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DANKSAGUNG

Mein herzlicher Dank geht an das Lehrreferat des VTF in Hamburg. Seit nunmehr 15 Jahren arbeiten wir gemeinsam kontinuierlich und erfolgreich an der Entwicklung der Yogalehrerausbildung der Gym Akadmie des VTF.

Ich bedanke mich bei der Firma Winshape (www.winshape.de) für die Bereitstellung der funktionellen Yogabekleidung,

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bei unserem Yogamodel Sara Lyn Chana und der Fotografin Sonja Lesinski (www.sonjalesinski.com). Die Zusammenarbeit mit euch und das Fotoshooting waren eine wahre Freude. Die wunderschönen Malas auf den Fotos wurden zur Verfügung gestellt von Chandra Gems (www.chandra-gems.com).

Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei all meinen Schülern, Teilnehmern und Yogalehrern, von denen ich lernen durfte. Ich danke meinem Ausbilder Ortwin Schultz (Integrale Yoga Schule Hamburg) für die vielen Aspekte und Impulse, die ich in den vier Jahren der Ausbildung bei ihm erfahren durfte und ich danke meinem allerersten Yogalehrer und Mentor Kirti Peter Michel.

Nicht zuletzt möchte ich beim Meyer & Meyer Verlag bedanken für die Realisierung des Buchprojektes und die tolle Zusammenarbeit.

Anmerkungen

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform zu nutzen, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder die Autorin noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.

MARTINA MITTAG

HATHA

YOGA

DAS KOMPLETTE BUCH

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WO SPORT SPASS MACHTimage

Anmerkung der Autorin: Das vorliegende Werk erscheint in der DTB-Reihe „Wo Sport Spaß macht“. Es wird als Grundlagenbuch und Nachschlagwerk der DTB-Yogaausbildung genutzt. Uns ist bewusst, dass Begriffe wie „Sport“ und „Training“ in Bezug auf Yoga Irritationen hervorrufen können und einen Widerspruch zur Lehre des Yoga darstellen. Hatha Yoga wird zwar als „Der körperliche Übungsweg“ bezeichnet, die Yogapraxis beinhaltet in ihrer Ausführung jedoch keinerlei Wettbewerb, Training oder Leistungssteigerung im sportlichen Sinne.

Hatha Yoga

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2018 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen
Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien

ISBN 978-3-8403-3683-6

E-Mail: verlag@m-m-sports.com

www.dersportverlag.de

INHALT

Vorwort

Einleitung

1Yoga – Bedeutung und Geschichte

1.1Entwicklung des Yoga im Spiegel der indischen Spiritualität

1.1.1 Hochkultur im Industal:3000-1800 v. Chr.

1.1.2 Vedismus: 1500-1000 v. Chr.

1.1.3 Die Upanishaden

1.1.4 Brahmanismus: 800-500 v. Chr.

1.1.5 Sankhya: 800 v.-700 n. Chr

1.2Zeit der Epen: 400 v.-400 n. Chr

1.2.1 Mahabharata, Ramayana, Bhagavadgita

1.3Klassischer Yoga nach Patanjali: 200 v. Chr.-200 n. Chr.

1.4Tantrismus: Ab 500 n. Chr.

1.5Hatha Yoga: Ab 900 nach Chr.

2Der klassische Yoga nach Patanjali

2.1Das Yoga Sutra

2.2Vrittis – die mentalen Wellen

2.3Abhyasa und Vairagya – Praxis und Loslassen

2.4Die fünf Kleshas – Verursacher von Kummer und Leid

2.5Ashtanga Marga

2.6Yamas und Niyamas

3Hatha Yoga

3.1Hatha Yoga im Westen

4Die Gunas – Grundformen der Energie

4.1Nama Rupa – von der Essenz zur Form

4.2Die Mahabhutas – die fünf Elemente

4.2.1 Maha = groß / Bhuta = das Gewordene

4.2.2 Das Element Erde (Prithivi)

4.2.3 Das Element Wasser (Ap)

4.2.4 Das Element Feuer (Tejas)

4.2.5 Das Element Luft (Vayu)

4.2.6 Das Element Raum/Äther (Akasha)

4.3Gunas – Grundeigenschaften der Natur

4.3.1 Rajas Guna: Feuer, Wasser, Luft

4.3.2 Tamas Guna: Erde, Wasser

4.3.3 Sativa Guna: Raum, Luft, Feuer (Licht)

4.4Triguna – das Zusammenspiel der drei Gunas

4.5Die Gunas und die Yogapraxis

5Das Chakrensystem

5.1Pancha Kosha – die fünf Hüllen

5.2Pranamaya Koska – die Energiehülle

5.3Die Nadis – die Energiebahnen

5.4Kundalini Shakti

5.5Die Chakren

5.6Die sieben Hauptchakren

5.6.1 Das Muladhara Chakra – das Wurzelchakra

5.6.2 Das Svadhisthana Chakra – Sakralchakra

5.6.3 Das Manipura Chakra – das Nabelchakra

5.6.4 Das Anahata Chakra – das Herzchakra

5.6.5 Das Vishuddha Chakra – das Halschakra

5.6.6 Das Ajna Chakra – das Stirnchakra

5.6.7 Das Sahasrara Chakra – das Kronenchakra

6Bedeutung und Praxis von Asana

6.1Bedeutung

6.2Die Grundhaltungen

6.3Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule

6.3.1 Der Form und Ausrichtung im Raum entsprechend

6.3.2 Ihrer Funktion entsprechend

6.3.3 Den Bewegungsrichtungen der Wirbelsäule entsprechend

6.4Allgemeine Wirkungen der Asanas

6.5Struktur und Wirkungen der Asanas

6.5.1 Struktur und Wirkungen von Vorbeugen

6.5.2 Struktur und Wirkungen von Rückbeugen

6.5.3 Struktur und Wirkungen von Seitbeugen

6.5.4 Struktur und Wirkungen von Rotationen

6.5.5 Struktur und Wirkungen von Umkehrhaltungen

6.6Die Praxis von Asanas (Ausrichtungskriterien)

6.7Die Qualität von Asanas

6.8Statische und dynamische Asanapraxis

6.9Aufbau eines Asanas (von dynamischer zur statischen Praxis)

6.10 Bedeutung von Vorbereitungs- und Hinführungsübungen

6.11 Karana – Bewegungsabläufe

6.12 Die drei Bandhas – die Siegel/Verschlüsse

6.12.1 Mula Bandha – der Wurzelverschluss

6.12.2 Uddiyana Bandha – der Bauchverschluss/der aufwärts fliegende Verschluss

6.12.3 Jalandhara Bandha – der Kehlverschluss

6.13 Verletzungsrisiko/Kontraindikationen

6.13.1 Der Nacken

6.13.2 Das Schultergelenk

6.13.3 Der Lendenwirbelbereich

6.13.4 Die Kniegelenke

7Die Asanas

7.1Asanapraxis und Hilfsmittel

7.2Zur Beschreibung der Asanas

7.3Die einzelnen Asanas

7.3.1 Adho Mukha Svanasana – der nach unten schauende Hund

7.3.2 Alanasana – hoher Ausfallschritt

7.3.3 Anjaney Asana – tiefer Ausfallschritt

7.3.4 Apanasana – die gaslösende Haltung

7.3.5 Eka Pada Apana Asana – die gaslösende Haltung, einseitig

7.3.6 Ardha Matsyendrasana – halber Drehsitz

7.3.7 Balasana – die Haltung des Kindes/Utthita Balasana

7.3.8 Baddha Konasana – geschlossene Winkelhaltung und Upavista Konasana – geöffnete Winkelhaltung

7.3.9 Bhujangasana – die Kobra

7.3.10 Chaturanga Dandasana – das Brett (Phalakasana – die Planke)

7.3.11 Dandasana – die Stockhaltung

7.3.12 Dhanurasana – der Bogen

7.3.13 Janu Shirsasana – Kopf-an-Knie-Haltung

7.3.14 Makarasana – die Krokodilhaltungen

7.3.15 Marjaryasana – die Katze

7.3.16 Navasana – die Bootshaltung

7.3.17 Paschimottanasana – die Zange

7.3.18 Prasarita Padottanasana – Vorbeuge aus dem Grätschstand

7.3.19 Setu Bandha Sarvangasana – die Schulterbrücke

7.3.20 Shalabhasana – die Heuschrecke

7.3.21 Shavasana – die Totenhaltung

7.3.22 Sukhasana – der aufrechte Sitz

7.3.23 Supta Padangusthasana – Beinschere in Rückenlage

7.3.24 Tadasana – die Berghaltung

7.3.25 Urdhva Hastasana – gestreckte Berghaltung

7.3.26 Urdhva Prasarita Padasana – Tischhaltung

7.3.27 Uttanasana – stehende Vorwärtsbeuge

7.3.28 Utthita Parshvakonasana – seitlich gestreckte Winkelhaltung

7.3.29 Utthita Trikonasana – das Dreieck

7.3.30 Utkatasana – die Stuhlhaltung

7.3.31 Ustrasana – die Kamelhaltung

7.3.32 Vrikshasana – der Baum

7.3.33 Virabhadrasana II – der Held/Krieger II

7.3.34 Viparita Karani – der halbe Schulterstand

8Bedeutung von Karana und Surya Namaskar

8.1Karana/Vinyasa Flow

8.2Surya Namaskar – der Sonnengruß

8.2.1 Der Sonnengruß und die Mantren

8.2.2 Modifikationen von Surya Namaskar

9Die Yogaatmung

9.1Die Bedeutung der Atmung

9.2Der Atem im Alltag

9.2.1 Den Atem wahrnehmen

9.2.2 Den Atem beobachten

9.2.3 Die Atemräume wahrnehmen

9.2.4 Den Atem in die unterschiedlichen Atemräume lenken

9.3Die Yogavollatmung

9.4Das eigene Tempo finden – Atemflow in der Übungspraxis

9.5Den Atem verlängern

9.6Die Ujjayiatmung

10Entspannung

10.1Von der Zerstreutheit zur Sammlung

10.2Das Nervensystem

10.2.1 Willkürliches und vegetatives Nervensystem

10.2.2 Leistungszustand – Sympathikus

10.2.3 Erholungszustand – Parasympathikus

10.3Stress

10.3.1 Eustress

10.3.2 Disstress

10.4Entspannung

10.5Wahrnehmung

10.6Pratyahara – Zurückziehen der Sinne

10.7Samyama – die höheren drei Pfade

10.7.1 Dharana – Konzentration

10.7.2 Dhyana – Meditation

10.7.3 Samadhi – Verschmelzung

11Yoga unterrichten

11.1Was ist Yoga?

11.2Planung des Unterrichts

11.3Strukturierter und geplanter Yogaunterricht

11.3.1 Unterrichtsbedingungen

11.3.2 Zielsetzung

11.3.3 Didaktik und Methodik

11.3.4 Vinyasa Krama

11.4Erarbeitung und Vorteile von Themenstunden

11.5Aufbau einer Yogastunde

11.6Unterrichtsplanung: Anleitung zur Erstellung eines Stundenbilds

11.6.1 Thema: „Verbesserung der Atem- und Körperwahrnehmung“

11.6.2 Unterrichtsbedingungen

11.6.3 Allgemeine Vorbereitung

11.6.4 Unterrichtsziele

11.6.5 Didaktische Überlegungen

11.6.6 Methodische Überlegungen

11.6.7 Übungsverlauf nach dem Prinzip von Vinyasa Krama

12Exemplarische Themenstunden

12.1Stundenbild 1: Das eigene Tempo finden

12.2Stundenbild 2: Das Muladhara Chakra – Erdung und Stabilität

12.3Stundenbild 3: Das Svadhisthana Chakra – Wasser, Bewegungsfluss, Loslassen

12.4Stundenbild 4: Das Manipura Chakra – Feuer, Transformation, Willenskraft

12.5Stundenbild 5: Das Anahata Chakra – Luft, Weite, spirituelles Zentrum

12.6Stundenbild 6: Das Vishuddha Chakra – Raum, Schwingung, Klang, Stimme, Kommunikation

12.7Stundenbild 7: Das Ajna Chakra – Intuition, höhere Weisheit, Polaritäten, innere Mitte, Licht

12.8Stundenbild 8: Sahasrara Chakra – Höheres Wissen, höheres Bewusstsein

13Tiefenentspannung und imaginative Techniken

13.1Suggestive und nicht suggestive Formen der Entspannung

13.1.1 Nicht suggestive Formen der Entspannung

13.1.2 Suggestive Formen der Entspannung

13.2Imaginative Techniken

13.3Yoga Nidra – der Heilschlaf des Yoga

13.4Anleitung von Entspannungs- und Visualisierungsübungen

13.5Entspannungstexte

13.5.1 Ganzkörperentspannung auf Basis von Körperwahrnehmung

13.5.2 Ganzkörperentspannung (autosuggestiv angeleitet)

13.5.3 Ganzkörperentspannung (suggestiv angeleitet)

13.5.4 Atementspannung

13.5.5 Der Baum (Muladhara Chakra)

13.5.6 Der Wasserfall (Svadhisthana Chakra)

13.5.7 Der goldene Tempel (Manipura Chakra)

13.5.8 Licht im Herzen (Anahata Chakra)

13.5.9 Reinigungsübung für das Halschakra (Vishuddha Chakra)

13.5.10 Yoga Nidra (Kurzform)

13.5.11 Reise durch die Chakren

Anhang

1 Literaturverzeichnis

2 Bildnachweis

3 Porträt: Sara Lyn Chana (Yogamodel)

VORWORT

Yoga – „die sanfte Art, den Körper zu trainieren und Entspannung zu finden“ –

…. so ist diese Lehre von der Einheit allen Lebens innerhalb der letzten 20 Jahre im Westen populär geworden …

Viele positive Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden, die Vitalität und die Beweglichkeit werden diesem jahrtausendealten Übungssystem aus Indien zugesprochen. Der Nutzen ist offensichtlich. Entsprechend groß ist inzwischen das Interesse an Yogakursen in Fitnessstudios und Sportvereinen geworden. Bei der steigenden Nachfrage wurden und werden stets neue Yogastile für die unterschiedlichsten Zielgruppen und ihre jeweiligen Bedürfnisse entwickelt.

Dabei bleibt es nicht aus, dass es viele Missverständnisse gibt, was denn der eigentliche Sinn und Zweck des Yoga ist. Die Sinngebung und die Zielvorstellungen der entstehenden Yogarichtungen sind so unterschiedlich, wie es wesentliche Bedürfnisse im physischen, emotionalen, sozialen, kreativen und spirituellen Bereich gibt.

Die ganzheitliche Lehre des YOGA gibt vielen Zielsetzungen Raum. Der Begriff Yoga weist ja per Definition darauf hin, dass EINHEIT der Weg und das Ziel ist.

Und so ist das Bedürfnis, sich durch einfache Bewegungen, die der Rehabilitation und der Regeneration dienen, gesund und fit zu halten und zu entspannen, ebenso berechtigt, wie der Drang, sich gelegentlich durch dynamische Übungsabläufe „auszupowern“. Man könnte darin schon ansatzweise die Intention des Yoga erkennen, polare Gegensätze zu integrieren.

Dabei kann allerdings das eigentliche Anliegen des Yoga, „die seelisch-geistigen Bewegungen zur Ruhe zu bringen“ (Patanjali, Yogasutra: citta-vrtti-nirodha) und im Geiste der „Losgelöstheit“ (vairagya) zu üben, allzu leicht in Vergessenheit geraten. Losgelöstheit bedeutet ja, dass für die Zeit des Übens kein Gedanke an die Vergangenheit und keine Projektion auf zukünftige Errungenschaften zugegen ist. In der jahrhunderte-, gar jahrtausendealten Tradition des Yoga ging es immer darum, die Absicht des Übens und die Absichtslosigkeit – zwei scheinbar unvereinbare Gegensätze – in Einklang zu bringen. Wenn der Leistungsgedanke, der auf vielen Yogamatten präsent ist, nicht mehr hinterfragt wird, kann die Übungspraxis nicht mehr ihrer ursprünglichen Definition der EINHEIT gerecht werden.

Nun ist Yoga nicht eine beliebige „Trendsportart“ für die Massen, wie es durch die Medien propagiert wird. Tatsächlich liegt dem Yoga eine Geisteshaltung zugrunde, die in Stille kultiviert und verfeinert werden sollte, damit ihre heilsamen Wirkungen tatsächlich zum Tragen kommen können.

Die Wirksamkeit des Yoga ist letztlich nicht von speziellen Asanas (Körperhaltungen), sondern vor allem von der Aufmerksamkeit, der inneren Ruhe, der Präzision der Ausführung und der Intention des Praktizierenden abhängig. Qualität im Sinne von Einfühlungsvermögen steht daher vor allem für angehende Yogalehrerinnen und Yogalehrer an oberster Stelle.

Martina Mittag hat sich zur Aufgabe gesetzt, mit diesem anspruchsvollen Grundlagenwerk des Hatha Yoga all diesen Erfordernissen gerecht zu werden. Das vorliegende Buch Hatha Yoga entschleiert die traditionelle, für den westlichen Menschen philosophisch oft schwer verständliche Lehre.

Ganz nüchtern betrachtet, ist Yoga eine ganzheitliche Erfahrungswissenschaft, mit dem Ziel, die scheinbar gegensätzlichen Pole von Körper und Bewusstsein, Verstand und Gefühl, Materie und Geist in die Einheit zu bringen und zu harmonisieren.

Hatha Yoga – der Familienname oder Oberbegriff für alle Yogarichtungen, die von der Körperenergie und entsprechenden Haltungen ausgehen – setzt zwar bei der Erfahrung des Körpers an, doch im stillen Verweilen in einer äußeren Haltung kann eine innere Haltung entstehen, die konzentriert, wach und äußerst einfühlsam ist.

Diesem Verständnis zufolge ist „Körper“ im Yoga nicht bloß der Körper, sondern etwas Umfassendes, das die feinstofflichen Ebenen der Energie, des Mentalen und des Spirituellen beinhaltet. Somit geht der integrale Ansatz der Übungspraxis im Hatha Yoga weit über das „moderne", funktionelle Verständnis eines „Bodyworkout“ hinaus ….

In den 1970er-/1980er-Jahren – als Yoga noch nicht Eingang in die Fitness- und Sportstudios gefunden hatte – begegnete diese ganzheitliche Sicht im Westen noch völligem Unverständnis. Es haftete ihm der Nimbus des Exotischen und Mysteriösen an. Das bewegungslose Verharren in akrobatisch anmutenden Haltungen erinnerte viele an Darstellungen indischer Asketen auf dem Nagelbrett – eine für den modernen Menschen absurde Vorstellung. Yogaenthusiasten wurden häufig als vermeintliche Anhänger religiös-okkulter Sekten misstrauisch beäugt oder bestenfalls als exzentrische Spinner belächelt.

Doch das Image des Yoga in der westlichen Welt hat sich in den letzten 30 Jahren allmählich gewandelt. In Deutschland wurde Yoga gesellschaftsfähig, als die Volkshochschulen Hatha-Yoga-Kurse zur Gesundheitsförderung und -vorsorge in ihre regulären Programme aufnahmen.

Zu der Zeit – 1989 – wurde ich gebeten, im Club Meridian (später MeridianSpa) erstmals einen Yogakurs zu unterrichten, der eine ausgewogene Mitte zwischen rein körperlichen Übungen und einer spirituellgeistigen Orientierung darstellen sollte. Es war das erste Fitnessunternehmen in Hamburg, das einen ungewöhnlich hohen Anspruch an das Gesundheitstraining und das Ambiente stellte, um seinen Mitgliedern die besten Bedingungen für Regeneration und Wohlbefinden zu bieten.

Martina Mittag – Tanzpädagogin und Fitnesstrainerin sowie Bereichsleiterin der Kurse im MeridianSpa Wandsbek – besuchte meine wöchentlichen Yogakurse. Ihre unvoreingenommene Offenheit dem Yoga und anderen alternativen Disziplinen, wie Feldenkrais, Shiatsu, Tai Chi und Qigong gegenüber, wurde offenbar, als Martina die Konzeption, die Leitung und den Aufbau des „Spirit Centrums“ in Wandsbek übernahm.

Im Zuge einer wachsenden Zusammenarbeit mit Martina entstand ein reger Austausch. Nach verschiedenen Yogalehrerausbildungen wurde sie selbst als Ausbilderin von YogakursleiterInnen im Rahmen des VTF (Verband für Turnen und Freizeit) im Deutschen Sportbund tätig.

Als Referent und Mitprüfer hatte ich einige Male die Gelegenheit zu erfahren, welch hohen qualitativen Anspruch Martina Mittag an die angehenden Yogalehrer stellte.

Mittlerweile ist in vielen Unternehmen der Anspruch an einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Gesundheit gewachsen, wobei großer Wert auf die Funktionalität der Trainingsmethoden gelegt wird. Genaueste Kenntnisse der Anatomie sind nicht nur für Sport-, sondern auch für Yogalehrer erforderlich geworden, um die Grenzen und Möglichkeiten der Belastbarkeit der Kursteilnehmer besser einschätzen zu können.

Martina Mittag hat den lebendigen Wechselwirkungen von körperlichen und seelisch-geistigen Abläufen große Beachtung geschenkt und hat die wesentlichen Aspekte von Struktur und Wirkung der Haltung, der Funktion der Muskulatur und der Bedeutung der Atmung und der inneren Haltung in Bezug auf Energie- und Bewusstseinslenkung ausführlich behandelt. Auch die sorgfältige Vorbereitung, Hinführung und Ausführung jedes einzelnen Asana, das Auflösen und Nachspüren nach jeder Haltung wurde im Detail ausgearbeitet.

Gleich zu Beginn in den ersten Kapiteln bietet Martina Mittag einen weltanschaulichen Überblick zu den philosophischen Urgründen des Yoga und weist auf seinen hohen geistigen Anspruch im Sinne der Selbstfindung und Selbsterkenntnis hin und beschreibt im Detail die energetischen Grundvoraussetzungen im System der Koshas – der feinstofflichen Körper oder Erfahrungsbereiche – und der Chakren – der Energietransformatoren im feinstofflichen Körper.

In der Beschreibung der Entstehungsgeschichte einzelner Asanas berücksichtigt sie die unterschiedlichen Schwerpunkte der Traditionslinien und bezeugt somit eine sehr großzügige, unparteiische Sichtweise, die in die Lage versetzt, Vor- und Nachteile der Wirkungen einer Übung zu ermessen.

Die präzisen, klar bebilderten Übungsanleitungen von 34 klassischen Asanas und verschiedenen Stundenbildern, die aus zahlreichen Unterrichtseinheiten gesammelt wurden, bieten hoch motivierten Yogalehrenden umfangreiches Material für ein jahrelanges Studium, wobei sowohl die wissenschaftlich analytische Seite als auch die intuitiv-kreativen Fähigkeiten gefördert werden.

Der Leser bekommt einen detaillierten Leitfaden zum Aufbau seines Unterrichts, der nichts zu wünschen übrig lässt in Bezug auf Inspiration für unterschiedliche Übungsabläufe und die konkrete Analyse aller zu berücksichtigenden Gesichtspunkte.

Dieses hauptsächlich praxisbezogene Buch ist als Begleitung zur fundierten DTB-Yogalehrer-Ausbildung gedacht. Wohlwissend, dass die Teilnehmer den Gesamtumfang einer Ausbildung von 200-500 Unterrichtsstunden nicht im Einzelnen präsent haben können, ist das Werk Hatha Yoga auch als Nachschlagewerk konzipiert, um bestimmte Themenbereiche zu vertiefen und um das Wissen wohldosiert, der jeweiligen Unterrichtssituation entsprechend, einfließen zu lassen und anwenden zu können.

Kirti Peter Michel

Yogalehrer, Pädagoge für Psychosomatische Gesundheitsbildung, Autor

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EINLEITUNG

Das vorliegende Lehrbuch ist sowohl ein Grundlagenwerk für angehende Yogakursleiter als auch ein fundiertes Nachschlagwerk für Yogainteressierte aller Traditionen.

Inhaltlich umfasst das Buch die ersten 100 Stunden der DTB-Yoga-Kursleiter-Ausbildung. Es orientiert sich am klassischen Yoga nach Patanjali und nimmt die Ashtanga Marga, den achstufigen Yogaweg, als Leitfaden. Zugleich bildet das Buch die Basis für die weiteren Stufen der insgesamt 500 Stunden Ausbildung, in deren Verlauf weitere philosophische Systeme und Konzepte vermittelt werden.

Seit 2006 leite ich die Yogaausbildung des VTF/DTB in Hamburg, welche ich von Anfang an maßgeblich konzipiert habe. In den nunmehr fast 12 Jahren Yogaausbildungserfahrung hat sich deutlich herauskristallisiert, dass die Teilnehmer im Verlauf ein immer tieferes Interesse an gelebter Yogapraxis entwickeln. Mitunter steht am Anfang nur vorsichtige Neugierde. Im Verlauf der Ausbildung entwickelt sich meist eine tiefe Liebe zum Yoga, verbunden mit dem Wunsch, mehr zu erfahren. Die einzelnen Ausbildungsmodule sind in Theorie und Praxis sehr dicht und der Bedarf nach Aufbereitung und Vertiefung des vermittelten Stoffs zwischen den Modulen ist hoch. Vor diesem Hintergrund entstand das vorliegende Buch.

Schwerpunkt dieses Leitfadens ist das Energiekonzept des Hatha Yoga und dessen praktische Umsetzung. Der Leser erhält eine Einführung in das Chakrensystem und bekommt im Verlauf Möglichkeiten, in Form von kompletten Stundenbildern, diese Inhalte individuell zu erfahren und umzusetzen. Die 34 bekanntesten Yogahaltungen werden in ihrer korrekten Ausrichtung, Symbolik, Ausführung sowie vorbereitenden und hinführenden Übungen erläutert, was wiederum den fundierten Hintergrund zu den Stundenbildern gibt.

Angehende Yogalehrer bekommen mit diesem Buch eine ausführliche Anleitung, wie ein Stundenkonzept unter didaktisch-methodischen Aspekten erstellt wird. Bei allem steht der Teilnehmer mit seinen Belangen im Vordergrund. Die Menschen brauchen sich nicht dem Yoga anzupassen, sondern der Yoga wird den entsprechenden Zielgruppen angepasst. Niemand, der mit Yogapraxis beginnt, braucht bestimmte Voraussetzungen, wie Gelenkigkeit, Flexibilität, motorische Fähigkeiten oder Kraft. Die Praxis orientiert sich nicht an Yoginis und Yogis mit perfekten Körpern, die in atemberaubenden „Posen“ scheinbar Unglaubliches zustande bringen können, sondern sie möchte ebenso Menschen ansprechen, sich zu trauen, in Yogastunden zu kommen, gerade wenn sie sich nicht fit oder völlig gestresst fühlen.

Unterrichten ist ein dynamischer Prozess, jeder Lehrer ist zugleich auch Lernender. Je länger man dabei ist, desto tiefer steigt man in die Inhalte ein und entdeckt immer wieder neue Aspekte. Beim Schreiben der einzelnen Kapitel wurde mir immer wieder bewusst, wie vielfältig, tiefgründig und erkenntnisreich die Auseinandersetzung mit den einzelnen Themenkomplexen ist. Das Buch ist eine Einladung, sich selbst im Spiegel der jahrtausendealten und immer noch höchst aktuellen Weisheit des Yoga zu reflektieren und die eigenen Bedürfnisse, Wesensmerkmale und Eigenschaften im Licht des Yoga zu erkennen und anzunehmen.

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1YOGA – BEDEUTUNG UND GESCHICHTE

„ZUSTAND DER EINHEIT.

BEIM SCHREIBEN DER EINZELNEN KAPITEL WURDE MIR IMMER WIEDER BEWUSST, WIE VIELFÄLTIG, TIEFGRÜNDIG UND ERKENNTNISREICH DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEN EINZELNEN THEMENKOMPLEXEN IST.”

Yoga gilt als eines der ältesten Übungssysteme der menschlichen Geschichte, das auch heute immer noch aktiv praktiziert wird. Dabei beinhaltet Yoga unterschiedliche spirituelle Wege und Systeme, die den Menschen dazu verhelfen sollen, den Zustand des Yoga, der Einheit, zu erreichen.

Das Sanskritwort Yoga bedeutet Vereinigung, Verbindung. Es ist abgeleitet von der Wurzel yui, was anschirren, vereinigen, verbinden oder auch anjochen bedeutet. Etymologisch weist Yoga auf das deutsche Wort „Joch“ hin1. Dabei geht es um die Anbindung und die Vereinigung des Menschen mit seiner universellen Urkraft. Die universelle Urkraft wird auch als „das Absolute“, „das Eine“, „die Quelle allen Seins“ oder als „die göttliche Quelle“ bezeichnet.

Yoga meint den Zustand eines Menschen, der sich in seiner wahren Existenz gefunden hat. Es geht in der Yogapraxis ausschließlich um Bewusstwerdung, die die Integration von Herz, Verstand, Körper und Geist umfasst.

1.1ENTWICKLUNG DES YOGA IM SPIEGEL DER INDISCHEN SPIRITUALITÄT

Die Entwicklung des Yoga ist ein Prozess, der sich über Jahrhunderte und Jahrtausende erstreckt. Diesen in wenigen Sätzen zusammenzufassen, wird der Vielschichtigkeit des Themas bei Weitem nicht gerecht. Da in diesem Hand- und Praxisbuch der Fokus auf Hatha Yoga liegt, zeigt der nachfolgende Überblick lediglich Eckdaten, um einen groben Überblick auf das Gesamtsystem und die Zusammenhänge zu bekommen. Im Anhang dieses Buches werden Hinweise auf vertiefende Literatur zur Entwicklung des Yoga gegeben.

1.1.1HOCHKULTUR IM INDUSTAL: 3000-1800 V. CHR.

Die Geschichte des Yoga lässt sich bis etwa 3000-5000 Jahre v. Chr. zurückverfolgen, die genaue Datierung ist umstritten. Manche Schriften beziffern die Funde von Siegeln im Industal (im heutigen nordwestlichen Indien) auf etwa 3500 v. Chr., andere gehen sogar von 5000 v. Chr. aus.

Die Siegel zeigen Symbole, die Yogahaltungen (Sitzhaltungen) darstellen. Eine der bekanntesten Darstellungen ist „Muhlabandhasana“, ein Asana, das auf das Wurzelzentrum (Muladhara) im unteren Beckenraum wirkt und die Energie lenken soll.

In der frühen Induskultur wurde die fruchtbare weibliche Energie (Shaktikraft) als Mutter alles Lebens verehrt, das weibliche Prinzip wurde über das männliche gestellt. Das Eindringen von Indoariern ab ca. 1500 v. Chr. im Nordwesten Indiens beendete den Shaktismus.

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Abb. 1: Das Siegel aus dem Indutal zeigt Yogahaltungen (Sitzhaltungen): hier „Muhlabandhasana“.

1.1.2VEDISMUS: 1500-1000 V. CHR.

Die ältesten Texte Indiens sind die Veden, sie gelten als die Quellschriften des Yoga. Und als Grundlage des Hinduismus. Veda bedeutet Wissen. Der Überlieferung nach wurden diese Texte von den „Rishis“ (Weisen, heiligen Männern) in der Meditation empfangen. Sie werden als „Shruti“-Texte bezeichnet, was „nicht vom Menschen geschaffen“ bedeutet. Diese Textsammlungen (Samhitas) bestehen größtenteils aus Hymnen und Mantren, von denen die Rigveda-Samhita die älteste und bekannteste ist. Die Texte wurden jahrhundertelang mündlich überliefert.

Die Zeit der Veden war geprägt von tiefer, naturverbundener Religiosität. Gottheiten wie Indra (Anführer der Götter, Donner), Agni (Feuer), Surya (Sonne) und Vayu (Wind) wurden verehrt und es wurden ihnen vielfältige Opferrituale dargeboten, die liebevolle Verehrung in Form von Gesängen, Opfersprüchen und heiligen Handlungen ausdrückte. Doch in der Rigveda heißt es auch:

„Die Wahrheit ist EINE, obgleich die Weisen sie auf vielfältige Weise bezeichnen“ (Rigveda, 1.164.46).

1.1.3DIE UPANISHADEN

Die Upanishaden sind der jüngste und letzte Teil der Veden. Mit dem Beginn der Upanishaden nahm die Zeit der äußeren, sakralen und rituellen Handlungen ein Ende. Upanishad bedeutet, sich nahe hinsetzen, der Wahrheit nahe sein und meint zu Füßen eines erleuchteten Meisters oder Lehrers sitzen und Unterweisungen zu empfangen2.

Die Upanishaden sind Teil der Shruti-Texte, doch sie haben einen deutlich anderen Charakter. Während die Veden die äußere Erscheinungswelt zum Schwerpunkt hatten, geht es bei den Upanishaden um Verinnerlichung und um die meditative Erfahrung der dem Leben zugrunde liegenden Wirklichkeit.

„Verborgen im Herzen eines jeden Geschöpfs existiert das Selbst, feiner als das Feinste, größer als das Größte“ (Katha Upanishad, I.2.203).

1.1.4BRAHMANISMUS: 800-500 V. CHR.

Als Grundlage gelten alte vedische Texte, die Brahmanas. Eine wesentliche Rolle spielten die Brahmanen, die Kaste der Priester und Gelehrten. Als Opfer- und Ritualexperten hatten sie eine zentrale Rolle und galten als Mittler zwischen den Menschen und den Göttern. Die vedischen Götter, wie Agni, Indra, Vayu, verloren jedoch im Brahmanismus ihre Bedeutung.

Brahman bedeutet wachsen, sich ausdehnen, das sich Ausdehnende, im Wachstum Ausbrechende4. Die Basis des Brahmanismus ist die Lehre von Atman und Brahman, die schon in den Upanishaden formuliert wurde. Atman ist die Einzelseele, das wahre Selbst des Menschen. Brahman ist die Weltseele, das dynamische Prinzip, das hinter allen Erscheinungen steht. Brahman ist kein persönlicher Gott, sondern die kosmische Substanz, der Urgrund von allem. Atman ist der kosmische, göttliche Funken im Menschen.

In dieser Zeit wurden wesentliche Fundamente der indischen Religionen gelegt, wie die Konzepte von Maya (die Welt, so wie wir sie sehen, ist ein Trugbild), Karma (Konsequenz einer Handlung), Samasara (Fluss, Kreislauf der Wiedergeburten) und Moksha (Erlösung, spirituelle Befreiung).

„Das Selbst ist wahrhaftig Brahman, aber aus Unwissenheit identifizieren es die Leute mit dem Verstand, dem Geist, den Sinnen, Leidenschaften und den Elementen Erde, Wasser, Luft, Raum und Feuer“ (Brihadaranyaka-Upanishad, 4.5).5

1.1.5SANKHYA: 800 V.-700 N. CHR.

Das ursprünliche Sankkyasystem (gesprochen: Samkhya) geht auf den Weisen Kapila zurück. Es handelt sich dabei um eine spirituell-kosmische Evolutionslehre, die einen großen Teil der indischen Spiritualität maßgeblich mitgeprägt hat.

Sankhya bedeutet Zahl. Anhand von 25 Tattvas (Grundprinzipien, Daseinsfaktoren) wird das Universum und alles sich darin Befindliche aufgezählt. Das Prinzip von Purusha (reines Bewusstsein, der formlose Geist) und Prakriti (Summe aller grob- und feinstofflichen Erscheinungen der Natur) sind wesentliche Bestandteile der Sankhyaphilosophie. Der klassische, systematisierte Sankhya beinhaltet eine dualistische Weltsicht.

DIE 25 TATTVAS SIND:

1)

Purusha – formloser Geist, der stille Zeuge, das Selbst,

2)

Prakriti – aktive Ur-Natur,

3)

Buddhi – kosmische, höhere Intelligenz,

4)

Ahamkara – „Ich-Macher“, Ich-Bewusstsein,

5)

Manas – der denkende Verstand, gebunden an die Sinne,

6-10)

Jnanendriyas – die erkennenden und wahrnehmenden Sinne: Riechen, Schmecken, Sehen, Tasten, Hören,

11-15)

Karmendriyas – die handelnden Sinne: Gehen, Ausscheiden, Zeugen, Greifen, Sprechen,

16-20)

Tanmatras – die feinstofflichen Elemente: Klang, Berührung, Form, Geschmack, Geruch,

21-25)

Mahabhutas – die grobstofflichen Elemente: Raum, Luft, Feuer, Wasser, Erde.

Die systematische Aufzählung soll helfen, die Struktur des Universums und des Verstandes besser zu verstehen. Um alle diese Aspekte der Wirklichkeit zu erfassen, bedarf es intensiver Beobachtung, verbunden mit einer starken Verfeinerung der Wahrnehmung.

Anna Trökes beschreibt drei große Abschnitte in der Entwicklung der Sankhyalehre6:

»Frühe Sankhyavorläufer in der Zeit von 800-100 v. Chr.

Die Vorformen des Sankhya sind theistisch orientiert, das oberste Ziel der befreienden Erkenntnis besteht, laut Trökes, darin, dass der Mensch seine innerste Wirklichkeit als Widerspiegelung und Teilhabe am Absoluten bzw. am Göttlichen versteht und sich vor allem auch in dieser Teilhabe erfährt.

»Systematisierter Sankhya und klassischer Sankhya von 500 v.-450 n. Chr.

Diese Sichtweise ist atheistisch. Im klassischen Sankhya gibt es keine gegenseitige Durchdringung von Purusha (die Essenz) und Prakriti (Natur). Es ist eine dualistische Weltsicht.

Eine der Kernaussagen der klassischen Sankhyaphilosophie lautet: „Das innerste Wesen ist nicht zu verwechseln mit der Natur, der Welt der Erscheinungen.“7

Der Sankhyasicht nach existieren Leid und Schmerz nur auf der Ebene von Prakriti. Die Identifikation mit Prakriti ist eine Täuschung und es geht darum, zu erkennen, dass Purusha und Prakriti nicht eins sind.

»Vedantisierung des Sankhya und sein Ende als eigenes System

In der letzten Phase kommt der ursprüngliche Einheitsgedanke wieder zum Tragen.

Die Grundelemente der Sankhyalehre finden sich im Bhagavadgita, in Patanjalis Yogasutra und auch im Tantrismus, jeweils in modifizierter Form.

1.2ZEIT DER EPEN: 400 V.-400 N. CHR.

1.2.1MAHABHARATA, RAMAYANA, BHAGAVADGITA

Das Mahabharata und das Ramayana sind die großen Nationalepen Indiens. Das Ramayana schildert in 24.000 Doppelversen das Leben des Helden Rama und seiner Frau Sita8. Maha bedeutet groß. Das Mahabharata erzählt in 100.000 Doppelversen die Geschichte der Bharatas.

Die Bhagavadgita (der Gesang des Erhabenen) ist als sechstes Kapitel in die Mahabharata eingebettet. Es ist ein spirituelles Gedicht und eine zeitlose Lehrschrift, bestehend aus 18 Kapiteln mit 701 Versen.

Die Gita ist eine spirituelle Unterweisung, in der Krishna (der Erhabene) dem Krieger Arjuna, der sich in einer tiefen Krise befindet, die Pfade des Yoga erläutert. Krishna ist in einer dunklen Zeit als Freund der Menschen auf die Welt gekommen, um sie in ein neues Bewusstsein zu führen.

Die Rahmenhandlung der Gita ist ein unmittelbar bevorstehender Kampf zwischen zwei verwandten Familien, dem ein langer Konflikt vorausgeht. Dieser Konflikt steht für den Konflikt eines Menschen, in dessen Inneren die lichtvollen Seelenkräfte mit den dunklen Egokräften um die Vorherrschaft streiten. Aus der symbolträchtigen Geschichte geht hervor, dass Licht und Schatten nicht fein säuberlich voneinander getrennt sind. Im Licht ist immer auch ein Aspekt der Dunkelheit vorhanden und in der Dunkelheit ein Aspekt des Lichts.

Die unterschiedlichen Yogawege, die Krishna aufzeigt, schließen einander nicht aus. Sie bedeuten, dass es für jeden Menschen, entsprechend seiner individuellen Veranlagung, möglich ist, dem Yogaweg auch im Alltag zu folgen.

»Jnana Yoga als Weg des Wissens, der Weisheit, der Erkenntnis;

»Dhyana Yoga als Weg der Meditation, der Versenkung;

»Karma Yoga als Weg der Tat, des selbstlosen Handelns;

»Bhakti Yoga als Weg der Liebe, der Verehrung, der Hingabe.

„Besser ist, das eigene Gesetz des Wirkens (swadharma) zu erfüllen, auch wenn es an sich noch fehlerhaft ist, als das Gesetz eines anderen, selbst wenn es vollkommener ist. Den Tod im Gehorsam gegen das eigene Wesensgesetz zu erleiden, ist vorzuziehen. Gefährlich ist es, einem fremden Wesensgesetz zu folgen“9 (Yoga des Handelns, Kap. III, Vers. 35).

1.3KLASSISCHER YOGA NACH PATANJALI: 200 V. CHR.-200 N. CHR.

Die Yogasutras von Patanjali sind eine Zusammenstellung und Neuformulierungen philosophischer Quellentexte. Die Sutren gelten als Leitfaden und eines der wichtigsten Standardwerke des modernen Yoga. In Kap. 2 werden die Yogasutren ausführlicher erläutert.

„Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen“10 (YS, I, 2).

1.4TANTRISMUS: AB 500 N. CHR.

Tan meint ausdehnen, sich erweitern, der Begriff Tantra wird mit Gewebe oder Geflecht übersetzt. Damit könnte auf der einen Seite die Ausbreitung der tantrischen Lehre als große Bewegung gemeint sein, die sich auch über Gesellschaftsgruppen wie niedere Kasten oder Frauen erstreckt. Dies bezieht sich insbesondere Personengruppen, denen eine aktive Rolle in der Spiritualität ohne das Mitwirken eines Priesters (Brahmanen) zuvor nicht gestattet war.

Wahrscheinlicher ist aber, dass sich der Begriff Tantra auf den als untrennbar angesehenen Zusammenhang von Makrokosmos (die Welt im Großen, das gesamte Universum) und Mikrokosmos (die Welt im Kleinen, in ihren winzigen Bestandteilen) bezieht. Die tantrische Lehre geht davon aus, dass alles über die energetische Ebene untrennbar miteinander verbunden ist, das Kleine ist ein Spiegel des Großen und umgekehrt. Somit hat alles Geschehen im Universum eine Auswirkung auf das Ganze, da alles miteinander verwoben ist.

Der Tantrismus gilt in der indischen Spiritualität als revolutionäre Bewegung. Lange Phasen der Askese, in denen es galt, alles Weltliche zu überwinden, gingen dem Tantrismus voraus. So wurde der menschliche Körper mit all seinen Funktionen als unrein angesehen, insbesondere der weibliche Körper und die Sexualität.

Anna Trökes formuliert zur tantrischen Revolution: „Ein wichtiger Teil der Lehre bestand darin, anzuerkennen, dass das Göttliche sich in jeder nur möglichen Form in seiner ganzen Vollkommenheit offenbaren kann. Unter dieser Sichtweise brachen auch die alten Kategorien von ‚rein/unrein‘ zusammen, in denen Gesellschaftsordnung und Kastenwesen über die Jahrhunderte völlig erstarrt waren.“11

Einer der Grundgedanken des Tantrismus ist es, die Natur mit all ihren vielfältigen Erscheinungen zu verehren und mit allen Sinnen zu erleben. Anstelle von strenger Askese wurde im Tantrismus nun Freude, ritueller Genuss, Sinnlichkeit und eine dem Leben und der Natur zugewandte Einstellung die Grundlage für spirituelles Wachstum.

Die vielfältigen körperlichen Rituale und Praktiken sind spirituelle Mittel auf dem Weg zur Befreiung. Kern der Lehre ist es, das kosmische Bewusstsein (Shiva/Purusha, das männliche Prinzip) mit der kosmischen Energie (Shakti/Prakriti, das weibliche Prinzip) zu vereinigen. Die Bedeutung der Shakti, als dynamisches Schöpfungsprinzip und zugleich als göttliche Mutter, hat im Tantrismus eine zentrale Rolle. Das Wissen um die feinstofflichen Energiezentren (Chakren), Energiebahnen (Nadis), Mudras (energetische Siegel mit dem Körper), Energielenkung (Aufsteigen der Kundalini Shakti), Atemkontrolle, die Rezitation von Mantren (Schwingung und Klang) und Techniken der Visualisierung sind Hauptelemente des Tantrismus.

Man unterscheidet in verschiedene tantrische Richtungen, wie weißes, rotes und schwarzes Tantra. Das weiße Tantra, auch als rechter Pfad bezeichnet, beinhaltet die oben genannten Elemente des kosmischen Prinzips und der Hingabe an die göttliche Urkraft, der Energielehre und deren Praktiken zur Steigerung des Energielevels.

Das rote Tantra, auch als linker Pfad bezeichnet, beinhaltet energetische Praktiken zur Sublimierung der sexuellen Energie. Bei uns im Westen wird dieser Zweig des Tantra fälschlicherweise oft auf sexuelles Vergnügen reduziert und für die komplette Lehre gehalten.

Das schwarze Tantra arbeitet mit magischen Formeln und Mantren, dabei geht es um Manipulation und Kontrolle, vergleichbar mit schwarzer Magie.

„Wenn jemand in den Zustand der göttlichen Energie eintritt, in eine Meditation, die keine Unterscheidung kennt, dann wird er eins mit der Natur Shivas, denn Shakti wird die Öffnung Shivas genannt. So wie man mit dem Licht einer Lampe oder durch die Strahlen der Sonne Teile des Raumes erkennt, ebenso erkennt man Shiva durch seine Energie“12 (Vijnana Bhairava, Vers 20-21).

1.5HATHA YOGA: AB 900 N. CHR.

Yoga in all seinen Formen galt bis zum Beginn des Tantrismus als weltentsagend. Hauptsächlich galt es, das Leiden zu überwinden. Der Hatha Yoga, der den Körper in der spirituellen Praxis in den Mittelpunkt stellt, ging historisch aus der tantrischen Tradition hervor. Statt den Körper wie bisher zu überwinden, wurde der Körper nun zum Mittelpunkt der Praxis: siehe Kap. 3.

„Das Tragen eines besonderen Kleides ist kein Mittel zur Vollendung, auch nicht das Sprechen über den Yoga; die Übungen allein sind das Mittel zur Vollendung; das ist ohne Zweifel wahr“ (Hatha-Yoga-Pradipika, Vers 66).13

1 Huchzermeyer, W. (2006, 6. Aufl. 2015). Das Yoga-Wörterbuch, Sanskrit-Begriffe, Übungsstile, Biographien. (S. 226). Karlsruhe: Verlag W. Huchzermeyer.

2 Easwaran, E. (2008, 4. Auflage). Die Upanishaden. (S. 16). München: Goldmann.

3 Easwaran, E., S.125.

4 Easwaran, E., S. 419.

5 Easwaran, E., S. 70.

6 Trökes, A. (2013). Die kleine Yoga Philosophie. (S. 150-166). München: O. W. Barth.

7 Michel, K. P. & Wellmann, W. (2003). Das Yoga der Fünf Elemente. (S. 45.) Bern: Scherz Verlag.

8 Huchzermeyer, W. (2015, S. 157).

9 Aurobindo, S. (1981). Bhagavadgita. Kap. III, Vers. 35. Gladenbach: Verlag Hinder + Deelmann.

10 Bäumer, B. & Deshpande, P. Y. (1976, sechste Auflage, 1990). Patanjali. Die Wurzeln des Yoga. (S. 21). Bern: Scherz Verlag.

11 Trökes, A. (2013, S. 236).

12 Bäumer, B. (2013, dritte Auflage). Vijnana Bhairava. Das göttliche Bewusstsein. (S. 67). Frankfurt: Insel Verlag.

13 Svatmarama, S. (2009). Hatha-Yoga-Pradipika. Die Leuchte des Hatha Yoga. (S. 47). Hamburg: Phänomen-Verlag.

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2DER KLASSISCHE YOGA NACH PATANJALI

Mit dem Begriff Yoga werden häufig zuerst bestimmte Körperhaltungen assoziiert. Man stellt sich vielleicht einen indischen Yogi im Kopfstand oder tief versunken im Meditationssitz vor. Oder man verbindet damit Entspannungsübungen, Atemübungen oder schweißtreibende Praxis auf der Yogamatte. Wohl kaum jemand verbindet damit ein psychologisches Werk, welches die Funktion des menschlichen Geistes darlegt und zudem nur eine einzige Yogahaltung erwähnt.

Das Yogasutra des Patanjali, auf dessen Inhalte sich dieses Buch in weiten Teilen bezieht, stellt eine Zusammenfassung bedeutender yogaphilosophischer Wege dar und stellt zugleich deren Essenz dar. In den Sutras finden sich Elemente und Konzepte aus der Sankhyaphilosophie ebenso wie aus dem Vedanta, dem Buddhismus und der tantrischen Philosophie.