Mila und die geheime Schule

 

 

 

Für meine Tochter

Kapitel 1 Der falsche Fahrer zur Fabelschule

RRRRRRRRRRRRRR!!!

Unsere Türklingel klang ein bisschen wie eine Waschmaschine im Schleudergang, und Freddie, der als Gleithörnchen auf meiner Schulter saß, zuckte zusammen. Freddie war übrigens nicht immer ein Gleithörnchen. Einmal im Monat, bei Vollmond nämlich, wurde er zum Menschen. Aber heute war kein Vollmond und Freddie kein Mensch. Er hob ab und segelte auf das Fensterbrett.

»Das ist bestimmt Frau Abendschön!«, rief ich. Frau Abendschön war die Direktorin meiner neuen Schule, und soweit ich wusste, war sie immer ein Mensch. Ganz sicher sein konnte ich mir da aber nicht, denn an ihrer Schule war so gut wie alles möglich!

»Fährst du mit?«, fragte ich Freddie. »Oder fliegst du lieber?« Ich flitzte den Flur entlang zur Tür. Kurz drehte ich den Kopf und schaute meinen Freund abwartend an.

Der schnupperte und verzog sein Gesicht. Er deutete mit einer Pfote hinaus, winkte mit der anderen und segelte aus dem Fenster. »Yiep!«, rief er mir dabei zu. »Yieeep, yieeep!«

»Alles klar, bis gleich auf Wiesenfels!«, antwortete ich und griff gerade nach der Türklinke, als es erneut klingelte.

»Bin schon dahaaa!« Ich riss die Tür auf und strahlte drauflos. Aber das Lächeln gefror mir sofort wieder, und ich verstand, warum Freddie so eine Grimasse gezogen hatte. Unwillkürlich machte ich einen Schritt rückwärts, stolperte über meinen gepackten Koffer, der an der Wand lehnte, und knallte auf den Boden. Vor mir stand nicht die Schuldirektorin, sondern der griesgrämige Biolehrer Herr Ritter.

»Sie?« Hektisch rappelte ich mich auf. »Wo ist denn Frau Abendschön?«

»Die Direktorin unterrichtet«, antwortete Herr Ritter knapp. »Ich soll dich nach Wiesenfels bringen. Bist du fertig, Mila?«

Ich nickte etwas verunsichert. Rasch ging ich zurück und schloss das Fenster. Von Freddie war nichts mehr zu sehen. Ich seufzte. Fliegen – oder besser gesagt: von Baum zu Baum gleiten – müsste man können! Doch dann drehte ich mich entschlossen um. Ab heute würde ich im Internat Burg Wiesenfels wohnen, der Schutzstation für die letzten Fabelwesen der Welt. Das war der eindeutig beste Tag meines Lebens, und eine kurze Autofahrt mit Herrn Ritter würde mir die Laune nicht verderben! So!

»Bist du alleine?«, schnarrte er.

»Ja, Mama musste zur Arbeit, und mein Bruder ist längst in der Schule. Deswegen hat Frau Abendschön ja angeboten, mich abzuho…«

Ich hatte noch nicht fertig gesprochen, da drehte sich Herr Ritter auch schon um, tippte mit seinem Gehstock gegen meinen Koffer und humpelte hinaus. Schnell setzte ich meinen Rucksack auf, schnappte das Gepäck, schloss sorgsam unsere Haustür und folgte ihm zum Auto.

Wir sprachen kein weiteres Wort.

Die ganze Fahrt starrte ich genau wie der Lehrer durch die Windschutzscheibe hinaus, und es dauerte nicht lange, bis wir die schmale, steile Waldstraße erreichten, die sich bergauf Richtung Burg Wiesenfels schlängelte.

Unter den riesigen alten Bäumen war es schattig. Aber die Kälte, die im Auto herrschte, hatte bestimmt nichts damit zu tun, sondern lag eher an Herrn Ritter selbst, der so eiskalt-still war, dass ich fröstelte.

Zum Glück war es jetzt nicht mehr weit.

Gleich würde die Bushaltestelle auftauchen, an der ich sonst immer ausgestiegen war und wo Freddie schon am zweiten Tag auf mich gewartet hatte.

Eine Bewegung am Straßenrand ließ mich aufmerken. Ich drehte meinen Kopf und drückte die Nase ans Fenster. Aber bis auf Bäume und noch mehr Bäume konnte ich nichts entdecken. Nur hier und da flackerte ein Sommersonnenstrahl durch das dicke Blätterdach, malte goldgelbe Muster auf den Boden und …

Da!

Schon wieder! Ein Teil des Wegesrandes schien vor meinen Augen zu verschwimmen. Dabei fuhren wir nun wirklich nicht besonders schnell. Ich zwinkerte. Und dann sah alles wieder ganz normal aus.

Rumms!

Es polterte. Auf dem Autodach!

Herr Ritter fuhr zusammen, riss das Lenkrad herum und trat auf die Bremse. Die Reifen quietschten, der Wagen drehte sich, und wir standen plötzlich quer auf der Straße. Dabei wurde ich erst in den Sitz gedrückt, nur um dann wieder nach vorne gerissen zu werden. Der Gurt schnitt mir schmerzhaft in die Schulter.

Fluchend riss Herr Ritter die Fahrertür auf, holte umständlich seinen Gehstock vom Rücksitz und stieg aus. Er ging einmal um den Wagen, begutachtete das Dach und schaute dann die Straße entlang.

Ich fummelte verzweifelt an meinem Gurt. Warum kriegte ich das blöde Ding nicht auf? Immer wieder drückte ich auf den roten Knopf.

Endlich löste er sich. Aber gerade als ich den Türöffner ergriff, verschwamm die Fensterscheibe direkt vor meiner Nase. Es sah so aus, als würde das Glas schmelzen.

»W-was ist das?«, wisperte ich.

Mit einem Murren stieg Herr Ritter wieder ein und murmelte: »Ist bestimmt nur ein Ast aufs Auto gefallen.« Er ließ den Motor wieder an.

»Aber schauen Sie doch!« Ich deutete auf die Fensterscheibe rechts neben mir. Sah er das denn nicht? »Da stimmt was nicht mit Ihrem Auto, da …«

»Was denn, Mila?« Herr Ritter klang ungeduldig.

»Die Scheibe – sie ist …« Ich verstummte. Die Scheibe war wieder ganz normal. Klar und durchsichtig.

Herr Ritter musterte mich kurz. Dann schüttelte er den Kopf, seine grauen Haare, wie immer zu einem Pferdeschwanz gebunden, flogen dabei hin und her. Ohne ein weiteres Wort fuhr er los.

Ich klappte den Mund zu, als ich merkte, dass er mir vor Überraschung immer noch weit offen stand.

Was hatte ich da gesehen? Und wieso hatte es Herr Ritter nicht bemerkt? Ich rieb meine Augen. Ob mich einfach nur die die Sonne geblendet hatte?

Kurz bevor wir endlich in die unauffällige Einfahrt einbogen und ich die mir inzwischen so vertraute Burgruine sah, atmete ich auf. Wir waren da!

Kaum hatte Herr Ritter geparkt, hüpfte ich aus dem Auto und lief zur Koppel neben dem Burghof. Cleopatra, die eben noch unter einem Baum gelegen hatte, sprang sofort auf und kam angelaufen. Die Chimäre sah aus wie eine riesige Wildkatze, nur mit Pan-Hörnern zwischen den Ohren, Drachenstacheln auf dem Rücken und einer Einhornmähne. Sie begrüßte mich mit einem lauten Schnurren. Glücklich kraulte ich ihren Hals.

»Wir können uns jetzt jeden Tag sehen!«, flüsterte ich dem Fabelwesen zu. »Ist das nicht der Hammer?«

»Mila«, erklang die Stimme von Herrn Ritter hinter mir. »Der Unterricht hat längst begonnen.«

»Ich wollte doch nur kurz Cleopatra begrüßen«, sagte ich.

»Das Wesen ist gefährlich«, erwiderte Herr Ritter und deutete auf sein Bein, dorthin, wo Cleopatra ihn gebissen hatte. Er humpelte immer noch und brauchte deswegen einen Stock. »Auch wenn sie noch so laut schnurrt.«

»Sie ist nicht gefährlich«, erwiderte ich und verkniff mir die Bemerkung, dass sie ihn nur gebissen hatte, weil er sie eingesperrt hatte.

Herr Ritter antwortete nicht. Nun, das Gespräch hatten wir ja auch schon einige Male geführt.

Der Lehrer zog die Augenbrauen zusammen und deutete mit seinem Gehstock auf die Eingangstür der Burg. Zum Abschied tätschelte ich Cleopatra noch einmal den Rücken, dann ging ich schnell die Stufen zum Eingang hinauf. Dabei wurde mir ganz warm im Bauch. Hier in Wiesenfels war ich genau richtig. Hier gehörte ich hin. Da war ich mir ganz sicher. Und auch ein miesepetriger Herr Ritter konnte daran nichts ändern.

Ich zog die schwere Burgtür auf und rannte hinein.

Kapitel 2 Die fabelhaften Fähigkeiten der Fabelspinnen

In der Eingangshalle roch es nach Essen. Ich schnupperte und versuchte zu erraten, was es wohl heute zum Mittagessen geben würde. Gemüsesuppe? Oder Nudeln mit Soße? Oder vielleicht sogar Pizza? Es war still in der Halle, die sich in der Pause in einen Essenssaal verwandeln würde.

Mein Klassenzimmer lag im ersten Stock der Burg. Ich lief an der riesigen steinernen Drachenstatue vorbei, die in der Ecke des großen Raumes stand und die überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem sanften und scheuen Wasserdrachen Siegbert hatte, der ganz in der Nähe im Waldsee lebte.

Aber noch bevor ich das Treppenhaus erreicht hatte, stürmte Kim mir entgegen, gefolgt von einer etwas langsameren Laila, die beide Hände über dem Kopf hielt. Ihre kurzen Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab. Klar, da saß bestimmt Ix, der kleine, unsichtbare Babydrache, um den Laila sich wie eine Mutter kümmerte.

Im selben Moment spürte ich, wie jemand mir gegen die Schulter stieß, und schon ertönte das leise »Yieeep« an meinem Ohr, das ich mittlerweile nur zu gut kannte. Freddie war auf meiner Schulter gelandet. Querwaldein zu gleiten ging eindeutig schneller, als mit dem Auto hierherzufahren.

»Mila!« Laila lächelte mich an.

Aber noch bevor ich irgendwas zur Begrüßung erwidern konnte, tauchte Janus auf. Nun war die gesamte fünfte Klasse versammelt. Ja, wir waren tatsächlich nur vier Kinder! Also fünf, wenn Freddie dabei war.

Ein paar ältere Schüler kamen hinter Janus angelaufen.

»Habt ihr sie gefunden?«, fragte einer.

Für eine Sekunde dachte ich, er spräche von mir. Doch Janus antwortete: »Nein, keine Spur.«

»Wen sucht ihr denn?«, fragte ich, als der Junge sich hinkniete und auf allen vieren den Boden absuchte, während Janus nach oben guckte.

»Die Fabelspinnen aus dem Klassenraum der Sechsten sind abgehauen«, erklärte mir Laila.

Ich wusste, dass es Fabelspinnen in Wiesenfels gab, allerdings hatte ich sie noch nie gesehen. »Abgehauen?«

Der Schüler auf dem Boden nickte.

Und Laila sagte: »Die Spinnen leben in einem offenen Terrarium, und sie können kommen und gehen, wann sie wollen. Aber jetzt sind sie schon seit gestern verschwunden.«

»So lange sind sie normalerweise nie unterwegs«, fügte der Junge, der nun auf Knien den Boden entlangkrabbelte, hinzu und klang dabei so besorgt, wie alle anderen aussahen.

»Ich helfe euch«, sagte ich sofort.

»Aha, aha«, erklang da Frau Abendschöns Stimme hinter mir. Die Schuldirektorin musste aus der Küche gekommen sein, denn sie tauchte in dem schmalen Gang neben der Statue auf und lächelte mich an. »Da bist du ja, Mila. Sicher hast du schon gehört, was los ist?«

Ich nickte.

»Ich schlage vor, dass du dir deinen Koffer schnappst und ihn mit Laila in euer Zimmer bringst«, sagte sie. »Und bei der Gelegenheit, aha, aha, könntet ihr gleich die Turmtreppe nach unseren kleinen Ausreißern absuchen, ja?«

Ich nickte erneut und spürte, wie mein Herz bei den Worten euer Zimmer einen kleinen Purzelbaum schlug.

Freddie segelte von meiner Schulter herab und guckte mich erwartungsvoll an.

»Kommst du mit?«, fragte ich.

Zur Antwort huschte er auch schon in Richtung Mädchen-Wohnturm davon, in dem unser Zimmer ganz oben unter dem Dach lag.

 

Laila nahm mir den Schulrucksack ab, und ich schleifte den schweren Koffer die Wendeltreppe hinauf. Vor uns wieselte Freddie, der immer wieder stehen blieb und die Treppenstufen inspizierte, um nach den Spinnen Ausschau zu halten.

»Wie sehen Fabelspinnen eigentlich aus?«, erkundigte ich mich keuchend. Es fühlte sich schon nach ein paar Stufen so an, als hätte ich nur Steine in meinen Koffer gepackt.

»Eigentlich wie normale Spinnen«, erwiderte Laila, die kerzengerade vor mir herlief. Wenn man nichts von Ix auf ihrem Kopf wusste, sah es aus, als hätte sie einen steifen Rücken. »Sie sind ungefähr so groß wie eine Euromünze, ozeanblau und haben schwarze Beine.«

»Ozeanblau?« Das klang hübsch! »Und was können die Spinnen Fabelhaftes?«, fragte ich, als wir in unser Zimmer traten. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und stolperte gegen Lailas Rücken.

Die war nämlich einfach stehen geblieben. Sie schwankte, machte »uff« und ein leises, empörtes Krächzen ertönte von ihrem Kopf.

Gebannt starrte meine Freundin an die Decke. »Ich glaub’s nicht«, murmelte sie und deutete nach oben.

»Oh«, entfuhr es mir. Mir fielen keine Worte für das ein, was ich da sah.

»Das wird deine Frage beantworten, was Fabelspinnen Fabelhaftes können, oder?«, sagte Laila endlich. Sie zwinkerte mir zu.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand und mir das Kunstwerk anschaute. Die Sprache jedenfalls hatte es mir komplett verschlagen.

Denn genau das war es: ein Kunstwerk.

Ich spürte, wie Freddie sich vom Kleiderschrank auf meine Schulter gleiten ließ und zusammen mit mir und Laila das Spinnennetz bewunderte, das sich über meinen gesamten Schreibtisch spannte und in allen erdenklichen Blautönen schimmerte.

Es sah aus wie ein achteckiges Mandala. Etliche wunderschöne Muster umrahmten etwas in der Mitte. Und dieses Etwas war ganz eindeutig ein Gesicht: mein Gesicht!

Ich ließ mich auf mein Bett plumpsen. »Das ist ja … puh.« Das traf es nicht ganz, aber ich war zu verblüfft, um was Gescheites zu sagen.

Laila nickte ganz so, als hätte ich den Satz zu Ende gesprochen. »Die Spinnen können wirklich tolle Bilder spinnen«, sagte sie. »Aber so was – also, dass sie für jemanden etwas ganz Persönliches machen, das habe ich noch nie erlebt.« Meine Freundin lächelte. »Mila, die Fabeltiere mögen dich, so viel steht schon mal fest.«

Freddie yiepte zustimmend und segelte anschließend zur Tür hinaus. Es dauerte nicht lange, bis er mit ein paar Sechstklässlern zurückkam. Und dann musste sich in Windeseile herumgesprochen haben, dass es bei uns etwas zu sehen gab, denn nach und nach erschienen immer mehr Schüler, um das Spinnennetz zu bewundern.

Auch Herr Ritter stand plötzlich im Raum.

Nach einer gefühlten Ewigkeit riss er seinen Blick vom Netz los und starrte mich an.

Augenblicklich überlief mich ein Schauer. Ich fuhr mir mit den Händen über meine Unterarme, um die Gänsehaut loszuwerden, die sein eiskalter Blick in mir auslöste.

Erst als Janus hereinplatzte und verkündete, dass die Spinnen wieder in ihrem Terrarium seien, löste Herr Ritter seine Augen von mir.

Er drehte sich um und verließ unser Zimmer, ohne auch nur ein einziges Wort gesagt zu haben. Erleichtert atmete ich aus.

Ich hatte wirklich keine Ahnung, warum Herr Ritter mich nicht ausstehen konnte!

Kapitel 3 Ein Mittagessen mit Quarkeinlage und unerwartete Neuankünfte

Eine Weile später saßen wir beim Mittagessen. (Ich war noch schnell in den Klassenraum der Sechsten gelaufen, um die Fabelspinnen zu betrachten und mich bei ihnen zu bedanken.) Es gab übrigens weder Nudeln noch Pizza oder Suppe, sondern Bratkartoffeln, Gemüseburger und, zu Freddies Freude, Salat mit Haselnüssen. Der Nachtisch war Erdbeerquarkspeise, auf jedem Tisch stand eine große Schale davon.

Laila brach ein Stück ihres Burgers ab und hielt ihn über ihren Kopf. Ein leises Schmatzen ertönte, und das Stück verschwand, einfach so.

»Ix liebt Gemüse«, kommentierte Laila. »Heute Morgen hat er sogar Freddies Frühstück geklaut!«

Freddie, der auf dem Stuhlrücken neben mir balancierte, yiepte fröhlich, schnappte sich eine Gurkenscheibe von seinem Teller und hielt sie in die Luft. Ein Flattergeräusch ertönte, ich spürte einen Luftzug, und schwups, verschwand die Gurke aus Freddies Pfote.

»Hatschi«, machte ich und spürte, wie ein Flügel mich streifte. Überraschenderweise hatte ich eine leichte Allergie gegen Ix, die aber nur zum Vorschein kam, wenn er mich berührte.