Heinrich Seidel: Von Perlin nach Berlin

 

 

Heinrich Seidel

Von Perlin nach Berlin

Aus meinem Leben

 

 

 

Heinrich Seidel: Von Perlin nach Berlin. Aus meinem Leben

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Der neue Anhalter Bahnhof in Berlin, 1880.

 

ISBN 978-3-7437-1795-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1788-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1789-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck in »Erzählende Schriften«, Band 7, Leipzig, 1894 mit der Widmung: »Meiner Mutter zugeeignet.«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,

Die wie Lindenwipfelwehn entflohn.

Gottfried Keller

 

 

1. Die Vorfahren

Es geht eine dunkle Sage, dass der Urahn meiner Familie wegen irgend eines Verbrechens aus der Schweiz entflohen sei. Man nagelte dort, da man seiner selbst nicht mehr habhaft werden konnte, sein Bildnis an den Galgen, er aber wandte sich nach Sachsen und gründete dort ein zahlreiches Geschlecht, wie ja denn noch heute der Name Seidel in Sachsen häufig ist. Ob diese Sage auf Wahrheit beruht, weiß ich nicht, mir aber hat sie stets ein gewisses Vergnügen bereitet. Denn der Mensch ist im Allgemeinen so geartet, dass er, anstatt sich mit seiner Ahnenreihe bald ehrbar und spurlos in das Dunkel der Vergangenheit zu verlieren, lieber eine recht herzhafte Abscheulichkeit eines Vorfahren in den Kauf nimmt, wenn sie nur dazu beigetragen hat, sein Gedächtnis der Nachwelt zu erhalten.

Ob nun, wie einige sagen, der Name Seidel mit siedeln zusammenhängt und so viel wie Siedler oder Siedel (vgl. Einsiedel) bezeichnet, ob er, wie andere behaupten, Zeidler oder Zeidel d. i. Bienenzüchter bedeutet, vermag ich ebenfalls nicht zu entscheiden. Jedenfalls ist man in heutiger Zeit mehr geneigt, ihn mit Bier in Zusammenhang zu bringen und der Witz die männlichen Kinder unseres Namens, als Schnitte, die weiblichen als Tulpen zu bezeichnen, erzeugt sich stets aufs Neue und hat manchem schon viel billigen Spaß bereitet. Als ich noch studierte, hielten aus denselben Gründen sehr oft neue Bekannte meinen Kneipnamen Till für meinen wirklichen, Seidel aber für meinen Kneipnamen.

Der erste meiner Vorfahren nun, der für mich außer jenem sagenhaften aus dem Dunkel der Vergangenheit hervortritt, ist der Vater meines Urgroßvaters. Er war Buchhalter in Dresden, stammte wahrscheinlich aus bäuerlichem Geschlecht und hatte zwei Söhne Gottlieb und Heinrich.

Der ältere kam nicht gut in der Schule fort und eine häufige Redensart des Lehrers war: »Großer Seidel, großer Seidel, wenn dein kleiner Bruder in der Kutsche fährt, wirst du hinten auf stehen müssen«. Das ging für ihn auch fast wörtlich in Erfüllung, denn er wurde später herrschaftlicher Diener, starb aber früh. Es wird erzählt, dass der zweite Sohn Heinrich, mein Urgroßvater, obwohl nur klein und von zartem Körperbau, doch von großem persönlichem Mute beseelt gewesen sei. Einmal als Dresden von Östreichern besetzt war, trat er mit anderen Chorschülern aus der Kirche, vor der sich eine große Anzahl von Soldaten gelagert hatte. Ein etwas angetrunkener baumlanger Kerl ging auf sie zu mit den drohenden Worten: »Wartet, ihr lutherischen Bestien ihr!« Die anderen Chorschüler drückten sich schnell bei Seite, mein Urgroßvater aber ließ ihn ankommen und rannte ihm plötzlich mit dem Kopf vor den Bauch, so dass der lange Goliath umstülpte und erheblich rolläugend nach Luft schnappte. Die anderen Soldaten brachen dar ob in ein schallendes Gelächter aus und riefen beifällig: »Braver Student, braver Student!«

Auch später in seinem Amte bewährte er solchen Mut und was Menschenfurcht war, kannte er nicht. Er studierte Theologie und wurde später Pastor in dem Dorfe Mecklenburg bei Wismar, wie denn schon seit alter Zeit das Land Mecklenburg seinen Bedarf an Geistlichen und Lehrern nicht aus eigener Produktion zu decken vermochte und solche vielfach von außerhalb zu beziehen genötigt war. Dagegen an Rechtsgelehrten leidet es Überfluss und Landleute, Kaufleute, Offiziere und Ingenieure exportiert es in Mengen. Das Dorf Mecklenburg war zur Wendenzeit der Hauptsitz der Obotriten und hat dem ganzen Lande den Namen gegeben. In einer großen Wiese ist noch heute deutlich der ausgedehnte Wall der alten Burg zu sehen.

Von Mecklenburg ward er auf Anlass des Herzogs, der ihn hatte predigen hören, nach Parchim berufen, nicht zu seinem Vorteil, denn seine Einnahme war dort erheblich geringer als in Mecklenburg. Der Herzog hatte zwar versprochen, ihm nach dem ersten Jahre, wenn er den Unterschied übersehen könne, eine entsprechende Zulage zu gewähren, starb aber darüber hinweg, und so war mein Urgroßvater genötigt, sich bis an sein Ende der äußersten Sparsamkeit zu befleißigen. Er starb als Pastor Primarius in Parchim am 21. August 1811. Während seiner Amtstätigkeit wurde dort am 26. Oktober 1800 ein Kind geboren und von meinem Urgroßvater am 2. November desselben Jahres getauft, ein Knabe, dessen Ruhm nachher den Weltkreis erfüllen sollte. Es war der spätere Feldmarschall Helmut, Graf von Moltke.

Mein Urgroßvater hatte außer mehreren Töchtern zwei Söhne Heinrich und Georg. Der älteste, mein Großvater, studierte Medizin und wurde Arzt in der kleinen Stadt Goldberg in Mecklenburg. Er verheiratete sich mit einer geborenen Hermes, die aus der Familie jenes Biedermannes stammte, der »Sophiens Reise von Memel nach Sachsen« geschrieben hat. Aus Pietät für solche Familientradition habe ich mir dieses sechsbändige dickleibige Romanungetüm verschafft und es prangt sehr stattlich in meiner Bibliothek neben dem neunbändigen »Irdischen Vergnügen in Gott« des alten Brockes. Ich habe auch versucht, jenen Roman zu lesen, allein es ist über meine Kräfte gegangen. Zwar ward mir ebenso wie meinem Freunde Trojan die Gabe zu Teil, sehr langweilige Bücher lesen zu können, allein alles hat seine Grenzen. Und doch betrachte ich mir von Zeit zu Zeit das stattliche Werk mit Wohlgefallen. Es gibt eben Bücher, die eine doppelte Freude gewähren, erstens dass man sie hat, und zweitens, dass man sie nicht zu lesen braucht. Von meinem Großvater weiß ich sehr wenig, weil er früh gestorben ist, noch vor seinem Vater. Es herrschte damals 1811 in Folge des Franzosenkrieges das Lazarettfieber und der Amtsarzt hatte aus Furcht vor Ansteckung solchen Kranken seine Hilfe verweigert. Man wandte sich an meinen Großvater. Dieser tat seine Pflicht, wurde aber von der gefährlichen Krankheit ergriffen und starb, als mein am 4. Februar 1811 geborener Vater Heinrich Alexander Seidel vier Wochen alt war.

Von meinem. Urgroßvater heißt es in einer Niederschrift seines jüngsten Sohnes: »Der Vater war Pastor, ein kleiner, aber rühriger und wissenschaftlich sehr gebildeter Mann mit dichterischen Anlagen.« – Die kleine Figur hat sich nun in Mecklenburg, dem Lande der großen Leute, allmählich verloren, indem unausgesetzt durch drei Generationen hindurch die Söhne über ihre Väter hinauswuchsen, die dichterischen Anlagen haben sich aber in den ältesten Söhnen der Familie ständig fortgeerbt. Denn auch von meinem Großvater sind mir poetische Versuche bekannt geworden, und mein Vater hat sich auf dem Gebiete des religiösen Liedes, des Epos und der Volkserzählung ausgezeichnet. Einzelne seiner Gedichte sind in viele Sammlungen übergegangen, und seine Volkserzählung »Balthasar Scharfenberg« hat im Verlage des Rauhen Hauses mehrere Auflagen erlebt und wird noch jetzt gekauft und gelesen. Ungenügende Beachtung fand dagegen meiner Meinung nach sein in der Nibelungenstrophe geschriebenes Epos: »Der Sieg des Kreuzes an der Usenz«, dem Stöbers hübsche Sage von der Bekehrung der letzten Heiden im Einfischtale durch den buckligen Zwerg Zacher als Stoff zu Grunde liegt. Das Gedicht enthält besonders ausgezeichnete Schilderungen der großartigen Alpennatur, obwohl mein Vater, ebenso wie Schiller, die Schweiz nie gesehen hat.

Mein Vater verlebte seine erste Jugend in Goldberg und besuchte später das Gymnasium in Schwerin. Ich weiß von dieser Zeit wenig; nur eine wunderliche Geschichte, die mein Vater gern erzählte, hat sich mir eingeprägt.

Zum Neubau des dortigen Regierungsgebäudes – nebenbei eines der vornehmsten und edelsten Bauwerke der Schinkelschen Richtung – wurde der Grund ausgehoben und da dort früher der Klosterkirchhof gelegen hatte, so kamen eine Menge von wohlerhaltenen menschlichen Gebeinen zum Vorschein. Man konnte von den Arbeitern ein Memento mori, zwei Armknochen und einen Schädel für vier Schillinge (25 Pf.) kaufen. Mein Vater erstand sich ebenfalls so ein grausiges Ornament und war zu Hause sehr erfreut, als er fand, dass sich die beiden gekreuzten Knochen mit dem Schädel drüber schicklich in die Ofenröhre oder wie man in Mecklenburg sagt, »das Röhr« klemmen ließen, gerade in der Stellung, wie man diesen Todeszierrat immer dargestellt findet. Als er nachher zu Bett ging, ließ er wie gewöhnlich die Tür zu seinem Wohnzimmer geöffnet. Der Mond schien hell und er konnte anfangs nicht davor einschlafen. Dann aber, als er eben eindrusen wollte, wurde er durch ein lautes Geräusch im Nebenzimmer wieder aufgeschreckt. Es krachte und rasselte dort mächtig – dann ein anhaltendes Kollern und plötzlich stand der Schädel im Mondschein auf der Schwelle der Schlafstube und grinste ihn an.

Mein Vater studierte später in Berlin und Rostock Theologie und besonders an den Aufenthalt in letzter Stadt erinnerte er sich gern. Er verkehrte mit anderen Studenten in einem angeregten Familienkreise, wo man sich vorzugsweise für Musik interessierte. Die jungen Leute hatten ein besonderes Geschick in kleinen Stegreifaufführungen, denen eine verabredete Idee zu Grunde lag, wobei es aber jedem überlassen blieb, sich so gut er konnte, mit seiner Rolle abzufinden. Von der gelungensten dieser Aufführungen erzählte mein Vater gern. Unter diesen jungen Leuten waren zwei, die sich besonders viel mit Musik beschäftigten, der eine dilettierte ohne wesentliche theoretische Kenntnisse fleißig als Komponist, während der andere, eine etwas pedantische Natur, sich eifrig mit dem Studium des Generalbasses beschäftigte. Dieser lag immer mit dem andern im Streit, schalt ihn leichtfertig, suchte ihn zu einem eifrigen Studium der Gesetze der Musik zu bekehren und hielt ihm große Reden, wobei er sich beträchtlicher Weisheit entledigte und mit bezifferten Bässen, Tonika, Dominants und ähnlichen Fachausdrücken mächtig um sich warf. Der Inhalt des Stückes nun war folgender: Der Musikdilettant stellte einen Komponisten dar, dem für eine festliche Gelegenheit der Auftrag geworden ist, eine Ouvertüre zu komponieren. Verzweifelt irrt er in seinem Zimmer umher, fährt sich bald in die Haare, bald schlägt er einige Akkorde auf dem Klavier an, bald sitzt er wieder und starrt ratlos auf das leere Notenpapier, denn ihm will durchaus nichts einfallen. Ein Freund besucht ihn, dem er seine Not klagt. Vergeblich sucht dieser ihn zu trösten und zu ermuntern. Endlich kommt ihm eine Idee: »Wir wollen Mozarts Geist zitieren« sagt er, »wenn einer, kann der dir helfen!« Das leuchtet dem Komponisten ein; es wird ein Kreis aus Notenbüchern gebildet, ein Fiedelbogen als Zauberstab geschwenkt und unter furchtbaren Beschwörungen Mozarts Geist herbeigerufen. Blitz und langnachhallender Donner hinter der Szene. Aus der Kulisse hebt sich ein Filzschuh, dann schießt in Kopfhöhe ein langer Dampfstrahl hervor und nun zeigt sich der Musiktheoretiker als Mozarts Geist in ein langes weißes Laken gehüllt, das nur die spitze Nase und eine Hand mit einer mächtigen Papierrolle sehen lässt. Den verhüllten Kopf ziert ein Lorbeerkranz. Langsam, lautlos und bei jedem Schritt einen mächtigen Dampfstrahl aus der unter dem Laken verborgenen Pfeife schießend, schreitet das Gespenst auf die Beschwörer zu. Dann steht es feierlich in erhabenem Schweigen da und pafft. Der Komponist beugt nun das Knie und fleht den Geist des großen Mozart an um Errettung aus seiner Not. Unter den Zuschauern herrscht große Spannung, wie dieser sich wohl aus der Affaire ziehen wird und da allen der ständige Streit zwischen diesen beiden Musikfreunden bekannt war, so ist das Gelächter auf Kosten des unglückseligen Komponisten natürlich groß, als Mozarts Geist nun langsam und feierlich seine mächtige Papierrolle erhebt und sie jenem vor die Füße schleudert mit dem vernichtenden Ausruf: »Studiere Generalbass!«

Sodann wendet er sich mit erhabener Gebärde und schreitet unter erneutem Blitz und Donner und mächtigem Paffen in die Kulisse zurück, während der andere vernichtet sein Haupt in den Händen verbirgt.

Noch eine andere kleine Geschichte sehr wunderlicher Natur aus dieser Zeit hat sich mir eingeprägt, weil ich sie öfter von meinem Vater habe erzählen hören. Ihm träumte eines Nachts, er besuche eine Familie, in der er viel verkehrte, da trat ihm die Frau des Hauses entgegen und sagte: »Kommen Sie mit Herr Seidel und helfen Sie mir.« Sie gingen dann zusammen eine Treppe hinauf und packten in einer großen Bodenkammer allerlei Sachen in Körbe. Durch das Fenster kam ein seltsamer roter Schein. Nicht lange darauf wurde er des Nachts durch Feuerlärm geweckt und da er bei näherer Erkundigung erfuhr, dass es ganz in der Nähe des Hauses jener bekannten Familie brenne, machte er sich schnell auf, um dort, falls es nötig sein sollte, seine Hilfe anzubieten. Dort fand er alle in Tätigkeit, ein schnelles Ausräumen vorzubereiten und die Frau des Hauses kam ihm gleich entgegen mit den Worten: »Gut, dass Sie kommen, Herr Seidel, Sie können mir helfen. Wir müssen auf alles gefasst sein.« Sie gingen dann die Treppe hinauf in eine große Bodenkammer und packten allerlei Porzellangeschirr, das dort aufbewahrt wurde, in Körbe ein. Durch die Fenster kam der rote Schein des nahen Brandes.

Als mein Vater ausstudiert hatte, wurde er Hauslehrer, lebte als solcher längere Zeit in Dobbin bei Krakow und wurde im Jahre 1839 nach Perlin bei der kleinen Stadt Wittenburg berufen.

 

2. Perlin

Das Pastorenhaus in Perlin war alt, hatte schon den dreißigjährigen Krieg überstanden und trug noch ein Strohdach. Es passte nicht mehr in die Zeit und in der Nähe wurde ein funkelnagelneues Haus errichtet aus roten Ziegeln mit einem turmartigen Vorbau für die Treppe und einem flachen sogenannten dornschen Dache. Es sah für die damalige Zeit und für ein Pastorenhaus sehr vornehm aus und wurde später von Fremden oft für »das Schloss« gehalten, was uns natürlich mit großem Stolze erfüllte. Doch vorher schon, ehe dies neue Haus vollendet war, sorgte der junge Pastor dafür, dass die ansehnlichen Räume, die darin für eine Pastorin vorgesehen waren, nicht leer stehen sollten. Der Gutsverwalter Dimpfel des Grafen B., dem das große Gut Perlin gehörte, hatte ganz in der Nähe auf dem Pachtgute Progress eine Schwester, die an den Pächter Römer verheiratet und in dieser Ehe außer mit vier hünenhaften Söhnen auch mit drei Töchtern gesegnet war. Als nun mein zukünftiger Vater dort mit dem Verwalter Dimpfel seinen Besuch machte fand er diesen Verkehr so angenehm, dass er solchen Besuch öfter wiederholte. Er ritt dabei auf einem Fuchs, der ihn, wie meine Mutter erzählt, oftmals in sausender Eile ans Ziel brachte, oft aber auch höchsteigene Ansichten entwickelte und dann durchaus nicht vom Hofe oder an einem Blatte Papier vorbei wollte, das am Wege lag. Es mochte auch wohl sein, dass mein Vater dieses irdische Pferd weniger beherrschte als den Pegasus, der noch nie vor einem Blatte Papier scheu geworden ist. Es kam dann im Lauf der Zeit so weit, dass der junge Pastor die Frau Römer bat ihm Gelegenheit zu geben, ihre zweite Tochter Johanna unter vier Augen zu sprechen. Es war am zweiundzwanzigsten September 1840, als diese Frau ihr Schicksal, dereinst meine Großmutter zu werden, dadurch besiegelte, dass sie ihrer Tochter den Auftrag gab, Herrn Pastor Seidel doch den Rosenstrauch im Garten zu zeigen, der trotz der herbstlichen Zeit in voller Blüte stand. An dieser freundlichen Naturerscheinung nahmen die jungen Leute großes Intresse und besichtigten sie lange und gründlich. Es wird vermutet, dass im Laufe dieser Besichtigung auf den Wangen des Fräuleins Johanna Römer vier neue Rosen aufgeblüht sind, erst zwei weiße und dann zwei dunkelrote, aber gewiss ist, dass sie, als sie zurückkam, den Entschluss gefasst hatte, eine Frau Pastorin zu werden.

Am 8. Oktober des Jahres 1841 war die Hochzeit. Das junge Paar hauste noch ein halbes Jahr unter dem alten Strohdach, siedelte dann im nächsten Frühjahr in das neue schöne Haus über und dort, am 25. Juni 1842 kam ich zur Welt, genau an demselben Tage, an dem zwanzig Jahre früher der alte E. T. A. Hoffmann die Augen schloss. Bei der Taufe wurde mir als dem ältesten Sohne, wie es nun schon Familiengebrauch geworden war, der Rufname Heinrich zuerteilt, jedoch erhielt ich außerdem noch eine Menge anderer, und wenn ich mit allen zugleich vorfahre, so macht es den Eindruck, als wenn ein Güterzug durch eine ebene Wiesenlandschaft dampft. Man prüfe selbst, wie es sich ausnimmt: Heinrich Friedrich Wilhelm Karl Philipp Georg Eduard Seidel.

Wie alle Erstgeborenen war ich natürlich ein unbegreifliches Wunderkind und zeigte Eigenschaften, die man kaum jemals, solange die Welt steht, an einem Geschöpfe so zarten Alters in solcher Vollendung zu bemerken Gelegenheit hatte. Zwei von diesen Geistesblitzen, die etwa aus meinem zweiten Jahre stammen, sind mir später oft erzählt worden. Auf die Frage: »Wo is Papa?« hätte ich stets geantwortet: »Hinnen löppt'e!« Ferner: hätte ich einen Topf, einen Teller oder sonst etwas zerschlagen, hätte ich mich nachdenklich vor die Trümmer gestellt mit der verwunderten Frage: »Wen hett dat dahn?« und dann mit großer Bestimmtheit selbst geantwortet. »Dat hett ick dahn!« Man sieht aus diesen wenigen erhaltenen Beispielen, dass auch meine nächsten Vorfahren nicht frei waren von jener lieblichen Milde und rührenden Anspruchslosigkeit den Geistesäußerungen ihres Erstgebornen gegenüber, die fast allen jungen Eltern zur freundlichen Zierde gereichen soll.

Meine erste wirkliche Erinnerung stammt aus dem Anfang meines vierten Jahres und hat es mit einem beträchtlichen Gegenstande zu tun, einem Elefanten nämlich, der damals in einer benachbarten kleinen Stadt für Geld gezeigt wurde. Viel mehr aber als das unförmliche ausländische Ungetüm erfreute mich ein kleiner Pony, der dem Elefanten unter dem Bauche und zwischen den Beinen durchlief und ihm zugesellt war, wie dem mächtigen Fallstaff der winzige Page, um gegen ihn abzustechen. Ich glaube, es war bei dieser selben Gelegenheit, wo sich mir ein zweites kleines Erlebnis für die Dauer eingeprägt hat. Die städtischen Straßenjungen waren ein Geschlecht, das ich mit einem Gemisch von Grauen und Hochachtung zu betrachten gewohnt war. Die außerordentliche Sicherheit ihres Auftretens, die edle Frechheit, mit der sie mich besahen und Kritik an mir übten, die großartige Überlegenheit, die sich in allen ihren Reden und Handlungen kundgab – ich hatte gesehen, dass sie sogar die Macht des Gesetzes nicht achteten und einen Polizeidiener verhöhnten – kurz alles dies erzeugte in mir eine achtungsvolle Scheu, die mit einiger Furcht durchtränkt war. Als ich nun mit meinen Eltern an einem Wassergraben entlang zu irgend einem Festplatze ging, kam ein echtes Exemplar dieser Gattung, die Hände in den Hosentaschen und die Mütze im Nacken tragend, an uns vorüber. Da ich nahe an der Kante des Grabens ging, sagte er im Vorbeigehen zu mir mit einem Wohlwollen, das ich diesem gehärteten Geschlecht von jugendlichen Heroen niemals zugetraut hätte: »Du fall man nich in'n Graben.« – Diese Herablassung hob und rührte mich zugleich, und obgleich ich diesen Jüngling nie wiedergesehen habe, so habe ich ihm seinen Edelmut doch niemals vergessen. Noch jetzt ertappe ich mich manchmal bei den Gedanken, dass ich wohl wissen möchte, was aus ihm geworden ist. Wäre er ein Schuster geworden, so würde ich meine Stiefel bei ihm machen lassen.

Aus etwas späterer Zeit haben sich mir zwei Ereignisse eingeprägt, bei deren einem ich mich als vermeintlicher Held, bei dem anderen aber ohne Frage als das Gegenteil eines solchen benommen hatte. Ich mochte etwa sechs Jahre alt sein, als ich in einen Haufen Glasscherben fiel und mir den Rücken der linken Hand so stark verletzte, dass ich noch jetzt die deutliche Narbe davon trage. Ich lief zu meiner Mutter, die mir die heftig blutende Wunde mit Wasser auswusch und mich verband. Dabei lobte sie mich sehr, dass ich gar nicht geweint habe. Dieses Lob muss mir wohl zu Kopfe gestiegen sein, denn ich erinnere mich, dass ich nachher eine ganze Weile vor dem Spiegel stand, um mir solchen Helden recht genau zu betrachten.

Da ich entschlossen bin, mich in diesen Blättern der Wahrhaftigkeit zu befleißigen, so will ich auch die zweite Geschichte nicht verschweigen, obwohl ich wenig Ruhm sondern nur das Gegenteil dadurch gewinnen kann. Sie wird zeigen, welch' hässlicher kleiner Dämon in der Brust eines sonst gut gearteten Kindes auftauchen kann. Mein Vater hatte eine Zeit lang große Not, seine geliebten Blumenbeete vor meinen jungen Geschwistern Werner und Frieda zu schützen, die damals wie ich denke drei und zwei Jahre alt waren. Diese kleinen Berserker hatten sich gewöhnt alles abzureißen, was ihnen vor die Finger kam, und hatten so oft Strafe dafür bekommen, dass sie endlich anfingen durch Schaden klug zu werden. Als wir uns nun einmal an einem schönen Frühlingsabende alle drei in der Nähe eines schönen Hyazinthenbeetes befanden, da plagte mich der Teufel, dass ich niederhockte und mit der Hand eine stattliche Hyazinthe hin und her wackelte, als wollte ich sie pflücken. Kaum sahen die beiden Kleinen, was der große Bruder tat, so erwachten die mühsam unterdrückten Instinkte in ihnen aufs Neue, sie stürzten sich jauchzend auf das Blumenbeet und rissen sich ganze Hände voll der schönsten Hyazinthen ab. Ich aber ging sofort hin und klänte sie an, wie man in Mecklenburg sagt, oder wie der Berliner sich ausdrückt: ich petzte. Bei dem nun folgenden peinlichen Verhör fielen höchst bedenkliche Streiflichter auf mich, und die ganze Schändlichkeit meines heimtückischen Verfahrens kam heraus. Ich erinnere mich noch ganz genau der peinlichen Spannung, die mich beherrschte, während die nötigen Knöpfe an dem hinderlichen Kleidungsstücke gelöst wurden, und als nun im Angesicht der sinkenden Frühlingssonne ein furchtbares Strafgericht über mich hereinbrach, war ich fest überzeugt, dies vollkommen verdient zu haben. Ich habe überhaupt während meiner ganzen Kindheit nie die entsetzliche Bitterkeit des Gefühles kennen gelernt, ungerecht gestraft zu werden, sondern immer die Empfindung gehabt, dass Soll und Haben in dieser Hinsicht zu meinen Gunsten abschlössen. Kinder haben oft ein sehr feines Gerechtigkeitsgefühl und so hat mir der Umstand, dass ich bei einer Gelegenheit nicht genug Strafe bekommen hatte, mehr Qual bereitet als jede Züchtigung, die mir sonst geworden ist. Ich hatte meinen drei Jahre jüngeren Bruder Werner mit einem Stück Fischbein geschlagen und zwar so, dass ich es durch Zurückbiegen an seine Hand schnellen ließ, was bekanntlich sehr weh tut. Er schrie nach der Mutter; diese kam und schlug mich zur Strafe mit dem dünnen Fischbein ein paar Mal einfach über die Hand, was ich natürlich garnicht fühlte. Aber in der Seele tat es mir weh, und eine unendliche Rührung überkam mich über die Güte und den Edelmut meiner Mutter, die mich so nach der besseren Seite hin verkannte. Ich verkroch mich tief ergriffen in einen Winkel, wo meine Tränen unaufhaltsam flossen. Noch nach Jahren konnte ich diesen Eindruck nicht verwinden und tiefe Rührung ergriff mich stets, wenn mir dieser kleine Vorgang wieder einfiel. Hätte sie mich auf dieselbe schmerzhafte Weise gestraft, wie ich gesündigt hatte, so wären wir quitt gewesen und niemals wäre mir meine Mutter aus diesem Anlass in einem so engelhaft erhabenen Lichte erschienen, wie es nun der Fall war.