblick, auf den alle Anwesenden gern verzichtet hätten, und ließ seine Finger knacken. Obwohl er ihnen kaum zur Brust ging, schob er einen der Ghule beiseite.
»Dann ist das ja geklärt. Bratapfel, ich komme!«