Platon: Theaitetos
Übersetzt von Friedrich Schleiermacher
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Raffael, Die Schule von Athen (Detail)
ISBN 978-3-7437-1149-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-7437-0223-3 (Broschiert)
ISBN 978-3-7437-1118-1 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Entstanden etwa zwischen 369 und 366 v. Chr. Erstdruck (in lateinischer Übersetzung durch Marsilio Ficino) in: Opere, Florenz o. J. (ca. 1482/84). Erstdruck des griechischen Originals in: Hapanta ta tu Platônos, herausgegeben von M. Musoros, Venedig 1513. Erste deutsche Übersetzung durch Johann Friedrich Kleuker unter dem Titel »Theätet, oder von den Wissenschaften« in: Werke, 1. Band, Lemgo 1778. Der Text folgt der Übersetzung durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher von 1805.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Platon: Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider, [1940].
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Eukleides: Kommst du soeben erst, o Terpsion, oder bist du schon lange vom Lande hier?
Terpsion: Ziemlich lange schon. Auch habe ich dich gesucht auf dem Markte und mich gewundert, daß ich dich nicht finden konnte.
Eukleides: Ich war eben nicht in der Stadt.
Terpsion: Wo denn also?
Eukleides: Indem ich an den Hafen hinunterging, begegnete ich dem Theaitetos, der aus dem Lager vor Korinthos nach Athen gebracht ward.
Terpsion: Lebend oder tot?
Eukleides: Lebend, aber kaum noch. Denn schon an einigen Wunden befindet er sich übel; noch mehr aber setzt ihm die Krankheit zu, welche unter dem Heere herrscht.
Terpsion: Doch nicht die Ruhr?
Eukleides: Eben sie.
Terpsion: Welch ein Mann ist da in Gefahr!
Eukleides: Jawohl, ein edler und trefflicher, o Terpsion! Auch jetzt nur hörte ich noch einige ihn höchlich rühmen in bezug auf die Schlacht.
Terpsion: Das ist nichts Unglaubliches, sondern weit wunderbarer wäre es, wenn er sich nicht so bewiesen hätte. Jedoch, wieso ist er nicht hier in Megara eingekehrt?
Eukleides: Er eilte heimwärts. Denn gebeten habe ich ihn genug und ihm geraten, allein er wollte nicht. Wie ich ihn nun begleitet, habe ich im Zurückgehn wieder des Sokrates gedacht und ihn bewundert, wie weissagend er unter vielen andern auch von diesem gesprochen hat. Ich glaube, es war kurz vor seinem Tode, als er mit dem Theaitetos, der noch ein heranwachsender Jüngling war, bekannt ward, und nachdem er mit ihm zusammen gewesen und Gespräch gepflogen, große Freude hatte an seiner Natur. Da ich nun nach Athen kam, erzählte[563] er mir die Unterredungen, welche sie gehabt, welche auch sehr verdienen gehört zu werden, und sagte, es könne nicht ausbleiben, dieser müsse ein ausgezeichneter Mann werden, wenn er nur sein volles Alter erreichte.
Terpsion: Und ganz wahr hat er geredet, wie es scheint. Jedoch könntest du wohl erzählen, was für Unterredungen dies gewesen?
Eukleides: Beim Zeus, zum mindesten gewiß nicht so mündlich. Aber ich zeichnete mir gleich damals, als ich nach Hause kam, etwas darüber auf; hernach habe ich bei größerer Muße nachgesonnen und sie aufgeschrieben, und sooft ich nach Athen kam, erfragte ich vom Sokrates, wessen ich mich nicht recht erinnerte, und brachte es in Ordnung, wenn ich wieder hierher kam, so daß fast die ganze Unterredung nachgeschrieben ist.
Terpsion: Ganz recht. Auch sonst habe ich dies schon von dir gehört und wollte dich immer bitten, sie mir mitzuteilen, es ist aber bis jetzt dabei geblieben. Allein was hindert uns, sie jetzt durchzugehen? Auf alle Weise tut mir ohnedies not, mich auszuruhen, da ich vom Lande komme.
Eukleides: Auch ich habe doch den Theaitetos bis nach Erinus begleitet, so daß ich ebenfalls gar nicht ungern ruhte. So laß uns dann gehen, und indes wir der Ruhe pflegen, mag uns der Knabe vorlesen!
Terpsion: Wohlgesprochen!
Eukleides: Dieses hier also, Terpsion, ist das Buch. Ich habe aber das Gespräch solchergestalt abgefaßt, nicht daß Sokrates es mir erzählt, wie er es mir doch erzählt hat, sondern so, daß er wirklich mit denen redet, welche er als Unterredner nannte. Er nannte aber den Mathematiker Theodoros und den Theaitetos. Damit nämlich in dem geschriebenen Aufsatz die Nachweisungen zwischen dem Gespräch nicht beschwerlich fielen, wie wenn er selbst, Sokrates, geredet das »Da sprach ich« oder »Darauf sagte ich«, und von dem Antwortenden »Das gab er zu« und »Darin wollte er nicht beistimmen«, – deshalb habe ich geschrieben, als ob er unmittelbar mit jenen redete, mit Hinweglassung aller dieser Dinge.
Terpsion: Gar nicht übel, Eukleides.
Eukleides: So nimm denn das Buch, Knabe, und lies![564]
Sokrates: Wenn mich die Kyrenaier besonders angingen, o Theodoros, so würde ich dich über sie, und wie es dort steht, befragen, ob es einige gibt unter den jungen Leuten dort, welche in der Mathematik oder in einer andern Wissenschaft Fleiß anwenden. Nun aber – denn ich liebe jene weniger als die hiesigen und trage ein besonderes Verlangen, zu wissen, welche von unsern Jünglingen wahrscheinlich einmal Ehre einlegen werden – also suche ich selbst dieses nach Möglichkeit zu erforschen und befrage darum auch andere, zu denen ich die Jünglinge gern sich gesellen sehe. Und dich umgeben nicht wenige, wie du es auch sonst verdienst, besonders aber wegen der Mathematik. Wenn dir also einer aufgestoßen ist, der Erwähnung verdient, so wünschte ich es wohl zu wissen.
Theodoros: Allerdings, Sokrates, darf ich dir wohl gern sagen und du wirst auch gern hören wollen, was für einen Jüngling ich unter euren Bürgersöhnen angetroffen. Denn wäre er etwa schön, so möchte ich wohl Furcht genug haben, es zu sagen, damit nicht jemand meinte, ich hege eine Leidenschaft für ihn. Nun aber – werde mir nur ja nicht böse! – ist er eben nicht schön, sondern er gleicht dir mit der aufgeworfenen Nase und den heraustretenden Augen; nur hat er diese Züge nicht so stark wie du. Dreist rede ich also, und so wisse denn, daß unter allen, mit denen ich jemals bekannt geworden, – und ich habe schon sehr viele um mich gehabt –, ich noch nie einen so bewunderungswürdig wohlgeartet angetroffen. Denn daß einer, welcher schnell auffaßt, wie schwerlich ein anderer, zugleich so ausgezeichnet gleichmütig ist und überdies beharrlich mehr als jeder andere, solche habe ich nicht geglaubt, daß es gebe, auch sehe ich nicht, daß es deren sonst gibt. Sondern die Scharfsinnigen wie dieser und Menschen von schnellem Verstände und gutem Gedächtnis pflegen auch zum Zorn sehr reizbar zu sein und werden hin und her gerissen wie Schiffe ohne Ballast, sind auch von Natur mehr heftig als beharrlich. Die Gesetzteren aber zeigen sich wiederum gewissermaßen träge zum Lernen und gar sehr vergeßlich. Dieser aber schreitet so leicht und sicher und mit Erfolg zu allen Kenntnissen und Untersuchungen, und mit solcher Ruhe, wie sich das Öl ganz geräuschlos[565] ausgießt, daß zu bewundern ist, wie er in diesem Alter dergleichen Dinge auf solche Art behandeln kann. Sokrates: Du gibst treffliche Botschaft! Aber wem gehört er an unter unsern Bürgern?
Theodoros: Gehört habe ich zwar den Namen, ich entsinne mich seiner aber nicht. Allein er ist unter denen, die hier herankommen, der mittlere. Denn eben hat er mit diesen seinen Freunden sich draußen gesalbt; nun aber scheinen sie, nachdem sie sich gesalbt, hierher zu kommen. Also sieh zu, ob du ihn kennst!
Sokrates: Ich kenne ihn: es ist der Sohn des Euphronios von Sunion, eines Mannes, Freund, gerade so, wie du diesen beschreibst, auch übrigens sehr wohl angesehen, und der ein großes Vermögen hinterlassen hat. Den Namen des Knaben aber weiß ich nicht.
Theodoros: Dessen Name ist Theaitetos. Das Vermögen indes haben seine Vormünder, glaube ich, ziemlich heruntergebracht. Dennoch aber ist auch in dem, was Geld betrifft, seine edle Gesinnung zu bewundern.
Sokrates: Du preisest ihn ja herrlich! So heiße ihn dann sich hierher zu uns niedersetzen!
Theodoros: Das soll geschehen. Theaitetos, hierher zum Sokrates!
Sokrates: Ja, auf alle Weise, Theaitetos, damit ich mich auch einmal beschaue, was für ein Gesicht ich wohl habe. Denn Theodoros sagt, es sei dem deinigen ähnlich. Jedoch wenn wir nun beide jeder eine Leier hätten und er sagte, sie wären gleichgestimmt: würden wir ihm das sogleich glauben, oder würden wir erst untersuchen, ob er denn auch ein Tonkundiger wäre und so etwas behaupten könne?
Theaitetos: Das würden wir untersuchen.
Sokrates: Also wenn wir ihn als einen solchen erfänden, würden wir ihm glauben; wenn er aber von dieser Kunst verlassen wäre, würden wir ungläubig bleiben?
Theaitetos: Richtig.
Sokrates: Nun aber, meine ich wenigstens, wenn wir über die Ähnlichkeit unserer Gesichtszüge gewiß sein wollen, werden wir wohl zusehen müssen, ob er auch ein Maler ist und also hierüber etwas behaupten kann oder nicht.
[566] Theaitetos: So scheint es mir.
Sokrates: Ist nun wohl Theodoros ein Maler?
Theaitetos: Nicht, daß ich wüßte.
Sokrates: Auch kein Mathematiker?
Theaitetos: Das freilich auf alle Weise, o Sokrates.
Sokrates: Etwa auch ein Sternkundiger, ein Rechner, ein Tonkundiger, und was sonst zu diesen Wissenschaften gehört?
Theaitetos: Ich denke wohl.
Sokrates: Wenn er also sagt, daß wir uns irgend körperlich ähnlich sind, er sage es nun lobend oder tadelnd, so ist wohl nicht viel darauf zu geben?
Theaitetos: Vielleicht nicht.
Sokrates: Wie aber, wenn er die Seele eines von uns der Tugend und Weisheit wegen lobte: sollte dann nicht einerseits, wer es hört, sich billig Mühe geben, den Gelobten betrachten zu können, dieser aber wiederum sich bereitwillig darstellen?
Theaitetos: Allerdings, o Sokrates.
Sokrates: So ist demnach, lieber Theaitetos, an dir die Reihe, dich darzustellen, an mir aber, dich zu beschauen. Denn wisse nur, daß Theodoros schon viele zwar gegen mich gelobt hat, Fremde sowohl als Bürger, noch keinen aber hat er jemals so gelobt, als dich jetzt eben.
Theaitetos: Das wäre ja herrlich, Sokrates! Aber sieh zu, daß er es nicht etwa im Scherz gesagt hat!
Sokrates: Das ist nicht die Art des Theodoros. Also nimm nur nicht das Eingestandene zurück unter dem Verwände, er rede im Scherz, damit er nicht genötigt werde, ordentlich Zeugnis abzulegen; denn es wird ihn dann gewiß niemand falschen Zeugnisses anklagen. Sondern bleibe lieber getrost bei deinem Eingeständnis!
Theaitetos: Wohl werde ich es so halten müssen, wenn du meinst.
Sokrates: So sage mir denn: Lernst du wohl bei dem Theodoros etwas von der Mathematik?
Theaitetos: O ja.
Sokrates: Auch von der Sternkunde und der Tonkunst und den Rechnungen?
Theaitetos: Ich befleißige mich wenigstens.
Sokrates: Auch ich, o Jüngling, bei diesem und anderen,[567] denen ich zutraue, daß sie sich auf etwas hiervon verstehen, Dennoch aber, wiewohl ich im übrigen ziemlich Bescheid weiß, habe ich Zweifel über eine Kleinigkeit, die ich wohl mit dir und diesen untersuchen möchte. Sage mir also: Heißt nicht Lernen dessen kundiger werden, was man lernt?
Theaitetos: Wie anders?
Sokrates: Und die Kundigen, glaube ich, sind doch durch Wissenschaft kundig?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Und das ist doch nichts anderes als Erkenntnis?
Theaitetos: Was denn?
Sokrates: Die Wissenschaft. Oder ist man nicht, wovon man Erkenntnis hat, dessen auch kundig?
Theaitetos: Wie sonst?
Sokrates: Also ist dies einerlei, Wissenschaft und Erkenntnis?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Dies ist nun eben, worüber ich zweifelhaft bin und was ich durch mich selbst nicht hinreichend ergründen kann: die Erkenntnis, was die wohl eigentlich sein mag. Sollten wir es wohl bestimmen können? Was sagt ihr? Wer von uns will es zuerst erklären? Wenn er aber fehlt, und so jedesmal wer fehlt, soll, wie es die Knaben beim Ballspiel nennen, Esel sitzen. Wer aber, ohne zu fehlen, den Sieg davonträgt, der soll unser König sein und uns zu beantworten aufgeben, was er will. Warum schweigt ihr? Ich werde doch nicht aus Redelust überlästig, Theodoros, indem ich es darauf anlege, daß ein Gespräch zwischen uns entstehe und wir einander freund und näher bekannt werden?
Theodoros: Keineswegs, Sokrates, kann das überlästig sein. Sondern heiße einen von den Jünglingen dir antworten, denn ich bin dieser Art zu reden ungewohnt, und mich etwa noch daran zu gewöhnen, habe ich nicht mehr die Jahre. Diesen aber steht es sehr wohl an, und sie würden nur um so mehr zunehmen. Denn in der Jugend, das ist wahr, kann man in allem zunehmen. Laß also, wie du angefangen hast, nicht ab vom Theaitetos, sondern befrage ihn!
Sokrates: Du hörst doch, Theaitetos, was Theodoros sagt, welchem du ja, glaube ich, nicht wirst ungehorsam sein wollen; auch würde es wohl dem Jüngeren nicht ziemen, einem[568] weisen Manne, wenn er etwas aufgibt, in solchen Dingen nicht zu gehorchen. – So sage denn gerade und dreist heraus: Was denkst du, daß Erkenntnis ist?
Theaitetos: Ich muß wohl, Sokrates, wenn ihr es doch gebietet. Denn auf jeden Fall, wenn ich auch fehle, werdet ihr es berichtigen.
Sokrates: Allerdings, sofern wir es vermögen.
Theaitetos: Ich glaube also, daß sowohl dasjenige, was jemand vom Theodoros lernen kann, Erkenntnisse sind, die Meßkunst nämlich und die andern, welche du jetzt eben genannt hast, als auch auf der andern Seite die Schuhmacherkunst und die Künste der übrigen Handwerker scheinen mir alle und jede nichts anders zu sein als Erkenntnis.
Sokrates: Gar offen und freigebig. Lieber, gibst du mir, um eins gefragt, vielerlei, und Mannigfaltiges statt des Einfachen.
Theaitetos: Wie? Was meinst du damit, Sokrates?
Sokrates: Vielleicht nichts; was ich aber meine, will ich dir erklären. Wenn du sagst »das Schuhmachern«, meinst du damit etwas anderes als die Erkenntnis von Verfertigung der Schuhe?
Theaitetos: Nichts anderes.
Sokrates: Und wenn du sagst »die Tischlerei«, meinst du dann etwas anderes als die Erkenntnis von Verfertigung hölzerner Gerätschaften?
Theaitetos: Auch dann nicht.
Sokrates: In beiden Fällen also bestimmst du, wovon ein jedes die Erkenntnis ist?
Theaitetos: Ja.
Sokrates: Das Gefragte aber war nicht dieses, wovon es Erkenntnis gäbe, noch auch, wievielerlei sie wäre. Denn wir fragten nicht in der Absicht, sie aufzuzählen, sondern um die Erkenntnisselbst zu begreifen, was sie wohl sein mag. Oder habe ich unrecht?
Theaitetos: Allerdings ist es ganz richtig.
Sokrates: Erwäge auch dieses: Wenn uns jemand etwas ganz Gemeines, das erste beste, fragte, etwa nach dem Lehm, was der wohl wäre, und wir antworteten ihm, es gäbe Lehm für die Töpfer, und Lehm für die Puppenmacher, und Lehm für die Ziegelstreicher, – ob wir uns nicht lächerlich machten?
Theaitetos: Vielleicht wohl.
[569] Sokrates: Zuerst nämlich schon, weil wir glaubten, der Fragende könne nun aus unserer Antwort die Sache verstehen, wenn wir doch wieder sagten, der Lehm, mögen wir nun hernach hinzusetzen der Puppenmacher oder welches anderen Handwerkers. Oder glaubst du, daß jemand eine besondere Bezeichnung eines Dinges versteht, von dem er nicht weiß, was es ist?
Theaitetos: Auf keine Weise.
Sokrates: So versteht also auch Erkenntnis von Schuhen nicht, wer überhaupt nicht weiß, was Erkenntnis ist.
Theaitetos: Freilich nicht.
Sokrates: Also auch was Schuhmachen ist oder irgend eine andere Kunst, versteht der nicht, der nicht weiß, was Erkenntnis ist.
Theaitetos: Freilich nicht.
Sokrates: Es ist also eine lächerliche Antwort von dem, welcher gefragt wird, was Erkenntnis ist, wenn er darauf durch den Namen irgend einer Kunst antwortet. Denn er antwortet durch eine Erkenntnis von etwas, ohne hiernach gefragt worden zu sein.
Theaitetos: So scheint es.
Sokrates: Dann auch, da er konnte schlicht und kurz antworten, beschreibt er einen unendlichen Weg. So z.B. auch bei der Frage nach dem Lehm konnte er ganz schlicht und einfach sagen, Erde mit Feuchtigkeit gemischt wäre Lehm; für wen aber der Lehm wäre, das konnte er übergehen.
Theaitetos: Leicht, o Sokrates, erscheint es nun. Du magst aber wohl nach etwas Ähnlichem fragen, wie uns neulich in unseren Beschäftigungen vorgekommen ist, mir und hier deinem Namensgenossen, dem Sokrates.
Sokrates: Was doch war das?
Theaitetos: Von den Seiten der Vierecke zeichnete uns Theodoros etwas vor, indem er uns von der des dreifüßigen und fünffüßigen bewies, daß sie als Länge nicht meßbar wären durch die einfüßige. Und so ging er jede einzeln durch bis zur siebzehnfüßigen; bei dieser hielt er inne. Uns nun fiel so etwas ein: da der Seiten unendlich viele zu sein schienen, wollten wir versuchen, sie zusammenzufassen in eins, wodurch wir diese alle bezeichnen könnten.
[570] Sokrates: Habt ihr auch so etwas gefunden?
Theaitetos: Ich denke wenigstens; betrachte du es nur auch!
Sokrates: So sprich!
Theaitetos: Wir teilten alle Zahlen insgesamt in zwei Teile. Diejenigen, welche entstehen können durch Gleiches gleichvielmal genommen, nannten wir, mit der Gestalt des Viereckes sie vergleichend, viereckige und gleichseitige.
Sokrates: Sehr gut.
Theaitetos: Die aber zwischen diesen, wozu auch drei und fünf gehören, und jede, welche nicht kann aus gleichem gleichvielmal genommen entstehen, sondern nur aus einer größeren Zahl wenigermal oder einer kleineren mehrmal genommen, welche also immer von einer größeren und einer kleineren Seite eingefaßt werden, diese nannten wir, mit der länglichen Gestalt sie vergleichend, längliche Zahlen.
Sokrates: Vortrefflich. Aber nun weiter!
Theaitetos: Alle Linien nun, welche ein Viereck bilden von gleichseitiger Zahl in der Fläche, nannten wir Längen; welche aber eins von ungleichseitiger Zahl bilden, diese nannten wir Kräfte, weil nämlich sie selbst als Längen nicht durch gleiches Maß mit jenen können gemessen werden, wohl aber die Flächen, welche sie hervorzubringen die Kraft haben. Ein Ähnliches findet nun statt bei den körperlichen Zahlen.
Sokrates: So vortrefflich als möglich, ihr Kinder! Nun wird Theodoros gewiß nicht in die Strafe des falschen Zeugnisses verfallen.
Theaitetos: Doch aber, o Sokrates, kann ich, was du von der Erkenntnis fragst, nicht so beantworten wie das von den Längen und Kräften, obwohl du, wie es mir wenigstens scheint, etwas Ähnliches suchst, so daß Theodoros doch wieder Unrecht zu haben scheint.
Sokrates: Wieso? Wenn er dich nun deines Laufens wegen gelobt und gesagt hätte, er habe noch nie unter den jungen Leuten einen so Schnellfüßigen angetroffen, und wenn du hernach beim Wettlauf von einem völlig Ausgebildeten und sehr Schnellen überwunden würdest, – würdest du deshalb glauben, daß er dich minder mit Recht gelobt habe?
Theaitetos: Nein, das nicht.
Sokrates: Und glaubst du, daß die Erkenntnis, so wie ich es[571] jetzt meinte, zu finden eine Kleinigkeit ist und nicht vielmehr unter die gar schwierigen Aufgaben gehört?
Theaitetos: Beim Zeus, unter die allerschwierigsten, glaube ich.
Sokrates: Sei nur gutes Mutes deinetwegen und glaube, daß Theodoros wohl recht gehabt hat! Bestrebe dich aber, wie von andern Dingen, so besonders von der Erkenntnis die Erklärung zu finden, was sie eigentlich ist!
Theaitetos: Sofern es nur am Bestreben liegt, soll sie wohl ans Licht kommen.
Sokrates: So komm, denn du hast schon sehr gut vorgezeichnet, und versuche nur, deine Antwort wegen jener Seiten der Vierecke nachahmend, so wie du diese, so viele es auch sind, unter einen Begriff zusammengefaßt hast, so auch die vielerlei Erkenntnisse durch eine Erklärung zu bezeichnen!
Theaitetos: Wisse nur, Sokrates, ich habe oft versucht, dieses herauszufinden, da ich die von dir herumgehenden Fragen hörte; aber ich kann weder mich selbst überreden, daß ich etwas Genügendes ausgedacht hätte, noch höre ich irgend einen andern die Sache so, wie du es forderst, erklären. Ebensowenig aber kann ich jemals ablassen, darauf zu sinnen.
Sokrates: Du hast eben Geburtsschmerzen, lieber Theaitetos, weil du nicht leer bist, sondern schwanger gehst.
Theaitetos: Das weiß ich weiter nicht; wie es mir aber ergeht, das habe ich dir gesagt.
Sokrates: Also du Lächerlicher hast wohl niemals gehört, daß ich der Sohn einer Hebamme bin, einer sehr berühmten und ehrwürdigen, der Phainarete?
Theaitetos: Das habe ich wohl schon gehört.
Sokrates: Etwa auch, daß ich dieselbe Kunst ausübe, hast du gehört?
Theaitetos: