INKA LOREEN MINDEN
Last Hope
Flucht von Terra Nova
romantisch-dystopische Novelle
Bist du bereit, zwei Leben für die Visionen eines Mannes aufs Spiel zu setzen, den du kaum kennst?
Keena lebt mit ihrem kleinen Sohn in der schönen neuen Welt Terra Nova. Doch das Paradies währt nicht ewig. Ein Virus löscht die Menschheit fast vollständig aus und bringt zombieähnliche Wesen – die Tumber – hervor. Seitdem kämpfen Keena und ihr Kind ums tägliche Überleben.
Nach einem Angriff rettet ein Fremder Keena in letzter Sekunde und nistet sich in ihrem Versteck ein. Er pflegt sie gesund und stellt sich als Blake vor. Sofort fühlt sie sich zu dem ehemaligen Soldaten hingezogen, und die beiden kommen sich näher, obwohl Keena nach einigen schlimmen Erfahrungen niemandem mehr vertraut.
Als Blake ihr den Vorschlag unterbreitet, aus der Stadt zu fliehen, um mit ihm an einem anderen Ort neu zu beginnen, schließt sie sich ihrem Sohn zuliebe seiner Mission an.
Doch bis sie ein besseres Leben erwartet, ist es ein weiter Weg. Zahlreiche Gefahren begegnen ihnen innerhalb, aber vor allem außerhalb der Stadtmauern. Dabei erfährt Keena, dass Blake ihr nicht die ganze Wahrheit über die Outlands erzählt hat. Denn dort gibt es weit Schrecklicheres als die Tumber.
Wird sie dennoch ihr Leben und das ihres Sohnes in seine Hände legen?
Eine Lovestory in einer Welt voller Gefahren.
Hinweis: Der erste Teil dieses Buches erschien für kurze Zeit unter dem Titel »Flucht von Terra Nova«. Die vorliegende Ausgabe enthält die gesamte Geschichte.
Ca. 200 Taschenbuchseiten.
Im Jahre 2120 verließen Abertausende der wohlhabendsten Menschen in gigantischen Space-Archen die Erde. Über zwei Jahrzehnte lang steuerten sie durch das Weltall in eine ungewisse Zukunft. Die Lebensbedingungen hatten sich drastisch verschlechtert; der Klimawandel und die Zerstörung der Ozonschicht führten zu massiven genetischen Schäden bei Menschen, Tieren und Pflanzen. Jedoch gelang es den klügsten Köpfen, in der Unendlichkeit des Universums einen mondgroßen Planeten zu entdecken, auf dem ähnliche Lebensbedingungen vorherrschten wie auf der Erde.
Auf Terra Nova fanden die Menschen und die Tiere, die sie mitgebracht hatten, ein neues Zuhause. Während die Zurückgebliebenen auf der Erde starben, wurde eine gigantische Stadt errichtet, die sie wie eine Festung sicherten, obwohl ihnen keine Gefahr drohte: Miracle City. Aber sie wollten nichts mehr dem Zufall überlassen.
Den Menschen ging es blendend, sie lebten wie im Paradies. Die mitgebrachten Pflanzen schienen viel besser zu gedeihen als auf der Erde und es gab Nahrung für alle im Überfluss.
Doch das Paradies währte nicht ewig. Fünf Generationen später hatte es ein kleines Virus geschafft, die Menschheit erneut fast vollständig auszulöschen und grausame Wesen hervorzubringen, die nur Übles im Sinn hatten …
Keena beugte sich zu ihrem Sohn Kevin hinunter, der in seinem Bett saß und mit bunten Karten spielte. »Du bleibst heute noch hier, Schatz, und ruhst dich aus. Mami geht schnell und holt Essen.«
»Darf ich mit? Biiitte Mami! Mir ist so langweilig!« Ihr 4-jähriger Blondschopf blickte sie aus großen blauen Kulleraugen an.
Doch sie blieb hart. »Morgen vielleicht.«
»Versprich es mir!«, flehte Kevin, während er an ihrem T-Shirt zog.
Wie konnte sie diesem süßen Fratz nur etwas abschlagen? »Okay, versprochen. Morgen.« Keena hob ihren Sohn hoch, um ihm einen Kuss auf die Nase zu geben. Der Kleine schlang glücklich die Arme um ihren Hals und drückte sie fest an sich.
Kevin war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Ross hatte genauso hellblaue Augen sowie immer verstrubbeltes, hellblondes Haar gehabt. Doch Ross war jetzt schon zwei Jahre tot und er fehlte ihr unendlich.
An alles hatte sich Keena gewöhnen können: daran, dass die Seuche über neunzig Prozent der Bevölkerung ausgelöscht und sie dadurch so viele geliebte Menschen verloren hatte; daran, dass sie sich in dieser leeren und stillen Welt jetzt mit ihrem Sohn allein durchschlagen musste; an die seelenlosen Tumber, die lediglich ihren Trieben folgten; und sie hatte sich sogar damit abgefunden, dass sie zwei Menschen erschossen hatte. Nur an eines würde sie sich niemals gewöhnen: die grenzenlose Einsamkeit.
Ja, sie hatte Kevin, wofür sie Gott jeden Tag dankte, doch sie sehnte sich nach Geborgenheit und Nähe. Körperlicher Nähe und Wärme, wie sie ihr Ross einst geschenkt hatte. Außerdem brauchte sie jemanden zum Reden und Zuhören. Einen Erwachsenen, dem sie all ihre Ängste und Sorgen anvertrauen konnte, und jemanden, der sie und ihren Sohn beschützte. Zwar konnte Keena gut auf sie beide aufpassen, aber ein Paar zusätzlicher Augen und Hände wären von Vorteil.
Doch so jemanden gab es auf dieser Welt wahrscheinlich nicht mehr.
Keena trug Kevin durch das luxuriöse Penthouse, das sie jetzt für sich und ihren Sohn beanspruchte, aber vor der Seuche einmal einem reichen Geschäftsmann gehört haben mochte, und trat hinaus auf die große Dachterrasse. Hier oben, von der 15. Etage aus, hatten sie eine wundervolle Sicht auf die riesige Stadt mit ihren unzähligen großen und kleinen Häusern, dem weitläufigen Park mit dem Badesee, den inzwischen die Natur zurückerobert hatte, sowie den quadratisch angelegten Straßen mit den verstaubten Autos und Bussen. Von hier aus erkannte Keena sogar die Berge am Horizont.
Doch was nützte ihnen der schönste Ausblick, wenn es nicht mehr viel zu beobachten gab? Die Stadt war seit drei Jahren tot. Nichts regte sich mehr – kein Verkehr, keine wuselnden Menschenmassen auf ihrem Weg zur Arbeit und kein Lärm, der zu ihnen heraufdringen konnte. Alles war still und verlassen, bis auf das Surren einiger Insekten und das Blöcken der Wildtiere, von denen immer mehr ihren Weg aus den Waldzonen in die leere Stadt fanden. Aber wenigstens waren Keena und ihr Sohn hier oben sicher – zumindest vor den Tumbern.
Sie blickte zu den Ruinen und verbrannten Häusern und war froh, dass das große Feuer vor zwei Jahren diesen Stadtteil verschont hatte. Wie durch ein Wunder hatten sie überlebt.
Keena setzte ihren Sohn auf der Terrasse ab und kniete sich vor ihn. »Du kennst unser geheimes Zeichen?«
»Jaaaa, Mami.« Kevin rollte mit den Augen. »Ich bin kein Baby mehr.«
»Mach es mir vor. Hier, an der Scheibe.« Keena ließ ihren Sohn nicht gern allein in der großen Wohnung zurück, doch Kevin hatte sich von seinem Fieber noch nicht ganz erholt. Falls sie vor einem Tumber fliehen mussten, würde sie ihn tragen müssen. Aber dafür fühlte sie sich heute nicht stark genug. Sie befürchtete, dass ihr Sohn sie angesteckt hatte. Also musste sie so schnell wie möglich genug zu essen und trinken besorgen, bevor das Fieber bei ihr zuschlug. Hoffentlich war es nur ein harmloses Virus und nicht die Seuche, die alle dahingerafft hatte. Aber dann hätte sich Kevin nicht erholt. Keena hatte Todesängste um ihren Schatz ausgestanden. Was hätte sie getan, wenn er gestorben wäre? Sie hätte auch nicht mehr leben mögen.
Kevin klopfte zweimal kurz, dreimal lang und einmal kurz.
»Sehr gut, mein Schatz! Und du öffnest nur, wenn du genau dieses Klopfen hörst, verstanden? Du machst auch nicht auf, wenn jemand behauptet, Mami steht vor der Tür.«
»Ja, Mami. Ich weiß das! Ich bin doch schon ein großer Mann, der dich vor allem Bösen beschützen wird.«
»Ich hab dich lieb.« Keena drückte ihren Sohn noch einmal, schnappte sich ihren Rucksack, den Köcher mit den Pfeilen sowie ihren Bogen und verließ die Wohnung. Sie sperrte die Tür niemals ab, damit Kevin raus kam, sollte sie nicht zurückkehren. Sie hatte ihm zwar beigebracht, wie man da draußen überlebte – er besaß eine kleine Armbrust, mit der er bereits hervorragend schießen konnte –, doch er war noch so klein. Was würde er nur ohne sie machen? Wie lange würde er überleben? Wie sollte er sich gegen einen Tumber wehren?
Sie durfte nicht daran denken!
Im Laufschritt nahm sie die fast dreihundert Stufen (die sie und Kevin viele Male gezählt hatten), denn der Aufzug funktionierte schon lange nicht mehr. Und der Strom würde auch nicht mehr wiederkommen.
Als sie endlich in der Eingangshalle war, schwitzte sie und ihre Beine fühlten sich wie Gummi an. Kevin hatte sie tatsächlich angesteckt.
Keena vergewisserte sich, dass ihr Messer sowie der Revolver noch im Gürtel ihrer kurzen Hose steckten. Sie ging sparsam mit den Patronen um und erlegte ihr Essen oder einen Tumber lieber mit dem Bogen. Ein Pfeil verursachte auch kein Geräusch, das weitere Tumber anzog.
Sie musste sich beeilen.
***
Blake lugte hinter einem Fahrzeug hervor und beobachtete, wie die Frau aus der Drehtür des Hochhauses trat. Er hatte schon auf sie gewartet. Erst blickte sie sich um, anschließend rechts und links die Straße hinunter. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Gut!
Wie so oft hatte sie ihren Bogen dabei. Blake hatte sie schon einige Male damit schießen sehen. Sie beherrschte die Waffe gut und sie erinnerte ihn damit an eine Amazone, was auch an ihrem Outfit lag. Sie trug kniehohe Stiefel, Shorts und ein bauchfreies Shirt. Ihr Haare hatte sie zu mehreren Zöpfchen geflochten und im Nacken zusammengebunden. Schwarzer Lidschatten umrahmte ihre großen Augen, wahrscheinlich, damit die Sonne sie nicht blendete.
Sie sah verdammt heiß aus.
Als sie losmarschierte, folgte Blake ihr unauffällig. Er wusste, wohin sie wollte: zum Mega-Store. Da würde sie für sich und den Jungen Vorräte holen, wie fast jeden Tag. Doch das Kind war heute wieder nicht dabei.
Blake spionierte dieser jungen Frau schon seit einigen Tagen hinterher. Mittlerweile war er sich ziemlich sicher, dass sie und der Kleine keine Tumber waren. Dazu erschienen sie ihm zu gesund und verhielten sich zu normal. Also wollte er sie heute ansprechen, doch er musste behutsam vorgehen, jeden Schritt sorgfältig planen. Sie wirkte stets nervös, und er wollte sie auf keinen Fall erschrecken. Schließlich waren sie beide bewaffnet. Blake wollte das Risiko nicht eingehen, dass jemand von ihnen verletzt oder getötet wurde.
Er sehnte sich sehr danach, einfach mal »Hallo, wie geht’s?« zu sagen. Er musste wieder unter Menschen. Unter »normale« Menschen. Er war viel zu lange allein. Schließlich war der Mensch kein Einzelgänger, sondern ein Herdentier. Er zumindest. Das Alleinsein machte ihm zu schaffen, weswegen er irgendwann noch verrückt werden würde.
Gerade betrat die Frau den Supermarkt durch ein eingeschlagenes Fenster, und Blake duckte sich hinter einer umgestürzten Mülltonne.
Seine Hände zitterten leicht, als er sich durchs Haar fuhr, und innerlich bereitete er sich schon auf ihr Zusammentreffen vor. Verdammt, warum war er so nervös? Er wollte sie doch nicht um ihre Hand anhalten. Nur ein wenig mit ihr plaudern. Das musste doch zu bewerkstelligen sein!
Plötzlich bewegte sich hinter ein paar umgefallenen Einkaufswagen etwas. Sofort zog Blake die Pistole aus dem Hosenbund und hielt sich die Hand über die Augen, da ihn die Sonne trotz getönter Brille blendete. Erst bemerkte er nur einen dunklen Schatten, dann erkannte er einen großen Mann in einem schwarzen Mantel, der eine Sonnenbrille und eine dunkelblaue Kappe trug. Es war ein Tumber, keine Frage, die gekrümmte Haltung verriet ihm das sofort.
Vor fünf Generationen hatten seine Vorfahren die Erde verlassen, um hierher, nach Terra Nova, umzusiedeln, weil sich die Lebensbedingungen auf ihrem Planeten drastisch verschlechtert hatten: Überbevölkerung, Nahrungsmittelknappheit, verseuchte Luft, Kriege … um nur einige Beweggründe für ihre Flucht zu nennen.
Auf Terra Nova fingen alle auf dem Stand des 20. Jahrhunderts an, da die klügsten Männer der Erde der Meinung gewesen waren, dass der rasante Fortschritt das Ende ihres Heimatplaneten hervorgerufen hatte.
Blake kannte viele Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik nur aus Aufzeichnungen. Lediglich das Militär hatte die modernsten Waffen besessen, um vor möglichen Gefahren aus dem All gewappnet zu sein. Aber alles deutete darauf hin, dass sie allein waren.
Nur fünf Generationen – und die Menschen auf Terra Nova hatten es geschafft, sich in ihrer neuen Heimat selbst auszulöschen. Oder vielleicht wollte der Planet sie einfach nicht haben. Es hieß, das Virus sei schon vorher da gewesen. Irgendwann war es mutiert und hatte eine Pandemie ausgelöst. Ganz langsam – nach und nach – hatte es im Laufe eines Jahrzehnts fast eine Milliarde Menschen getötet. Als man endlich eine Schutzimpfung entwickelt hatte, war es schon zu spät gewesen. Alle, die das Virus bereits in sich trugen, konnten nicht mehr gerettet werden. Das Virus war schneller gewesen und hatte sich seinen Planeten zurückerobert. Terra Nova – seine Heimat – war jetzt wie ein Gefängnis für Blake.
Wehmütig dachte er an seine Frau und seine kleine Tochter. Beide waren wenige Tage nach der Entbindung gestorben, denn die tödliche Krankheit hatte schon in ihnen gesteckt. Blake vermisste sie noch immer.
Der Tumber kroch hinter den Wagen hervor, um der Frau durch die zerborstene Scheibe in den Supermarkt zu folgen. Blake schlich in ausreichendem Abstand hinter ihm her, hielt sich aber immer hinter den Regalreihen versteckt. Der Tumber beobachtete die Frau und Blake den Tumber.
Seit Blake vor einigen Tagen die junge Frau bemerkt hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken als an sie. Er fand sie wunderschön. Mit seinem Fernglas hatte er hinter einem Busch gelegen, während sie an einem sehr heißen Tag mit dem Jungen ein Bad im großen See des Parks genommen hatte. In ihrer schwarzen Unterwäsche machte sie eine wirklich gute Figur. Ihr Körper, den die harten Lebensbedingungen geformt hatten, wirkte schlank und gut durchtrainiert, hatte aber nichts von seiner Weiblichkeit eingebüßt. Ihre Brüste waren gerade passend für seine Hände und ihr Po rund und fest. Fasziniert hatte er sie beobachtet, wie sie erst dem Jungen und dann sich selbst die Haare gewaschen hatte. Wie gerne hätte Blake seine Finger in ihrer Mähne vergraben, damit er ihren Duft inhalieren konnte. Sicherlich hatte sie wundervolle, weiche Haut und Finger, die ihn zärtlich liebkosen konnten. Es war schon so lange her, dass er die Nähe einer Frau gespürt hatte. Für ihn war sie vollkommen, obwohl sie ihre schmalen Lippen immer verbissen zusammenpresste. Sie entspannten sich nur, wenn sie ihrem Sohn ein Lächeln schenkte. Ein wirklich bezauberndes Lächeln – falls der Junge wirklich ihr Kind war.
Doch er durfte seine Gedanken nicht abschweifen lassen. Ein paar Meter weiter lauerte der Tumber, der ihn bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, weil er auf die Frau fixiert war. Sein widerlicher Gestank drang ihm bis hierher in die Nase. Ein Wunder, dass die Frau die schlaksige Kreatur noch nicht gerochen hatte. Wie viele von ihnen hatte Blake bei seinen Streifzügen durch die Stadt schon getötet? Er wusste es nicht mehr. Er hatte diese Erinnerungen so weit es ging verdrängt. Aber eines konnte er mit Sicherheit sagen: Es gab mehr Tumber als normale Menschen. Tumber – so nannte man die, die sich mit dem Virus infiziert, aber die Krankheit überlebt hatten. Vielleicht als eine mögliche Folge der Impfung. Doch der Erreger hatte sie verändert, große Teile des Gehirns zerstört, sie in seelenlose Hüllen verwandelt, die lediglich ihren Trieben folgten. Das Leben eines Tumber bestand nur aus Schlafen, Essen und Lust befriedigen. Sie waren sehr gefährlich, unberechenbar und gewalttätig. Und dieser Tumber wollte die Frau. Doch die würde er niemals bekommen. Blake wollte sie für sich. Er brauchte sie unbedingt, wenn er seine Mission weiter verfolgen wollte.
***
Keena schlich zwischen den Regalen umher, während sie das ungute Gefühl hatte, verfolgt zu werden. Möglichst lautlos holte sie verschiedene Lebensmittel aus den Ständern und verstaute sie so vorsichtig wie möglich in den Taschen ihres Rucksacks: Trockene Kekse, Chips und Bonbons für Kevin. Die roten mit der sauren Füllung, die er so sehr liebte. Keena holte die letzten drei Packungen heraus, wobei sie sich immer wieder umsah. Ihr kam es vor, als würde sie Blicke in ihrem Nacken spüren, sobald sie sich wieder den Lebensmitteln zuwandte. Das leise Knistern der Bonbon-Tüten jagte ihr kalte Schauder über den Rücken. Oder war es schon der Schüttelfrost? Sie fühlte sich müde und erschöpft.
Ein paar Reihen weiter versorgte sie sich mit Konservendosen: gezuckertes Obst, allerlei Gemüse, Suppen und Eintöpfe. Außerdem brauchte sie aus der Camping-Abteilung noch eine neue Gas-Kartusche für ihren Kocher.
Sie legte alles in den großen Rucksack, verschnürte ihn sicher und hievte sich anschließend das schwere Ding auf den Rücken. Der Rucksack schien eine Tonne zu wiegen und ihre zitternden Knie wollten bei jedem Schritt nachgeben. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Doch ihr geschwächter Körper musste noch ein bisschen durchhalten. Kevin wartete auf sie.
Mühsam schleppte sie sich weiter, schulterte ihren Bogen und schnappte sich links und rechts je ein Sechserpack Wasser – noch einmal 12 Kilo mehr.
Wie soll ich das bloß alles die Treppen raufbringen? Ich muss mindestens zweimal gehen und zur Apotheke muss ich auch noch, dachte sie, als sie die verschweißten Packungen mit den Plastikflaschen aus dem Fenster fallen ließ. Mit einem dumpfen Geräusch landeten sie im hohen Gras. Zum Glück befand sich der Mega-Store nur ein paar Minuten von ihrem Zuhause entfernt. Doch es konnte nicht mehr lange dauern, da würde sie die Kensington-Road runterlaufen müssen, wo der nächste Laden stand, wenn sie noch was Anständiges zum Essen haben wollten.
Im Mega-Store bediente sie sich jetzt schon über ein Jahr, denn der Supermarkt war riesig und die Lager gut gefüllt gewesen. Kevin und sie schienen die einzigen Menschen in diesem Stadtviertel zu sein, die sich dort versorgten. Ein paar Tumber eingeschlossen. Doch seit sie vor einem halben Jahr ein verrücktes Mädchen erschossen hatte, die ihr Kevin wegnehmen wollte, hatte sie kein Tumber mehr belästigt. Die meisten von ihnen ließen sich nur noch nachts blicken, da ihnen das Tageslicht in den Augen zu schmerzen schien, weshalb sie sich bevorzugt in Kellern oder fensterlosen Lagerhäusern versteckten.
Keena hatte jetzt noch beim Einschlafen die schrecklichen Bilder vor Augen: Die irre Fratze des Mädchens, das vielleicht erst 17 Jahre alt gewesen sein mochte, wie sie versucht hatte mit einem Messer auf sie einzustechen, um an ihr Kind zu kommen, und wie Keena ihr einfach in den Bauch geschossen hatte. Niemals würde sie den Anblick vergessen, wie das Blut aus der Schusswunde sickerte und die Kleidung der jungen Frau dunkelrot verfärbte, bis sie schließlich vornüber zusammengebrochen war.
Und dann war da noch die Sache mit dem Mann. Aber daran wollte sie nie wieder denken.
Schwerfällig kletterte Keena über die Fensterbank und verlor plötzlich das Gleichgewicht. Der schwere Rucksack zog sie nach unten, woraufhin sie neben den Flaschen im weichen Gras landete. Mühsam befreite sie sich von den Gurten und beschloss, eine Weile liegen zu bleiben. Sie fühlte sich so ausgelaugt und kraftlos wie lange nicht mehr. Zu gerne hätte sie ihre »Einkäufe« in einen Wagen gepackt, damit sie diese zu sich nach Hause schieben konnte, doch die kleinen harten Räder veranstalteten auf dem rauen Asphalt ein ohrenbetäubendes Geratter, das vielleicht die Tumber anlocken würde. Sie war heilfroh, dass diese Zombies ihr Versteck im Penthouse noch nicht entdeckt hatten.
Als sie zum blauen Himmel aufblickte und die weißen Wolken beobachtete, die ruhig und friedlich über ihr dahinzogen, befiel sie eine unendliche Müdigkeit. Langsam wurden ihre Augen schwer, aber Keena versuchte dagegen anzukämpfen. Sie musste zurück zu Kevin! Doch gerade als sie sich erschöpft aufsetzte, stürzte ein dunkler Schatten aus dem Fenster direkt auf sie und presste alle Luft aus ihren Lungen. Sie merkte bloß noch, wie alles um sie herum schwarz wurde.
***
Blake hatte nur gesehen, wie der Tumber durch das Fenster gesprungen war, auf der anderen Seite aber nicht mehr aufstand. Hatte er ihn bemerkt und wartete nun lauernd darauf, dass Blake heraus kam? Und wo war die Frau? Hatte sie den Supermarkt schon verlassen? Verdammt, er hatte sie aus den Augen verloren!
Während ihm viele Fragen durch den Kopf schwirrten, vernahm er plötzlich seltsame, kehlige Laute unterhalb des Fensters, die eindeutig vom Tumber stammten. Hatte er sich verletzt? Weshalb stand er nicht auf? Blake musste der Sache auf den Grund gehen. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Fenster, wobei er sich wunderte, warum keine Glasscherbe am Boden lag. Doch gleich darauf fiel ihm die Antwort ein: Die Frau hatte sie mit Sicherheit beseitigt, damit sich ihr Kind daran nicht verletzen konnte. Schließlich folgte ihr der Kleine auf Schritt und Tritt. Nur die letzten drei Tage hatte er ihn nicht zu Gesicht bekommen, weshalb Blake sich schon gefragt hatte, ob dem Jungen etwas zugestoßen war. Er hoffte es nicht – für die Frau. Er hatte diese schmerzhafte Erfahrung am eigenen Leib zu spüren bekommen. Es gab nichts Schlimmeres, als sein Kind zu verlieren.
Als Blake mit gezogener Waffe über den Fenstersims lugte, verkrampfte sich sein Magen vor Wut. Verdammt, er hätte die Frau im Auge behalten sollen!
Der hagere Tumber saß auf ihr und machte sich an ihrer Kleidung zu schaffen. Dabei grunzte er lustvoll, als er ihr das Shirt hochschob, um ihre Brüste zu entblößen. Ohne zu zögern sprang Blake über den Rahmen und riss den Zombie von ihr herunter. Verflucht, warum bewegte sich die Frau nicht?
»Was hast du mit ihr gemacht, du widerliches Monster?«, schrie er die Kreatur an, wobei seine Stimme erschreckend laut durch die leeren Straßen hallte. Straßen, die einmal erfüllt waren von Menschen und rollenden Fahrzeugen.
Langsam kam der Tumber auf seine dünnen Beine, baute sich vor Blake auf und glotzte ihn sabbernd an. Die Sonnenbrille lag zu seinen Füßen im Gras, weshalb der Tumber Blake mit blutunterlaufenen, zusammengekniffenen Augen anblinzelte. Es war ein junger Mann, dessen blondes Haar schmutzig und verfilzt war. Schwären überzogen seine trockene, pergamentartige Haut. Er befand sich im Endstadium und würde nicht mehr lange leben. Hoffentlich verreckten endlich auch die restlichen dieser Monster.
Ohne Vorwarnung zog der Tumber ein langes Messer aus der Manteltasche und stürzte sich grinsend auf Blake. Doch er besaß so viel Geistesgegenwart, um dem Angriff auszuweichen, sich anschließend zu der stinkenden Kreatur umzudrehen und ihr geradewegs in den Rücken zu schießen. Der Tumber brach auf der Stelle zusammen und rührte sich nicht mehr.
Der Schuss hallte noch in seinen Ohren, als er sich zu der Frau auf den Boden kniete, um ihr das Shirt über die nackten Brüste zu ziehen. Unter anderen Umständen hätte er ihren Anblick länger genossen, aber so hatte er sich ihr Zusammentreffen nicht vorgestellt. Sie mussten hier weg. Bestimmt hatte der Schuss einige Tumber alarmiert.
Blake fühlte ihren Puls und bemerkte erleichtert, dass sie atmete.
»Gott sei Dank«, murmelte er und nahm ihr sicherheitshalber den Revolver sowie das Messer ab und steckte beides zu seiner Pistole in den Hosenbund der Jeans. Dann schlug er ihr mit der flachen Hand behutsam auf die Wange. »Hallo! Kannst du mich hören?«
Sie rührte sich nicht. Also versuchte er es mit sanftem Schütteln, aber auch das führte zu keinem Ergebnis.
»Verdammt!«, fluchte er. Da stachen ihm die Wasserflaschen ins Auge. Sofort riss er den dünnen Kunststoff auf, in dem die Flaschen verschweißt waren, nahm eine heraus und goss der Frau etwas Wasser über das Gesicht. Ihre Lider begannen zu flattern. »Hallo, hörst du mich?«
»Kevin?«, flüsterte sie.
»Nein, mein Name ist Blake.« Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Mit seinem Daumen wischte er ihr vorsichtig die feuchten Tropfen von den Wimpern und bemerkte, wie heiß sie sich anfühlte.
Aus der Nähe sah sie noch viel jünger aus, als wäre sie höchstens fünfundzwanzig. Wahrscheinlich war sie auch kaum älter, während er die Dreißig bereits überschritten hatte.
Die Frau stöhnte kurz auf. Dieser Laut und das Gefühl ihrer weichen Haut unter seinen Händen, erzeugten bei Blake ein angenehmes Ziehen in den Lenden. Verdammt, er fühlte sich wie ein Perverser, weil er so auf sie reagierte. Er war kaum besser als diese triebgesteuerten Zombies! Doch so wollte er nicht sein.
»Ross?« Wieder flatterten ihre Lider, bloß diesmal behielt sie die Augen offen. Sie funkelten ihm entgegen wie zwei grüne Smaragde.
Für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Ihre Iriden waren pure Magie, die ihn in ihren Zauberbann zogen. »Nein, ich heiße Blake, und wer bist du?«
Als Keena die Lider öffnete, glaubte sie sich in einem Traum. Sie fühlte sich leicht und schwerelos, während sie ungläubig in zwei faszinierende graue Augen starrte, die sie besorgt ansahen.
Was für ein schöner Mann. Das ist kein Tumber. Er wird mir nichts tun, waren ihre einzigen Gedanken, als sie wieder in das Reich der Finsternis gleiten wollte. Doch jemand packte sie an den Schultern, wodurch der dunkle Vorhang vor ihren Augen rasch auf die Seite geschoben wurde. Der Mann bewegte seine wundervoll geschwungenen Lippen, doch sie verstand nichts. Erst nach und nach drangen seine Worte zu ihr durch.
Blake. Sein Name war Blake und er wollte wissen, wie sie hieß.
Sie versuchte sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht. Da legte sich sein starker Arm unter ihren Rücken.
Wieder wurde ihr beinahe schwarz vor Augen, weshalb sie unwillkürlich den Kopf an seine Brust legte. Sie konnte seinen beschleunigten Herzschlag an ihrem Ohr spüren und seinen Duft riechen. Diesmal war es der betörend männliche Geruch nach frischem Schweiß und klarer Luft, der sie schwindelig werden ließ.
»Ich heiße Keena«, sagte sie schwach. »Was ist passiert?« Sie rückte ein Stück von dem Fremden weg, der neben ihr im Gras saß, während sie ihn unsicher anblickte. Unter seinen dichten schwarzen Wimpern strahlten ein paar bemerkenswerte Augen hervor, dessen Grau sie an einen wolkenverhangenen Sturmhimmel erinnerte. Seine Nase war gerade, aber ein wenig zu groß, doch seine vollen Lippen wundervoll geschwungen. Ross war optisch das Gegenteil gewesen, aber auf seine Art faszinierend. Wenn er ihr doch nur nicht so fehlen würde!
Wo kam dieser Blake plötzlich her?
Sie musste vorsichtig sein. In dieser Welt war eine gehörige Portion Misstrauen nie fehl am Platz. Und Blake schien Bärenkräfte zu haben, wenn sie ihn sich so ansah. Sein Shirt spannte sich über einen muskulösen und sehnigen Körper.
Kurz flackerte in ihrem Unterbewusstsein das Gesicht des Mannes auf, den sie erschossen hatte. Aber nur ganz kurz. Nicht alle Männer, die diese Seuche überlebt hatten, mussten so sein wie er, nicht alle führten sich wie Neandertaler auf, die sich einfach das Recht auf eine Frau nahmen, bloß weil sie ihr körperlich überlegen waren.
Plötzlich bemerkte sie ein paar Meter entfernt den Tumber, der in einer Blutlache lag. Erschrocken blickte sie Blake an.
Er fuhr sich durch sein verstrubbeltes Haar und zuckte die Schultern. »Er hat dich angegriffen und ich musste ihn töten.«
Er musste ihn töten. Bei ihm hörte sich das so an, als ob es eine Nebensächlichkeit wäre, jemanden umzubringen.
»Bist du verletzt?« In seiner Stimme lag Besorgnis. Aber warum sollte sich dieser Fremde Gedanken über sie machen?
»Nein, ich habe nur Fieber. Mein Sohn hat mich angesteckt.« Bestürzt stellte Keena fest, dass sie diesem Fremden eben etwas sehr Persönliches anvertraut hatte. Was, wenn er auch versuchen würde ihr Kevin wegzunehmen? Aber aus irgendeinem Grund hatte sie Vertrauen zu ihm. Vielleicht, weil er sie gerettet hatte. »Danke.«
»Du bist krank?« Blake unterdrückte den Wunsch, sie loszulassen und zurückzuweichen. Was, wenn sie das Virus in sich trug?
Beinahe wäre er aufgesprungen, um davonzurennen, doch er besann sich. Dann hätte sie längst tot oder ein Tumber sein müssen, woraufhin er sich entspannte. Außerdem zeigte ihre Haut nicht diese verräterischen roten Flecken, die mit dem Ausbruch der Krankheit einhergegangen waren. Die Haut an ihrem flachen Bauch war makellos gewesen, ebenso an ihren Brüsten. Sie waren perfekt – wie gemacht für seine Hände.
Verdammt, was war los mit ihm? Diese Frau schien ihn verhext zu haben.
»Ach, es ist nichts. Geht schon wieder.« Keena versuchte aufzustehen; Blake half ihr, indem er sie abstützte. Es fühlte sich so verdammt gut an, wieder einem richtigen Menschen nahe zu sein.
»Ich muss zu meinem Sohn. Danke noch mal.« Sie entwand sich seinem festen Griff, damit sie sich den schweren Rucksack aufladen konnte, doch ihre Kraft reichte nicht einmal aus, um ihn vom Boden zu bekommen.
Sofort packte sich Blake die schwere Tasche auf den Rücken, nahm eine Packung mit den Wasserflaschen und bot Keena seinen freien Arm an, den sie jedoch dankend ablehnte. Warum ließ sie sich nicht von ihm helfen? War es Stolz oder Sturheit? Oder fühlte sie sich gerade genauso unsicher wie er selbst? Schließlich traf man nicht alle Tage auf einen normalen Überlebenden. Aber egal. Blake war froh, dass er nicht mehr allein war.
Da bemerkte er, dass sie auf ihren Revolver schielte, den er an sich genommen hatte. Sie hob ihren Bogen auf, schulterte den Köcher mit den Pfeilen und musterte ihn argwöhnisch. Trotzdem kam sie mit ihm, und sie gingen gemeinsam die Straße entlang auf das große Gebäude zu, dessen Front aus verspiegeltem Glas bestand. Früher war es das Zuhause der Reichen und Schönen dieser Welt gewesen. Doch jetzt war es Keenas Heim und das ihres Sohnes.
Blake hoffte, dass er sie überreden konnte, mit ihm zu kommen. Er wollte auf seiner Mission nicht allein sein. Doch vorerst hielt er es für besser, ihr nichts von seinen Plänen zu erzählen. Er musste sie erst besser kennenlernen.