Hugo von Hofmannsthal: Andreas oder die Vereinigten

 

 

Hugo von Hofmannsthal

Andreas

oder die Vereinigten

 

 

 

Hugo von Hofmannsthal: Andreas oder die Vereinigten

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Claude Monet, Der Palazzo Contarini, 1908

 

ISBN 978-3-7437-1266-9

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1247-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1248-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Fragmente. Entstanden 1907–1927. Teildruck in: Corona (München, Zürich), 1. Jg., 1. Heft. Erste Buchausgabe Berlin (S. Fischer) 1932.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen. Herausgegeben von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1979.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Die wunderbare Freundin

Es hat in unsrer Mitte Zauberer

Und Zauberinnen, aber niemand weiß sie.

Ariost

 

»Das geht gut«, dachte der junge Herr Andreas von Ferschengelder, als der Barkenführer ihm am 7. September 1778 seinen Koffer auf die Steintreppe gestellt hatte und wieder abstieß, »das wird gut, läßt mich der stehen, mir nichts dir nichts, einen Wagen gibts nicht in Venedig, das weiß ich, ein Träger, wie käme da einer her, es ist ein öder Winkel, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Als ließe man einen um sechs Uhr früh auf der Rossauerlände oder unter den Weißgärbern aus der Fahrpost aussteigen, der sich in Wien nicht auskennt. Ich kann die Sprache, was ist das weiter, deswegen machen sie doch aus mir was sie wollen! Wie redt man denn wildfremde Leute an, die in ihren Häusern schlafen – klopf ich an, und sag: Herr Nachbar?« Er wußte, er würde es nicht tun, – indem kamen Schritte näher, scharf und deutlich in der Morgenstille auf dem steinernen Erdboden; es dauerte lange, bis sie näher kamen, da trat aus einem Gäßchen ein Maskierter hervor, wickelte sich fester in seinen Mantel, nahm ihn mit beiden Händen zusammen und wollte quer über den Platz gehen. Andreas tat einen Schritt vor und grüßte, die Maske lüftete den Hut und zugleich die Halblarve, die innen am Hut befestigt war. Es war ein Mann, der vertrauenswürdig aussah, und nach seinen Bewegungen und Manieren gehörte er zu den besten Ständen. Andreas wollte sich beeilen, es dünkte ihn unartig, einen Herrn, der nach Hause ging, zu dieser Stunde lang aufzuhalten, er sagte schnell, daß er ein Fremder sei, eben vom festen Land herübergekommen, aus Wien über Villach und Görz. Sogleich erschien ihm überflüssig, daß er dies erwähnt hatte, er wurde verlegen und verwirrte sich im Italienischreden.[198]

Der Fremde trat mit einer sehr verbindlichen Bewegung näher und sagte, daß er ganz zu seinen Diensten sei. Von dieser Gebärde war vorne der Mantel aufgegangen, und Andreas sah, daß der höfliche Herr unter dem Mantel im bloßen Hemde war, darunter nur Schuhe ohne Schnallen und herabhängende Kniestrümpfe, die die halbe Wade bloß ließen. Schnell bat er den Herrn, doch ja bei der kalten Morgenluft sich nicht aufzuhalten und seinen Weg nach Hause fortzusetzen, er werde schon jemanden finden, der ihn nach einem Logierhaus weise oder zu einem Wohnungsvermieter. Der Maskierte schlug den Mantel fester um die Hüften und versicherte, er habe durchaus keine Eile. Andreas war tödlich verlegen im Gedanken, daß der andere nun wisse, er habe sein besonderes Negligé gesehen; durch die alberne Bemerkung von der kalten Morgenluft und vor Verlegenheit wurde ihm ganz heiß, so daß er unwillkürlich auch seinerseits den Reisemantel vorne auseinanderschlug, indessen der Venezianer aufs höflichste vorbrachte, daß es ihn besonders freue, einem Untertan der Kaiserin und Königin Maria Theresia einen Dienst zu erweisen, um so mehr, als er schon mit mehreren Österreichern sehr befreundet gewesen sei, so mit dem Baron Reischach, Obersten der kaiserlichen Panduren, und mit dem Grafen Esterhazy. Diese wohlbekannten Namen, von dem Fremden hier so vertraulich ausgesprochen, flößten Andreas großes Zutrauen ein. Freilich kannte er selber so große Herren nur vom Namenhören und höchstens vom Sehen, denn er gehörte zum Klein- oder Bagatelladel.

Als der Maskierte versicherte, er habe, was der fremde Kavalier brauche, und das ganz in der Nähe, so war es Andreas ganz unmöglich, etwas Ablehnendes vorzubringen. Auf die beiläufig schon im Gehen gestellte Frage, in welchem Teil der Stadt sie hier seien, erhielt er die Antwort, zu Sankt Samuel. Und die Familie, zu der er geführt werde, sei eine gräflich patrizische und habe zufällig das Zimmer der ältesten Tochter zu vergeben, die seit einiger Zeit außer Hause wohne. Indem waren sie auch schon in einer sehr engen Gasse vor einem sehr hohen Hause angelangt, das wohl ein vornehmes, aber recht verfallenes Ansehen hatte und dessen Fenster anstatt mit[199] Glasscheiben alle mit Brettern verschlagen waren. Der Maskierte klopfte ans Tor und rief mehrere Namen, hoch oben sah eine Alte herunter, fragte nach dem Begehren, und die beiden parlamentierten sehr schnell. Der Graf selbst wäre schon ausgegangen, sagte der Maskierte zu Andreas, er gehe immer so früh aus, um das Nötige für die Küche zu besorgen. Aber die Gräfin sei zu Hause; so werde man wegen des Zimmers unterhandeln und auch gleich Leute nach dem zurückgelassenen Gepäck schicken können.

Der Riegel am Tor öffnete sich, sie kamen in einen engen Hof, der voll Wäsche hing, und stiegen eine offene und steile Steintreppe empor, deren Stufen ausgetreten waren wie Schüsseln. Das Haus gefiel Andreas nicht, und daß der Herr Graf so früh ausgegangen war, um das Nötige für die Küche zu besorgen, verwunderte ihn, aber daß es der Freund der Herren von Reischach und Esterhazy war, der ihn einführte, machte einen hellen Schein über alles und ließ keine Traurigkeit aufkommen.

Oben stieß die Treppe an ein ziemlich großes Zimmer, in dem an einem Ende der Herd stand, an dem anderen ein Alkoven abgeteilt war. An dem einzigen Fenster saß ein junges halberwachsenes Mädel auf einem niedrigen Stuhl, und eine nicht mehr junge, aber noch ganz hübsche Frau war bemüht, aus dem schönen Haar des Kindes einen höchst künstlichen Chignon aufzutürmen. Als Andreas und sein Führer das Zimmer betraten und die Hüte abnahmen, stob das Kind laut aufschreiend davon ins Nebenzimmer und ließ Andreas ein mageres Gesicht mit dunklen reizend gezeichneten Augenbrauen gewahren, indessen der Maskierte sich an die Frau Gräfin wandte, die er als Cousine anredete, und ihr seinen jungen Freund und Schützling vorstellte.

Es gab ein kurzes Gespräch, die Dame nannte einen Preis für das Zimmer, den Andreas ohne weiteres zugestand. Er hätte um alles gern gewußt, ob es ein Zimmer nach der Gasse hin sei, oder ein Hofzimmer, denn in einem solchen seine Zeit in Venedig zu verbringen hätte ihm traurig geschienen, auch ob er hier in der inneren Stadt sei oder in der Vorstadt. Aber er fand nicht den Augenblick für seine Frage, denn das Gespräch[200] zwischen den beiden anderen ging immer weiter, und das verschwundene junge Geschöpf wippte mit der Tür und rief energisch von innen heraus, da müßte sofort der Zorzi aus dem Bett herausgebracht werden, denn er liege oben und habe seinen Magenkrampf. Darauf hieß es, die Herren sollten nur hinaufgehen; den unnützen Menschen aus dem Zimmer zu entfernen, das würden schon die Buben besorgen. Er werde auf der Stelle ausziehen und das Gepäck des Ankömmlings dafür hinaufgeschafft werden. Sie bat entschuldigt zu sein, wenn sie den Herrn nicht selbst hinaufbegleite, sondern dies dem Cousin überlasse, denn sie habe alle Hände voll zu tun, weil sie die Zustina zurichten müsse, um mit ihr die Besuche wegen der Lotterie zu machen. Es müßten heute sämtliche Protektoren der Liste nach im Laufe des Vor- und Nachmittags besucht werden.

Andreas hätte nun wieder gerne gewußt, was es mit diesen Protektoren und der Lotterie auf sich habe, doch da sein Mentor die Sache mit lebhaftem und beifälligem Nicken als bekannt hinzunehmen schien, fand er keine schickliche Gelegenheit zu einer Frage, und man stieg hinter den zwei halbwüchsigen Jungen, die Zwillinge sein mußten, die steile Holztreppe hinauf nach Fräulein Ninas Zimmer.

Vor der Tür machten die Knaben halt, und als ein mattes Stöhnen herausdrang, sahen sie einander mit den flinken Eichhörnchenaugen an und schienen sehr befriedigt. Auf dem Bett, dessen Vorhänge zurückgeschlagen waren, lag ein bleicher junger Mensch. Ein Holztisch an der Wand und ein Stuhl waren mit schmutzigen Pinseln und Farbtöpfchen besetzt, eine Palette hing an der Wand. Gegenüber hing ein klarer sehr hübscher Spiegel, sonst war der Raum leer, aber licht und freundlich. »Ist dir besser?« sagten die Knaben. – »Besser«, stöhnte der Liegende. – »So kann man den Stein wegheben?« – »Ja, ihr könnt ihn wegheben.« – »Wenn einer Magenkrampf hat, muß man ihm den Stein auf den Magen heben, dann wird er gesund«, meldete der eine der beiden Knaben, indes der zunächst Dabeistehende den Stein, den abzuheben kaum ihre angespannten vereinten Kräfte hinreichten, von dem Kranken wälzte.[201]

Andreas war es greulich, daß man einen leidenden Menschen so um seinetwillen aus dem Bette warf. Er trat ans Fenster und schlug den halbangelehnten Laden vollends zurück: unten war Wasser, und kleine besonnte Wellen schlugen an die breiten Stufen eines recht großen Gebäudes gerade gegenüber, und an einer Mauer tanzte ein Netz von Lichtkringeln. Er beugte sich hinaus, da war noch ein Haus, dann noch eins, dann mündete die Gasse in eine große breite Wasserstraße, auf der die volle Sonne lag. An dem Eckhaus sprang ein Balkon vor, mit einem Oleanderbaum darauf, dessen Zweige der Wind bewegte, auf der anderen Seite hingen Tücher und Teppiche aus luftigen Fenstern. Über dem großen Wasser drüben stand ein Palast mit schönen Steinfiguren in Nischen.

Er trat ins Zimmer zurück, da war der im Domino verschwunden, der junge Mensch stand auf und beaufsichtigte die Buben, die von dem einzigen Tisch und Stuhl des Zimmers eifrig Farbentöpfchen und Bündel schmutziger Pinsel wegräumten. Er war blaß und ein wenig verwahrlost, aber wohlgestaltet; in seinem Gesicht nichts Häßliches als eine schiefe Unterlippe nach einer Seite herabgezogen, das gab ihm einen hämischen Ausdruck. – »Haben Sie bemerkt«, wandte er sich an Andreas, »daß er unter dem Domino nichts anhat als sein Hemd? Auch die Schnallen an den Schuhen weggeschnitten. So geht es ihm alle Monat einmal. Nun, Sie verstehen wohl, was wirds sein? Er ist ein verzweifelter Spieler. Was sonst? Sie hätten ihn gestern sehen sollen. Er hatte einen gestickten Rock, eine Weste mit Blumen, zwei Uhren mit Berloquen daran, eine Dose, Ringe an jedem Finger, hübsche silberne Schuhschnallen. So ein Kujon!« Und er lachte, aber sein Lachen war nicht hübsch. – »Sie werden ein bequemes Zimmer haben. Wenn Sie sonst noch etwas brauchen, ich bin stets zu Ihrer Verfügung. Ich kann Ihnen ein Kaffeehaus zeigen, hier nahebei, wo man Sie anständig bedienen wird, wenn ich Sie einführe. Sie können dort Ihre Briefe schreiben, Ihre Bekannten hinbestellen und alles abmachen, außer dem, was man lieber hinter geschlossenen Türen abmacht.« – Hier lachte er wieder, und die beiden Buben fanden den Witz vortrefflich[202] und lachten laut, dabei strengten sie alle Kräfte an, um den schweren Stein aus dem Zimmer zu schleppen; ihre Gesichter sahen der Schwester unten ähnlich.

»Wenn Sie eine Kommission haben, die einen vertrauenswürdigen Menschen erfordert«, fuhr der Maler fort, »so wird es mir eine Ehre sein, wenn Sie mir sie übergeben. Wenn ich nicht zur Hand bin, so nehmen Sie nur einen Furlaner, das sind die einzig verläßlichen Dienstmänner. Sie finden ihrer am Rialto und an jedem größeren Platz und werden sie an der bäurischen Tracht erkennen. Es sind zuverlässige Leute und verschwiegen, merken sich Namen und erkennen auch eine Maske, an ihrem Gang und an den Schuhschnallen. Wenn Sie von da drüben etwas brauchen, so sagen Sie es mir, ich bin Maler des Hauses und habe freien Zutritt zu allen Räumen.«

Andreas verstand, daß er von dem grauen Gebäude gegenüber sprach, das ihm zu groß für ein Bürgerhaus, zu dürftig für einen Palast erschienen war und vor dessen Tor breite Steinstufen ins Wasser führten. »Ich spreche vom Theater zu Sankt Samuel, dem Haus hier gegenüber. Ich dachte, Sie wüßten das längst. Wir sind alle da drüben beschäftigt. Ich, wie gesagt, bin Dekorationsmaler und Feuerwerker, Ihre Hausfrau ist Logenschließerin, der Alte ist Lichtputzer.« – »Welcher?« – »Der Graf Prampero, bei dem Sie wohnen, wer sonst? Zuerst war die Tochter Schauspielerin, die hat sie alle hineingebracht – nicht diese, die Sie gesehen haben – die Ältere, Nina. Diese ist der Mühe wert, und ich werde Sie heute nachmittag zu ihr führen. Die Kleine tritt im nächsten Karneval auf. Die Buben machen dringende Wege. – Jetzt will ich mich aber nach Ihrem Gepäck umsehen.«

Andreas blieb allein, schlug die Fensterläden zurück und hakte sie ein. Von dem einen war der Haken zerbrochen, er nahm sich vor, ihn sogleich richten zu lassen. Dann räumte er was noch von Farbtöpfen und Büchsen herumstand vor die Tür und reinigte mit einem Lappen Leinwand, der unter dem Bett lag, seinen Tisch von den Farbenflecken, bis die polierte Fläche sauber glänzte; dann trug er den bunten Lappen hinaus, suchte ein Eck, ihn zu verstecken, und fand dort einen[203] Reisbesen, mit dem er sein Zimmer kehrte. Als dies geschehen war, rückte er den hübschen kleinen Spiegel lotrecht, streifte die Bettvorhänge zurück und setzte sich auf den einzigen Stuhl am Fußende des Bettes, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Die freundlich bewegte Luft kam herein, berührte sein junges Gesicht mit leisem Geruch von Algen und Meeresfrische.

Er dachte an seine Eltern und den Brief, den er im Kaffeehaus an sie schreiben müßte. Er nahm sich vor, beiläufig zu schreiben: »Verehrungswürdigste, gnädige Eltern, – ich melde, daß ich in Venedig glücklich eingetroffen. Ich bewohne ein freundliches, sehr reines und luftiges Zimmer bei einer adeligen Familie, die es zufällig zu vergeben hat. Das Zimmer geht auf die Gasse, aber anstatt des Erdbodens ist unten Wasser, und die Leute fahren in Gondeln oder das arme Volk in großen Trabakeln, ähnlich wie Donauzillen; die sind statt der Lastträger. Daher werde ichs auch sehr ruhig haben. Peitschenknall oder Geschrei hört man nicht.« Er dachte noch zu erwähnen, daß es hier Dienstmänner gäbe, die so findig seien, daß sie im Stand wären, eine Maske am Gang und an den Schuhschnallen wiederzuerkennen. Das würde seinem Vater Vergnügen machen zu erfahren, denn er war sehr darauf aus, das Besondere und Kuriose fremder Länder und Gebräuche zu sammeln. Zweifelhaft war ihm, ob er berichten solle, daß er ganz nahe einem Theater wohne. Das war in Wien immer sein sehnsüchtiger Wunsch gewesen. Vor vielen Jahren, als er zehn oder zwölf Jahre alt war, hatte er zwei Freunde, die im Blauen Freihaus auf der Wieden wohnten, auf der gleichen Treppe im vierten Hof, wo in einer Scheune das »beständige Theater« errichtet war. Er erinnerte sich des Wunderbaren, bei denen gegen Abend zu Besuch zu sein, Dekorationen heraustragen zu sehen: eine Leinwand mit einem Zaubergarten, ein Stück von einer Dorfschenke drinnen, der Lichtputzer, das Summen der Menge, die Mandorlettiverkäufer. Stärker als alles das Durcheinanderspielen aller Instrumente beim Stimmen, das ging ihm durchs Herz noch heute, wie er sich erinnerte. Der Bühnenboden war uneben: der Vorhang an einigen Stellen zu kurz, Ritterstiefel kamen und gingen. Zwischen[204] dem Hals einer Baßgeige und dem Kopf eines Musikanten sah man einmal einen himmelblauen Schuh mit Flitter bestickt. Der himmelblaue Schuh war wunderbarer als alles. – Später stand ein Wesen da, das diesen Schuh anhatte, er gehörte zu ihr, war eins mit ihrem blau und silbernen Gewand: sie war eine Prinzessin, Gefahren umgaben sie, ein Zauberwald nahm sie auf, Stimmen tönten aus den Zweigen, aus Früchten, die von Affen hergerollt wurden, sprangen holdselige Kinder, leuchteten. Die Prinzessin sang, Hanswurst war ihr nahe und doch meilenfern, alles das war schön, aber es war nicht das zweischneidige Schwert, das durch die Seele drang, von zartester Wollust und unsäglicher Sehnsucht bis zu Weinen, Bangen und Beglückung, wenn der blaue Schuh allein unter dem Vorhang da war.

Er beschloß bei sich, daß er die Nähe des Theaters nicht erwähnen würde, auch nicht den sonderbaren Aufzug des Herren, der ihn eingeführt hatte. Er hätte sagen müssen, daß er ein Spieler war, der alles bis aufs Hemd verspielt hatte, oder diesen Umstand auf künstliche Weise verschweigen. So konnte er freilich nicht von Esterhazy erzählen, das hätte die Mutter gefreut. Den Mietpreis wollte er gern erwähnen, zwei Zechinen monatlich, das war auch nach seinem Gelde nicht viel. – Aber was nützte das, wenn er doch durch eine einzige Torheit in einer einzigen Nacht mehr als die Hälfte seines Reisegeldes eingebüßt hatte. Dies würde er den Eltern nie eingestehen dürfen, wozu also prahlen, daß er sparsam wohne. Er schämte sich vor sich selber und wollte einmal an die drei unheilvollen Tage in Kärnten nicht denken, aber da stand schon das Gesicht des schurkischen Bedienten vor ihm, und ob er wollte oder nicht, mußte er sich an alles erinnern, haarklein und von Anfang an: so kam es über ihn, jeden Tag einmal, früh oder abends.

 

Er war wieder in der Herberge »Zum Schwert« in Villach nach einem scharfen Reisetag und wollte zu Bett gehen. Da, schon auf der Treppe, präsentierte sich ihm ein Mensch als Bedienter oder Leibjäger. Er: er brauche keinen, reise allein, besorge sich tagsüber sein Pferd selber, nachts täte das schon[205] der Hausknecht. Der andere drauf läßt ihn nicht los, steigt Stufe für Stufe mit, immer quer in Frontstellung bis an die Tür, tritt dann in der Tür quer auf die Schwelle, daß sie Andreas nicht zumachen kann: daß es nicht schicklich wäre für einen jungen Herrn von Adel, ohne Bedienten zu reisen, in Italien gäbe das ein miserables Ansehen, da seien sie höllisch proper in diesem Punkt. Und wie er fast lebenslang nichts anderes getan habe als mit jungen Herrn über Land zu reiten, zuletzt mit dem Freiherrn Edmund auf Petzenstein, früher mit dem Domherrn Graf Lodron, die werde der Herr von Ferschengelder doch wohl kennen. Wie er bei diesen als Reisemarschall vorausgereist sei, alles bestellt, alles eingerichtet, daß der Herr Graf vor Staunen nicht habe auskönnen: »niemals zuvor sei er so billig gereist«, und es waren die besten Quartiere. Wie er das Wälsche spräche und das Ladinische und Italienisch natürlich mit aller Geläufigkeit und die Münzen kenne, und die Streiche der Wirte und der Postillons, da käme ihm keiner auf, jeder sage nur: »gegen den Herren, den Ihr da habt, könne man nicht an, der sei wohlbehütet«. Und wie er Roßkaufen verstände, daß er jeden Roßtäuscher übers Ohr hauen könne, auch einen ungarischen, das seien die gefinkeltsten, geschweige denn einen deutschen und wällischen. Und was die persönliche Bedienung beträfe, da sei er Leiblakei und Friseur und Perückenmacher, Kutscher und Jäger und Piqueur, Büchsenspanner, er verstehe die hohe wie die niedrige Jagd, die Korrespondenz, die Registratur, das Vorlesen und Billettschreiben in vier Sprachen und könne dienen als Dolmetscher oder, wie man im Türkischen spräche, als Dragoman. Es sei ein Wunder, daß ein Mensch wie er frei wäre, auch habe der Freiherr von Petzenstein ihn à tout prix wollen seinem Herrn Bruder zuschanzen, aber er habe es sich in den Kopf gesetzt, den Herrn von Ferschengelder zu bedienen. Nicht um des Lohnes willen, der sei ihm Nebensache. Aber das stünde ihm an, einem solchen jungen Herrn, der seine erste Reise machte, behilflich zu sein und sich ihm lieb und wert zu machen. Das Zutrauen sei es, worauf sein Sinn stünde, das wäre der Lohn, den ein Diener wie er im Auge habe. Um herrschaftliches Zutrauen diene er, und[206] nicht um Geld. Deswegen habe er es auch nicht bei den kaiserlichen Reitern aushalten können, denn dort regiere der Stock und die Angeberei und nicht das Zutrauen. – Hier fuhr er sich mit der Zunge über die feuchte dicke Lippe wie eine Katze.

Nun brachte Andreas hervor: er danke ihm schön für den Dienstwillen, aber er wolle hier keinen Diener nehmen. Später vielleicht in Venedig einen Lohnbedienten – und damit wollte er die Tür zumachen –, aber der letzte Satz war schon zuviel, die kleine Vornehmtuerei, denn er hatte nie daran gedacht, in Venedig einen Lakaien zu nehmen, die strafte sich. Da spürte der andere am unsicheren Ton, wer in diesem Handel der Stärkere war, und stemmte seinen Fuß gegen die Tür, und wie das kam, fand dann Andreas nie mehr heraus, daß der Kerl dann schon gleich, als wäre das zwischen ihnen abgemachte Sache, von seiner Berittenmachung sprach: da wäre heute Gelegenheit, die käme nie wieder. Diese Nacht zöge ein Pferdehändler hier durch, den kenne er noch vom Domherrn aus, ausnahmsweise kein Jüdl, der habe ein ungarisches Pferdchen zu verkaufen, das stünde ihm wie angegossen. Wenn er das zwischen die Schenkel bekäme, das täte den Spanischen Tritt binnen heute und einer Woche. Das Bräundl koste, glaube er, neunzig Gulden für jeden andern, aber für ihn siebzig. Das schriebe sich aus den großen Pferdekäufen her, die er für den Domherrn gemacht habe, doch müsse er noch heute vor Mitternacht den Handel gutmachen, der Händler sei ein Frühaufsteher. So möge der gnädige Herr ihm das Geld gleich aus dem Leibgurt geben, oder ob er hinuntergehen sollte und gar den Mantelsack oder den Sattel heraufholen? da wäre sicherlich ein Kapital in Dukaten eingenäht, denn bei sich trüge ein solcher Herr ja nur das Nötigste.

Wie der Mensch von Geld sprach, war sein Gesicht widerlich, unter den frechen, schmutzig blauen Augen zuckten kleine Fältchen im sommersprossigen Fleisch wie kleine Wasserwellen. Er kam Andreas ganz nah, und über die aufgeworfenen nassen dicken Lippen rochs nach Branntwein. Jetzt schob Andreas ihn über die Schwelle hinaus – da fühlte der Kerl, daß der junge Herr stark war, und sagte nichts. Aber Andreas[207] sagte wieder ein Wort zu viel, weil ihm das zu grob war, daß er den Zudringlichen so unsanft angerührt hatte, – er meinte, so etwas Grobes, Handgreifliches würde der Graf Lodron nie getan haben, – und so fügte er noch gewissermaßen zum Abschied bei, er wäre halt heute zu müde, morgen vormittag könnte man ja sehen. Jedenfalls sei vorläufig zwischen ihnen nichts abgemacht.

Morgen mit dem frühesten gedachte er ohne weiteres abzureiten. Damit aber drehte er sich den Strick, denn am andern Morgen, noch ehe es recht hell und Andreas wach war, stand der Kerl schon an der Tür und meldete, er habe bereits für den gnädigen Herrn bare fünf Gulden verdient, dem Roßtäuscher das Prachtpferd um fünfundsechzig abgehandelt, es stünde unten im Hof, und jeder Gulden unter fünfundsechzig, den der Herr von Ferschengelder verlöre, wenn er das Pferd in Venedig losschlüge, der möge ihm von seinem Lohn abgezogen werden.

Andreas sah schlaftrunken vom Fenster aus ein mageres, aber munteres Pferdchen im Hof stehen. Da packte ihn die Eitelkeit an, daß es doch was anderes wäre, mit einem Bedienten hinter sich in die Städte und Gasthöfe einzureiten. An dem Pferd konnte er nichts verlieren, das war ein gesicherter Handel. Der kurzhalsige, sommersprossige Bursch hatte doch nichts weiter als ein handfestes und gewitzigtes Ansehen, und wenn der Freiherr zu Petzenstein und der Graf Lodron ihn in ihrem Dienste gehabt hätten, so könne er schon nicht der erste beste sein. Denn eine unbegrenzte Ehrfurcht vor den Personen des hohen Adels hatte Andreas mit der wienerischen Luft im Elternhaus in der Spiegelgasse eingesogen, und was in dieser höheren Welt vorging, das war wie Amen im Gebet.