Iwan Turgenjew: Aus der Jugendzeit. Drei Erzählungen
Übersetzt von Adolf Gerstmann
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Unbekannter Künstler, Illustration eines russichen Märchenbuches, um 1900
ISBN 978-3-7437-1322-2
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-1291-1 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-1292-8 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck dieser Übersetzung von Adolf Gerstmann: Berlin, 1887. Die Rechtschreibung wurde für die vorliegende Neuausgabe behutsam modernisiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Es ist nun schon eine ganze Reihe von Jahren her, daß etwa vierzig Werst von unserer Besitzung auf seinem Erbgute Suchodol ein entfernter Verwandter meiner Mutter lebte; er war in seiner Jugendzeit Gardeoffizier gewesen, hatte dann, da er ein ziemliches Vermögen besaß, als es ihm beim Militär nicht mehr gefiel, seinen Abschied nehmen und sich der Bewirtschaftung seines Gutes widmen können – und hieß Alexis Sergejewitsch Telegin.
Da er niemals sein Haus verließ, so kam er natürlich auch nicht zu uns auf Besuch; mich aber schickten meine Eltern zweimal in jedem Jahre zu ihm, um ihm, als dem ältesten Familienmitglied, eine Aufmerksamkeit zu erweisen. Anfänglich machte ich diese Besuche in Gesellschaft meines Erziehers, später allein. Der alte Herr nahm mich immer mit ausnehmender Freundlichkeit bei sich auf, und gewöhnlich dehnte sich mein Besuch so aus, daß ich gleich drei bis vier Tage bei ihm blieb.
Als ich ihn kennen lernte, war er bereits ein Greis; bei meinem ersten Besuche in Suchodol zählte ich erst zwölf Jahre, während er schon ein Siebziger war. Sein Geburtsjahr fiel zusammen mit dem letzten Regierungsjahr der Kaiserin Elisabeth.
Er lebte ganz allein mit seiner Gattin Melania Pawlowna, die etwa zehn Jahre jünger als er selbst sein mochte. Aus ihrer Ehe waren zwei Töchter entsprossen, diese waren aber beide schon seit langen Jahren verheiratet und kamen nur höchst selten einmal auf das Gut; zwischen ihren Eltern und ihnen war, wie das russische Sprichwort sagt, eine schwarze Katze hindurchgelaufen, und daher mochte es wohl auch kommen, daß Alexis Sergejewitsch nur in ganz vereinzelten Fällen seine Kinder erwähnte.
Ich sehe im Geiste noch immer das alte Gebäude vor mir, das aber trotz aller seiner Eigentümlichkeiten doch so recht den Eindruck eines Herrensitzes machte, wie ihn unsere Steppenjunker lieben. Das Haus war nur einstöckig, hatte aber gewaltige Plattformen und Galerien; zu Anfang dieses Jahrhunderts war es aus kolossal dicken Fichtenstämmen aufgerichtet worden. Aus den ehemaligen Schisdrinskischen Wäldern, von denen heute auch nicht mehr die kleinste Spur übrig geblieben ist, waren die Baumriesen herbeigeschafft worden. Das Haus war sehr geräumig und enthielt eine Unmasse Zimmer und Kammern, die allerdings, um die Wahrheit zu sagen, durchgängig sehr niedrig und auch ziemlich dunkel waren. Um den Winterfrost nach Möglichkeit fernzuhalten, hatte man nur äußerst kleine Fensteröffnungen in den Wänden angebracht. Nach dem allgemeinen Gebrauche – jetzt muß man allerdings sagen: nach dem damaligen allgemeinen Gebrauche, war das Herrenhaus von allen Seiten von Dienerwohnungen und Wirtschaftsgebäuden umgeben. Auch ein Garten war in nächster Nähe, und wenn er auch nur klein war, so enthielt er doch einzelne Bäume mit ausgezeichnetem Obst – hier wuchsen die saftigsten Äpfel und die schmackhaften Birnen ohne Kerne.
Zehn Werst im Umkreise erstreckte sich die einförmige, ebene Steppe; fettes, schwarzes Erdreich, ohne die geringste Abwechselung, keinen einzigen hervorragenden Gegenstand konnte das Auge erblicken, so weit es auch in der Runde streifte – keinen Baum, nicht einmal einen Kirchturm. Nur weit, weit hinten am Horizont gewahrte man die Umrisse einer Windmühle mit durchbrochenen Flügeln.
Alle Räume des Hauses waren mit altmodischen, einfachen, an Ort und Stelle angefertigten Möbeln angefüllt. Eigentümlich nahm sich im Salon ein in der Nähe des Fensters befindlicher Meilenstein aus mit folgender Inschrift: »Wenn du diesen Salon achtundsechzig Mal durchschreitest, hast du eine Werst zurückgelegt; wenn du siebenundachtzig Mal von der äußersten Ecke dieses Salons bis zur rechten Ecke des Billards gehst, so hast du ebenfalls eine Werst zurückgelegt« u.s.w.
Was aber jedem, der dem Herrenhause zum ersten Male einen Besuch abstattete, am allermeisten auffiel, das war die große Menge von Bildern, die ringsum an allen Wänden hingen; es waren zum größten Teil Werke von Meistern aus der sogenannten älteren italienischen Schule – Landschaften, mythologische und religiöse Darstellungen. Da aber alle Gemälde außerordentlich nachgedunkelt hatten – zum großen Teil hatte sich sogar die einst glatte Fläche der Leinwand geworfen – so konnte das Auge nichts unterscheiden, als einzelne fleischfarbene Flecke, hier und da wohl auch eine rote Draperie, die um einen unsichtbaren Rumpf geschlungen sein mochte, einen dem Anschein nach in der Luft schwebenden Bogen, einen zerzausten Baum mit fast blau erscheinendem Laube, oder auch die Brust einer Nymphe, dem Deckel einer Suppenterrine vergleichbar; oder wohl auch eine zerschnittene Melone mit ihren schwarzen Kernen, einen Turban mit Feder oberhalb eines Pferdekopfes, oder endlich das Bruchstück einer Apostelfigur, ein zimmtfarbenes Bein mit kräftiger Wade und dicken, nach oben gerichteten Zehen.
Den Ehrenplatz im Salon nahm das lebensgroße Portrait der Kaiserin Katharina II. ein, eine Kopie des bekannten Lampischen Bildes. Es war der Gegenstand der besonderen Verehrung, ja – man kann ohne Übertreibung fast sagen: der Anbetung und Vergötterung seitens des Hausherrn. Von den Decken hingen Kronleuchter von Bronze mit gläsernem Aufputz herab, die alle sehr klein und auch sehr staubig waren.
Alexis Sergejewitsch Telegin war ein kleines, untersetzt gebautes, rundliches Männchen mit vollem, etwas blassem, aber doch recht angenehmem Gesicht, schmalen Lippen und mit dichten Brauen über den kleinen, äußerst lebhaft blickenden Augen. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, pflegte er nach hinten über zu kämmen. Erst im Jahre 1812 hatte er aufgehört, das Haar zu pudern. Seine Kleidung bildete unabweislich ein grauer Mantel mit drei auf die Schulter fallenden Kragen, eine gestreifte Weste, hirschlederne Beinkleider, dunkelrote Saffianstiefel mit herzförmigem Ausschnitt und Quasten am oberen Schäftenrand; außerdem trug er ein weißes baumwollenes Tuch um den Hals geschlungen, ein Jabot, Manschetten und endlich zwei große englische Uhren – in jeder Westentasche befand sich eine. Für gewöhnlich hielt er in der rechten Hand eine emaillierte Tabakdose mit spanischem Tabak; die Linke stützte sich auf einen Stock, dessen silberner Knopf vom langen Gebrauche so abgerieben war, daß er ordentlich glänzte.
Telegins Stimme war näselnd und dünn; er lächelte beständig. Sein Lächeln hatte einen freundlichen Ausdruck, aber auch etwas Herablassendes und einen leisen Beigeschmack von Selbstgefälligkeit. Dünn und fein, wie sein Sprechen, hörte sich auch sein Lachen an. Er hatte die Lebensart aus der Zeit der Kaiserin Katharina beibehalten, und deshalb war er in höchstem Maße höflich und artig; auch alle seine Bewegungen waren langsam und wie abgemessen und abgerundet. Die Schwäche seiner Füße hinderte ihn daran, zu gehen; er konnte nur mit kleinen Schritten von einem Sessel zum andern trippeln, und auf diesen ließ er sich dann wieder nieder, oder vielmehr er fiel in den Sessel, der weich und elastisch wie ein Kissen war.
Telegin machte, wie ich schon erzählt habe, keine Besuche und hatte auch mit seinen Nachbarn fast gar keinen Verkehr, obgleich er die Gesellschaft und Geselligkeit liebte, denn er war von Natur etwas redselig, um nicht geschwätzig zu sagen. An Gesellschaft fehlte es in seinem Hause auch nie; da fanden sich mehrere Nikanor Nikanoritsche, Sebastej Sebastejewitsche, Fidulitsche, Michailowitsche u.s.w. – lauter verarmte Landjunker. Sie lebten unter seinem Dache und trugen zum Teil sogar die von ihm abgelegten Mäntel und Beinkleider. Im andern Teile des Hauses lebte eine hübsche Anzahl heruntergekommener Edelfrauen; sie trugen Kattunkleider, dunkle Tücher und hielten ihre baumwollenen Arbeitsbeutel zwischen den zusammengepreßten knöchernen Händen – das waren nun wieder die verschiedenen Awdolias, Pelagias u.s.w. Alexis Sergejewitsch war so gastfrei, daß an seinem Tische fast niemals weniger als fünfzehn Personen vereint waren.
Unter all' diesen, die hier aus Mitleid und Erbarmen ernährt wurden, traten besonders Persönlichkeiten durch ihre Eigenart hervor: ein Zwerg, der den Beinamen Janus oder der Zweigesichtige führte, dänischer oder, wie einige behaupteten, jüdischer Abstammung, und ferner der verrückte Fürst L.
Im Gegensatz zu den Sitten und dem Gebrauche der damaligen Zeit diente der Zwerg durchaus nicht etwa dem Hausherrn als ein Gegenstand des Amüsements oder als Narr. Gerade das Gegenteil war der Fall; Janus war immer schweigsam, sah finster und verdrossen darein, zog die Augenbrauen zusammen, runzelte die Stirn und knirschte mit den Zähnen, sobald irgend jemand sich einfallen ließ, eine Frage an ihn zu richten. Alexis Sergejewitsch nannte ihn »den Philosophen« und hatte in gewissem Sinne sogar Hochachtung vor ihm. Bei Tisch wurden, sobald die Herrschaft und die Gäste bedient waren, die einzelnen Schüsseln ihm zuerst vorgesetzt.
»Gott hat ihn heimgesucht«, pflegte Telegin zu sagen, »das war der göttliche Wille. Um so weniger darf ich oder ein anderer noch wagen, ihm zu nahe zu treten.«
»Warum halten Sie ihn denn eigentlich für einen Philosophen?« fragte ich einst. Janus konnte mich nicht leiden; sobald ich mich ihm nur näherte, wurde er ärgerlich und brummte mit heiserer Stimme: »Laß mich in Frieden, aufdringlicher Mensch!«
»Weshalb soll er, Gott behüte, kein Philosoph sein?« antwortete mir Telegin. »Beachte doch nur einmal, mein Junge, wie gut er zu schweigen versteht.«
»Und weshalb nennt man ihn den Zweigesichtigen?«
»Deshalb, mein Junge, weil er ein Gesicht nur nach außen zeigt – und nach diesem beurteilt ihr ihn natürlich, ihr Naseweise. Er hat aber noch ein anderes Gesicht, das ist sein wirkliches. Dieses verbirgt er. Ich kenne es einzig und allein, und ich liebe ihn deswegen auch, denn dieses zweite Gesicht ist ein gutes Gesicht. Du siehst z.B. hin, und nimmst doch nichts wahr; ich aber, ich sehe und erkenne alles, was in ihm vorgeht, auch wenn er kein Wort spricht. Ich erkenne es sofort, wenn er mit mir unzufrieden ist. Er ist sehr streng, aber er hat immer Recht. Du, mein Bürschchen, kannst das natürlich nicht begreifen, aber glaube es nur, wenn es ein so alter Mann sagt, wie ich es bin.«
Die wirkliche Geschichte des Zwerges Janus – woher er stammte, auf welche Weise er zu Telegin ins Haus gekommen war – blieb aller Welt ein Geheimnis. Dagegen war die Geschichte des Fürsten L. uns allen wohl bekannt.
Er stammte aus einer reichen und sehr angesehenen Familie, war im Alter von zwanzig Jahren nach Petersburg gekommen und in ein Garderegiment eingetreten. Gleich beim ersten großen Empfange im Schlosse bemerkte ihn die Kaiserin Katharina; sie blieb vor ihm stehen, und indem sie mit dem Fächer auf ihn deutete, sagte sie laut zu einem Herrn ihres Gefolges: »Sieh doch nur, Adam Wassiljewitsch, welch' ein hübscher Mensch das ist. Man glaubt wirklich, eine Puppe vor sich zu haben.«
Dem armen jungen Mann drehte sich alles vor den Augen im Kreise herum. Kaum war er in seiner Wohnung wieder angelangt, als er auch schon den Wagen anspannen ließ, und nachdem er das Band des Annenordens angelegt hatte, fuhr er in der Stadt spazieren mit der Miene und den Manieren eines, der bereits der erklärte Günstling geworden.
»Fahr' über alle hinweg!« schrie er seinem Kutscher zu. »Hörst du wohl? Du sollst über alle hinwegfahren, die mir nicht ausweichen!«
Das wurde natürlich zur Kenntnis der Kaiserin gebracht. Die Folge davon war, daß der junge Mann für toll erklärt und zweien seiner Brüder zur Bewachung übergeben wurde. Diese machten auch nicht viel Federlesens, brachten ihn aufs Land, schlossen seine Füße mit Ketten aneinander und sperrten ihn in ein steinernes Gewahrsam. Da sie das Vermögen des Bedauernswerten für sich selbst haben wollten, so hielten sie ihn auch dann noch gefangen, als er schon längst wieder zur Vernunft gekommen war. Schließlich war er so lange, unter dem Verdacht wahnsinnig zu sein, festgehalten worden, bis er tatsächlich den Verstand verlor.
Dieser niederträchtige Streich brachte ihnen aber keinen Vorteil. Fürst L. überlebte seine Brüder und nach zahllosen Schwierigkeiten und Scherereien kam er endlich, halb durch Zufall, unter die Vormundschaft Telegins, der auf irgend eine Weise mit ihm verwandt war. Er war ein dicker, vollkommen kahlköpfiger Mann mit langer, spitzer Nase und blauen aus dem Kopfe hervorstehenden Augen. Er hatte das Sprechen mit der Zeit vollkommen verlernt und stieß nur unartikulierte Laute aus. Aber zum Singen hatte er bis ins hohe Alter eine treffliche, silberhell klingende Stimme sich bewahrt und russische Volkslieder trug er wirklich entzückend vor. Beim Singen brachte er auch jedes einzelne Wort vollkommen klar und wohllautend zum Ausdruck.
Von Zeit zu Zeit hatte er Anfälle von Tobsucht und dann war er wahrhaft schrecklich. Er stellte sich dann in eine Ecke, drehte das Gesicht der Wand zu und stieß, während sein Gesicht rot und schweißbedeckt war und sogar die Glatze dunkelrot erschien, ein gellendes Lachen aus, stampfte mit den Füßen und befahl, irgend jemanden – wahrscheinlich hatte er dabei seine Brüder im Sinn – aufs Allerstrengste zu bestrafen.