Hinter einer „Legende“ verbirgt sich im allgemeinen Verständnis eine von „Ruhm“ und „Ehre“ berichtende Geschichte. Das Wort „Legende“ leitet sich von „legenda“ (das Vorzulesende) ab und ist somit in seiner Überlieferung an eine schriftliche Vorlage gebunden.
Doch wo sollte im schriftunkundigen Barbaricum eine solche Legende niedergeschrieben worden sein?
Die Herkunft der „Legende vom Hermunduren“ kann deshalb nicht auf eine konkrete Quelle oder ein Schriftstück bezogen werden. Dennoch schildert sie in ihrer Form ein Geschehen, dem eine historische Wahrheit zugebilligt werden könnte …
Die eingebundenen historischen Ereignisse sind überliefert, wenn auch manches dieser Ereignisse in schöpferischer Freiheit vom Autor abgewandelt oder ausgeschmückt wurde. Der Roman erzählt eine Geschichte, die so oder auch so ähnlich und bestimmt auch ganz anders abgelaufen sein könnte …
Ein historischer Roman bedarf umfangreicher Datenermittlungen in historischen Quellen, die mühevoll und zumeist nicht ohne Hilfe erfolgreich zu gestalten sind. Der Autor kämpfte immer auch mit der Tatsache, dass er gemachte Fehler selbst schwer erkennen kann.
Deshalb gilt sein Dank allen Helfern und Kritikern und damit all denen die, in gleich welcher Form, am Roman mitgewirkt haben!
Die Erkenntnisse historischer Forschungen zu den ‚Barbaren’ sind nicht allumfassend und können keinesfalls als ‚lückenlos’ beschrieben werden. Schriftliche Aufzeichnungen aus dem ‚Barbaricum’ dieser Zeit existieren nicht und die Schilderungen der Herren Tacitus, Strabon, Velleius und Plinius, des Älteren, oder auch anderer Zeitzeugen, schließen eine ‚gefärbte’ Darstellung im römischen Sinne nicht gänzlich aus. Und nur deren Dokumente blieben, zumindest zu Teilen, erhalten.
Unter Nutzung bekannter historischer Daten, Personen, Überlieferungen und Zusammenhänge unternimmt der Autor den Versuch der Darstellung des Lebens der Hermunduren und ihres Kampfes gegen römische Interessen.
Der Roman „Die Legende vom Hermunduren“ ist ein Fortsetzungsroman, dessen bisher erschienene Titel
Teil 1 „Botschaft des Unheils“
Teil 2 „Zorn der Sippen“
Teil 3 „Schatten des Hunno“
Teil 4 „Pakt der Huntare“
Teil 5 „Dolch der Vergeltung“
überarbeitet und in dieser Form neu verlegt wurden.
Angelehnt an historische Ereignisse dieses Zeitabschnittes, begleitet die Handlung die Anfänge des Verfalls Roms, dessen Imperium im Jahr 69 n. Chr. auf eine erste Krise zusteuerte.
G. K. Grasse
Pakt der Huntare
© 2017 G. K. Grasse
Umschlaggestaltung, Illustration: G. K. Grasse
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN: | |
978-3-7439-3549-5 | (Paperback) |
978-3-7439-3550-1 | (Hardcover) |
978-3-7439-3551-88 | (e-Book) |
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Von Rabax63 (Diskussion) - Eigenes Werk (Originaltext: Eigene Aufnahme), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=31309606
Vorbemerkung des Autors
Eine Kritik veranlasste mich von der bisher in den ersten fünf Teilen des Romanzyklus verwendeten Form abzuweichen. Bisher nutzte ich vor jedem neuen Kapitel von mir als ‚Kopftexte’ bezeichnete Einleitungen, die mit historischen Erkenntnissen, bekannten und belegten Ereignissen oder auch aus dem Studium der Geschichte gewonnenen Schlussfolgerungen einen verständlichen Rahmen meiner Erzählung abbilden sollten.
In der Neuauflage der Teile 1 bis 5 und der Fortsetzung ab Teil 6 der
„Legende vom Hermunduren“
verzichte ich auf diese ‚Kopftexte’.
Damit der geneigte Leser nicht auf wichtige Informationen verzichten muss, sind alle diese bisherigen Informationen und auch darüber hinausgehend Wissenswertes in der Form eines eigenständigen
‚Kompendium’
mit dem Titel
„Was sich noch zu Wissen lohnt …“
zusammengefasst.
Worterklärungen und ein Personenregister befinden sich am Ende des Romans.
Die erstmalige Erwähnung von Personen und von erklärungsbedürftigen Begriffen sind im Text mittels Kursiv- und Fettdruck hervorgehoben.
Die Register sind seitenbezogen gestaltet, d. h., dass Erklärungen nach der Seitenzahl geordnet sind an der im Text die erstmalige Erwähnung auftritt.
Aus dem Lateinischen übernommene Bezeichnungen wurden der deutschen Schreibweise angepasst.
Dem Romanzyklus liegen die Kriterien der versuchten Einhaltung der historischen Wahrheit und der möglichst verständlichen Darstellung zugrunde.
Historiker, die sich mit dieser Zeit auseinandersetzen, sind sich aufgrund dürftiger Quellenlagen, widersprüchlicher Erkenntnisse und auch abweichender Interpretationen nicht immer in der Publikation zu einzelnen Sachverhalten einig.
Ich möchte vorausschickend erklären, dass diese meine Darstellung weder alle derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisse in sich vereinigt, noch den Anspruch auf Vollkommenheit und detailgetreue Richtigkeit erhebt.
Als Autor steht mir dichterische Freiheit zu, die ich im breiten Spektrum wissenschaftlicher Widersprüchlichkeit und natürlich auch mit der Darstellung meines Verständnisses der historischen Situation ausnutze.
Sicher ist ein ‚Autor’ nur ein Beobachter aller Veröffentlichungen, die sich mit dem Zeitraum, dem Ort und auch mit sonstigen Themen wie Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Militär, Kultur und Religion befassen.
Natürlich verfolgt er auch die Erkenntnisse der historischen Forschungen.
Trotzdem ist er kein Wissenschaftler und somit nicht in der Lage, das breite Spektrum der Erkenntnisse vollständig richtig zu erfassen, zu bewerten und in Vollkommenheit richtig wiederzugeben.
Einer Behauptung, der Autor könnte weder die Komplexität noch die detailgetreue Tiefe erreichen, um die Zusammenhänge darzustellen, könnte hier nicht widersprochen werden.
Trotzdem benötigt der Autor für die Absicht, einen historischen Roman zu verfassen, zumindest eine Arbeitsgrundlage bzw. eine Hypothese.
Diese vereinfachte Form historischer Grundlagen könnte ein Historiker fordern, nicht zu veröffentlichen, weil diese zu banal wären.
Was der Historiker zu verurteilen veranlasst sein könnte, wird der Leser möglicherweise freudig zur Kenntnis nehmen. Er wird des Autors vereinfachtes Verständnis historischer Zusammenhänge aufnehmen, um sich ein eigenes Bild dieser Zeit und der im Roman geschilderten Ereignisse zu erstellen.
Mit anderen Worten ausgedrückt, wird der Leser und nicht der Historiker, den Stab über dem Autor brechen …
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Lesen …
Der Roman zeichnet das Leben einer Stammesabspaltung der Hermunduren, beginnend um 64 n. Chr. im Territorium am Main, nach.
Die Hermunduren erschlossen sich den neuen Lebensraum auf Wunsch Roms. Zunächst, so ist es überliefert, prägte Freundschaft die Beziehungen.
Doch zu keiner Zeit der Existenz des Römischen Imperiums blieben Beziehungen zu den Nachbarn friedlicher Natur.
Zwischen der römischen Eroberungspolitik und dem Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang der Bevölkerung im Barbaricum existierten ein großer Zusammenhang mit Wechselbeziehungen unterschiedlichster Art und ein fundamentaler Widerspruch mit Hass und Feindschaft, der im Kontext zur historischen Zeit und dem Territorium stand.
Die Römer, unbestritten zur Weltmacht gelangt, und die Barbaren, mit ihren zahlreichen Stämmen und Sippen, trafen am Rhein aufeinander. Weder Rom noch die Barbaren des freien Germaniens erkannten diese natürliche Grenze als von den Göttern gegeben an.
Die segensreiche Botschaft der Zivilisation in die Wälder des Nordens getragen zu haben, wird zumeist den Römern zugeordnet.
Für den Barbar dagegen fällt die Rolle des beutegierigen, mordenden und plündernden Kriegers ab.
Doch stimmt diese Pauschalisierung?
Besaßen die germanischen Stämme nicht auch Lebensbedürfnisse? Bildete der Schutz des Lebens eigener Kinder und Familien gegen jeden Feind, ob Mensch oder Natur, nicht doch den Kernpunkt jeder kriegerischen Handlung germanischer Sippen.
Selbst dann, wenn die Germanen auszogen, neuen Lebensraum zu erringen …
Karte Germanien um 60 n. Chr.
Grundlage von Cristiano64 - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2749288 Modifiziert durch Autor
65 nach Christus - Sommer (5. Iunius)
Barbaricum - Im Land der Hermunduren zwischen dem Fluss Moenus und dem Herzynischen Wald
Der Unbill des Überfalls auf den römischen Handelshof lastete schwer auf des Hunnos Schultern. Sich nichts anmerken lassend, rang er die Enttäuschung über das empfundene eigene Versagen nieder.
Er war mit Frame und Gladius über friedliche Händler hergefallen, weil er eine Botschaft vermutete, die aber niemals den Handelshof streifte. Allein eine Vermutung, auch wenn diese zwingend war, reichte für ihn aus, eigene Männer in den Tod zu schicken und Unheil über Unschuldige zu bringen …
Zweifel über die Entscheidung, ihn zum Hunno der Gefolgschaft zu machen, nisteten sich in seinem Kopf ein. Sie führten ihn zu dem Entschluss, sein bisheriges Wirken und Wollen zu überdenken. Diese Gedanken zwangen den Anführer auch über seine weitere Vorgehensweise nachzudenken.
Sich mit seinem Zögling Gerwin, an einen ungestörten Platz zurückziehend, stritten sich Krieger und Knabe oft lange miteinander, bevor Gaidemar, als der Ältere, sich seine Meinung bildete und den Jüngeren zum Zuhören verpflichtete. Doch Gerwin weilte, in seinem Auftrag, an einem anderen Ort und stand dem Hunno in dieser für ihn kritischen Zeit nicht zur Seite. Dafür, dass der Knabe sein wichtigster Gesprächspartner war, wenn Unschlüssigkeit sein Wesen prägte, gab es mehrere Gründe.
Gerwin, als einer der Ersten vom Überfall der Römer betroffenen, hasste diese abgrundtief. Seine Erlebnisse ließen den Knaben körperlich hart und widerstandsfähig werden und prägten seinen Charakter.
Zumeist schweigsam, auf seltsame Weise verschlossen, andererseits aber aufmerksam alles ihn Umgebende aufnehmend, entwickelte sich Gerwins Geist schneller als bei den anderen, überlebenden Knaben. Von den Göttern mit großer Aufnahmefähigkeit, einem wachen, selbständigen Verstand und auch mit einer Beharrlichkeit zu eigenen Überzeugungen ausgestattet, bildete sich Gerwin erst eine eigene Meinung, um diese dann auch gegen Widerstand durchzusetzen.
Vor allen anderen Eigenschaften zeichnete Gerwin Schweigsamkeit aus. Nie prahlte er, wie es Knaben seines Alters für gewöhnlich machten, nie protzte er mit seinen Taten im Kreis der Jungkrieger, obwohl gerade er dazu hinreichenden Anlass besaß. Inhalte ihrer gemeinsamen Gespräche blieben ihr Geheimnis und wurden von Gerwin niemals im Streit mit anderen Kriegern verwendet, selbst wenn er sich von deren Weitergabe Vorteile versprechen durfte. Stritten sie miteinander, kuschte der Knabe nicht vor ihm.
Gaidemar wusste, dass Gerwin ihm vollständig vertraute. Dieser Aspekt wog gegenseitig. Trotz des Knaben Jugend war der Hunno davon überzeugt, dass dieser seine eigenen geheimsten Wünsche kannte und auch dann immer das gemeinsame Ziel vor Augen hatte, wenn durch nicht vorhersehbare Ereignisse Umstände eintraten, die zur vollständigen Änderung der Vorgehensweisen zwangen.
Diese Denkweise hätte Gaidemar nicht von anderen Gefährten erwarten dürfen. Sein Vertrauen in Olaf, Richwin und Werner war groß, doch einem Vergleich zu Gerwin konnten diese Vertrauensbeziehungen nicht standhalten.
In der gegenwärtigen Lage auf seinen Zögling verzichten zu müssen, hatte er ihn doch auf den Weg zur eigenen Sippe und zu Baldur Rotbart geschickt, schmerzte den Gefolgschaftsführer. Als noch junger Anführer, zweifellos stolz ob dieser Aufgabe, die ihm Achtung und Ansehen, aber auch eine Last der Verantwortung einbrachte, fühlte sich Gaidemar mitunter überfordert und immer dann suchte er den Streit mit Gerwin.
Der Knabe war ein guter Zuhörer, der die Unsicherheit des Anführers zu spüren schien und meist zu den empfindlichsten Bedenken des Hunnos vor stieß. Gaidemar war sich ihres besonderen Verhältnisses bewusst. Zum Ersetzen des Vaters gezwungen, übernahm er die ihm zugedachte Rolle, die mit Erziehung und Beeinflussung verbunden war. Andererseits spürte er die Zuneigung des Knaben, der in ihm auch einen Freund und Gefährten sah. Dann kam noch hinzu, dass er zum Anführer der Krieger berufen, ihm auch noch ein Vorgesetzter wurde.
Gerwin schien das alles nicht zu beunruhigen. Der Knabe verstand es einerseits Grenzen aufzuzeigen, Wünsche für Handlungen auszusprechen und dafür zu streiten, die Gaidemar, wäre er ein einfacher Krieger, genauso vertreten hätte. Doch er war der Hunno und durfte sich mancher leichteren Lösung nicht hingeben. Der Knabe machte ihm das deutlich.
Gezwungen vorauszuschauen, zu planen und dabei nicht die geringste Kleinigkeit zu übersehen, brauchte Gaidemar Streitpartner, die ihm aufzeigten, was er unbeachtet ließ.
Olaf, als kluger Verhandler mit Anderen, war zweifellos geeignet, ihn auf Fehler in seiner Denkweise aufmerksam zu machen. Jedoch fehlte ihm die Beharrlichkeit, den Widerspruch aufrechtzuerhalten, wenn der Streit heftiger wurde. Zu oft lenkte Olaf ein.
Gerwin gab nie nach, hörte nie auf, bis er überzeugt war, unabhängig davon, ob er recht bekam. Vertrat der Knabe den Standpunkt, der beim Betrachten aller Umstände weniger geeignet war das angestrebte Ziel zu erreichen, stimmte er den anderen Argumenten erst zu, wenn sie ihn überzeugten.
Richwin, den Sohn des Eldermanns der Talwassersippe und weiteren Gefährten, hatte Gaidemar gemeinsam mit Gerwin zu Baldur Rotbart geschickt. Auch dieser Krieger zeichnete sich durch Klugheit aus und stellte im Falle gemeinsamen Streites einen zähen Widerpart dar. Andererseits fehlte gerade ihm die Fähigkeit über mehrere Schritte vorauszudenken und Begleitumstände einzubeziehen, die seine Entschlüsse beeinträchtigen könnten.
Der dritte Gefährte ihrer langen Reise befolgte seine Befehle ohne Widerspruch, mit Klugheit und Ideenreichtum. Dabei den Blick immer nur auf die vor ihm liegende Aufgabe gerichtet, fehlte Werner die Fähigkeit der Vorausschau gänzlich. Gab der Hunno diesem ein Ziel vor, konnte Gaidemar sicher sein, dass der Narbenmann mit Geschick und Beharrlichkeit zur Erfüllung strebte. Hingen nachfolgende Ereignisse und Absichten von eigenen Entscheidungen ab, so schien dem Hunno, konnte Werner sich nicht vorstellen, was gut oder günstig wäre und müsste auf die nächste Aufgabe neu eingeschworen werden.
In Gaidemar verfestigte sich über die Zeit die Erkenntnis, dass diese Gefährten der ersten Tage sich gegenseitig gut ergänzten, sich untereinander bedingungslos vertrauten, aber jeder nur im Rahmen seiner besseren Eigenschaften eingesetzt werden sollte. Dabei war ihm sein eigener Zögling zum wichtigsten Partner herangewachsen.
Gerade jetzt bezogen die Römer, mit ausnehmend großer Anzahl von Legionären, ihr Basislager am Maa. Wenn sonst nichts auf angriffslustiges Verhalten hindeutete, die Anzahl der Kohorten verwies klar auf deren Ziele.
Für den Hunno war offensichtlich, dass, falls alle vorliegenden Nachrichten richtig waren, die Römer die Schmach der Niederlage in Baldur Rotbarts Sippe zu tilgen beabsichtigten.
Gaidemar und seinen Gefährten war es gelungen, beginnend im Dorf der Talwassersippe und über alle im Bereich des Maa befindlichen Sippen fortgesetzt, eine Allianz gegen die Römer zu bilden.
Obwohl es zu Beginn der gemeinsamen Bemühungen nicht nach einem Erfolg aussah, folgten inzwischen acht Sippen ihrem Aufruf und vereinigten sich im angestrebten Bündnis. Sollten sie eine weitere Sippe flussab noch gewinnen können, wären mit der eigenen und Baldur Rotbarts Sippe mehr als zehn Sippen bereit, den Römern Einhalt zu gebieten. Dabei könnte nicht jede Sippe ein so starkes Aufgebot kampfwilliger Krieger stellen, wie es von Rotbart zu erwarten war. Weitere starke Huntare sollten von der Ebersippe, der Ottersippe und der Frekisippe des Gottfried möglich sein. Jeder für den Kampf gewonnene Krieger zählte. Bot ein Kriegertrupp einer Sippe nur zehn Kämpfer auf, wie er es von der eigenen Sippe erwarten durfte, nützte doch jeder einzelne Mann.
Seine Gefolgschaft zählte inzwischen fast einhundert Jungkrieger. Der Bataver und auch Leif, der Friese, waren als Ausbilder zur Erlangung von Disziplin und Gehorsam von großer Wichtigkeit. Auch wenn beide erst erkennen mussten, dass nicht, wie im römischen Heer, der Stock, sondern Klugheit und Überredungskunst Disziplin erzwangen.
Oft griff Gaidemar selbst ein, um seinen ‚Römern’ Beistand zu geben. Manchmal bediente er sich zur Erlangung von Einsichten bei jungen, prahlerischen und unbesonnenen Jungkriegern der Fähigkeiten seiner jüngeren Schatten, Gerwin und Rango.
Dies hatte Vorteile. Von den Knaben beschämte, widerspenstige Unholde gaben ihre eigene Unzulässigkeit zu, wenn Gerwin oder Rango den Einen oder Anderen der Prahlhanse mit dem Stock oder einem Messerkampf in die Knie zwangen. Dadurch wuchs das Ansehen seiner beiden Schatten. Dies aber barg den Nachteil in sich, dass solche geschmähten Jungkrieger selten vergaßen, was ihnen widerfuhr. Gaidemar befürchtete, dass nicht immer verletzte Eitelkeiten ausgeredet werden konnten ... Und doch war er überzeugt davon, dass seine Krieger weitaus zuverlässiger im Kampf handeln würden, als alle anderen Trupps der Sippen.
Seine Organisation über den Zenno, einen von den Kriegertrupps selbst gewählten und bei Eignung, nur noch von ihm bestätigten Anführer eines Trupps, hatte sich im Kampf am Römerhof bewährt.
Obwohl Gaidemar über den in der Frekisippe angerichteten Schaden nicht stolz war und sich die Schuld am Tod einiger der Jungmänner gab, bewiesen gerade diese doch nicht nur ihren Mut. In fester Ordnung stießen seine Rudel zum Innenhof der Römer vor, während Andere den Ring um den Hof geschlossen hielten. Auch in der Auseinandersetzung, innerhalb der freien Fläche des Römerhofes, zeigten seine Jungkrieger, dass sie Einiges gelernt hatten.
Schnell fanden die ersten, von ihren Pferden springenden Welpen, zur Formation des Keils. Sie zersplitterten die sich ihnen entgegenstellenden Knechte, um diese dann vollends auseinanderzutreiben und einzeln niederzuringen. Auch seine Chatten griffen mit Kampfgeheul in den Nahkampf ein und trennten die Gruppe der Sklavenjäger von den übrigen Kämpfern des Römerhofes ab. Hinzukommende Welpen aus Werners und Richwins Rudel überwältigten die verhassten Jäger.
Der Sieg im Römerhof wurde mit Opfern erkauft. Der ‚kleine Mann’, wie er für sich den die Römer anführenden Händler nannte, erzwang mit seiner schnell erzielten Kampfbereitschaft manches Opfer. Auch die Knechte des Römerhofes kämpften tapfer, unterlagen aber bald der Übermacht.
Gaidemar wusste, dass er dem Eldermann der Frekisippe noch würde Antworten zum Grund des Überfalls geben müssen. Und dachte er daran, war ihm nicht Wohl zumute.
Trotzdem hatte er erfahren, was er zu Wissen beabsichtigte. Der römische Tribun, wie ihn der Eldermann nannte, scheiterte bei der Erlangung von für ihn wichtigen Nachrichten. Weder der Eldermann verfügte über die von ihm erwartete Botschaft, noch war diese beim ‚kleinen Mann’ eingegangen.
Die Absicht eines Sklavenhändlers, den Tribun zur Suche nach dessen eigenen Sklaventransport zu veranlassen, scheiterte. Der Tribun interessierte sich nicht für die Belange des ihm unbekannten Händlers. Welche Gründe auch immer dahinter stecken mochten, der Römer zog erfolglos ab. Das alles hatte der ‚kleine Mann’, ohne dass man ihn hätte dazu zwingen müssen, berichtet.
Ganz besonders diesem römischen Händler gegenüber, dessen Namen er sich gemerkt hatte, fühlte sich Gaidemar schuldig. Der Angriff seiner Gefolgschaft war, trotz Erfolg, ein Fehler. Alles was er zu wissen beabsichtigte, wurde ihm nach dem Kampf freiwillig, vom diesem Händler mit dem Namen Qiricus, mitgeteilt.
Der Zorn des Eldermanns der Frekisippe erschütterte den Hunno und er befürchtete ernste Folgen für dessen Beitritt zum Bündnis.
Dennoch war Gaidemar nicht gewillt, dieses Schuldgefühl zu offenbaren. Er brauchte die Nachricht, die für den Römer bestimmt war. Gab es keine Nachricht, umso besser … Außerdem mussten die Sklavenjäger vernichtet werden, denn diese wussten von der Prahm und dieses Wissen konnte für seine Männer gefährlich werden.
Dass der Hunno zur Absicht des Hängens des Sklavenhändlers zu spät reagierte, bedauerte er nicht. Gefion, der Folterer, hatte dem Mann sein Messer in den Hals gedrückt. Daraufhin verblutete der Gefangene zu schnell... Gaidemar fand den Sklavenhändler, mit durchschnittener Kehle, neben dem Portikus im Römerhof. Der Tod des Mannes an sich und auch dessen Todesart berührte ihn nicht. Ob nun Aufhängen oder die Kehle durchschneiden … Sein Folterer enthob ihn einer weiteren unangenehmen Entscheidung.
Der Beweis der Kampffähigkeit seiner Rudel war eines der Ergebnisse, des im Nachhinein verwünschten Angriffs. Keiner der Zennos begann zu prahlen. Mut, Entschlossenheit und Beispielwirkung bewiesen deren Kampffähigkeit. Schnelligkeit und Härte zeugten von vorhandener Entschlossenheit. Gaidemar war sich sicher, in jedem Trupp den Besten als Zenno eingesetzt zu haben.
Doch auch die Zennos unterschieden sich in ihren Fähigkeiten zur Führung, so wie auch zwischen den einzelnen Rudeln Unterschiede hervortraten. Schon im früheren Lager lernten die Rudel, neben dem selbständigen, entschlossenen Handeln im Trupp, auch miteinander im Verbund vorzugehen.
Ob dieses Vordringen in feindliche Kräfte dabei als ‚Testudo’, wie seine beiden ‚Römer’ das nannten, oder dem eigenen Naturell der Sippen folgend, einem Angriff in Form des ‚Eberkopf’ entsprach, blieb dabei von einer Bedeutungslosigkeit, die einmal von einem Zenno eingefordert, den unbedingten Zusammenhalt zwischen den Kämpfern hervorbrachte. Stets war die Handlung der Krieger im Kampfverbund dem gegenseitigen Schutz geschuldet. Die Krieger blieben in ihrer Formation und keiner gefährdete, wie es früher mit Sicherheit geschehen wäre, ihre Geschlossenheit durch unbedachte Einzelaktionen. Der Überfall auf den Römerhof brachte den Sieg, ohne dass sich nur ein einziger todesmutiger Jungmann opferte...
Das in Übungen erlangte Vermögen fand im Gefecht mit den Römern seine Bestätigung. Ein Teil der Rudel erbrachte seine Bewährungsprobe bereits bei der Vernichtung der römischen Schiffe. Jetzt bewiesen auch jüngere Rudel ihre Kampffähigkeit. Der Hunno erkannte, dass die Gefolgschaft nun auf jede Auseinandersetzung vorbereitet war.
Was für die Gefolgschaft galt, traf noch lange nicht auf den zu bildenden Heerverband aller Sippen zu. Gaidemars Zweifel zur Vorgehensweise als geschlossene Kampfformation waren mit dem Eigensinn, der Disziplinlosigkeit und dem Stolz einzelner Krieger verbunden. Noch wusste er nicht, ob sich die Eldermänner und deren Krieger seiner Führung unterordneten oder ob einer der Ältesten die Führung der Heermacht der Hermunduren beanspruchte. Das zu klären, erforderte eine Versammlung aller Huntare der Sippen an einem Ort. Dort würde die Mehrheit der freien Männer im Rat entscheiden.
Gaidemar fand sich bereit dafür, sich dieser Entscheidung zu unterwerfen, scheute er doch davor zurück, die Verantwortung als Kriegsherzogs zu tragen und eigene Männer in den Tod zu schicken.
In dem der Hunno sich im Kreis seiner Zennos der Situation stellte, verfolgte er das Ziel, seine Unterführer mit allen notwendigen Nachrichten zu versorgen und deren Gedanken für eigene Entschlüsse einzufordern. Mit Olaf und Irvin sprach er zuvor, um deren Sicht der Dinge kennenzulernen.
Die Gefolgschaft lagerte, unweit der Frekisippe, auf einem der Morgensonne zugewandten Plateau. Die Zennos gruppierten sich in lockerer Runde um ihren Anführer. Als sich dieser erhob, erlangte er die Aufmerksamkeit.
„Einige von euch kennen Irvin noch nicht. Er kommt aus der Sippe, der auch Gerwin und ich angehören. Notker, der Knabe, ist sein Zögling. Notker brachte uns die Kunde, dass Irvin in einem Dorf flussab gefangen wäre.“ Gaidemar musterte seine Zuhörer. Sein Blick schweifte über die aufmerksamen Krieger.
„Werners Rudel gelang, in den vergangenen Tagen, Irvins Befreiung. Deshalb nehmen er und der Knabe an unserer Beratung teil. Irvin berichtete mir von meinem Eldermann und von der Sippe des Baldur Rotbart aus den Schwarzen Bergen. Einige von euch kennen Rotbarts Sippe. Rotbart brachte mit seinen Kriegern den Römern im vergangenen Sommer die Schmach bei, die Rom veranlasst, jetzt wieder in unser Gebiet einzudringen.“
Die Zennos nahmen diese Nachrichten schweigend zur Kenntnis. Wäre früher eine solche Botschaft verkündet worden, hätten sich Framen und Schilde als Antwort und Widerspruch gerührt. Doch die Zennos kannten Gaidemars Einstellung. Würde auch nur Einer seinen Schild schlagen, wäre er aus dem Kreis vertrieben. Der Hunno war sich der Aufmerksamkeit und Geduld seiner Anführer sicher.
„Die Römer bezogen inzwischen ihr Lager vom letzten Sommer. Dieses liegt an der Krümmung des Maa, von hier flussab. Die Botschaft unseres Eldermanns nennt uns eine große Anzahl von Legionären. Rotbart, der viel Erfahrung auf diesem Gebiet besitzt und ein wenig auch die Römer kennt, teilt mit, unsere Kundschafter hätten von unterschiedlichen Feldzeichen berichtet. Adler wurden den Truppen voran getragen. Der Bataver vermutet deshalb zwei Kohorten römischer Legionäre.“ Der Hunno unterbrach seine Worte.
Leiser fügte er hinzu: „Das ist aber noch nicht alles … Es gibt noch zwei weitere Kohorten ... Eine ist beritten und eine verfügt über Pferdeläufer.“
Gaidemar wartete auf Zwischenrufe, auf Fragen oder auch Bekundungen der Wut, der Enttäuschung, der Überraschung oder auch Verzweiflung. Seine Zennos aber schwiegen. Von diesem Augenblick an wusste er, dass zumindest unter den Zennos die Disziplin gesiegt hatte.
Er setzte seine begonnene Rede fort: „Diese beiden Gruppen bestehen aus Kriegern, die den Römern von Anführern anderer Stämme gestellt werden. Der Bataver vermutet, dass insgesamt vier Kohorten im Römerlager vereint sind und nannte die Zahl von zwei mal Tausend Kriegern. Diese Zahl nannten auch Rotbarts Kundschafter.“ Gaidemar schwieg, vom Stoßseufzer einiger Zennos gezwungen, für einen Augenblick.
„Ihr habt recht! Das ist eine gewaltige Übermacht für uns. Wir allein könnten nie gegen diese Kampfstärke bestehen. Deshalb brauchen wir die Krieger aller Sippen unseres Bundes. Wir müssen diese an einem Punkt versammeln.“ Der Hunno sah sich seine Zennos nacheinander an. Fragende Blicke und Zweifel beherrschten deren Gesichtsausdruck.
„Gerwin schlug vor, diese Streitmacht zum Mondstein zu rufen. Der Felsen gehört zum alten Dorf der Buchensippe. Dieser Ort ist nicht zu weit vom Lager der Römer entfernt und es ist der Ort, an dem die Römer, im letzten Sommer, die ganze Sippe niedermachten.“ Ein Blick in die Runde der Versammelten bescheinigte dem Hunno ungeteilte Aufmerksamkeit.
„In Begleitung von Richwin wird Gerwin die Talwassersippe, meine Sippe und Rotbart aufsuchen. Er fordert diese zur Teilnahme am bevorstehenden Kampf auf. Die Krieger dieser Sippen werden in wenigen Tagen zu uns stoßen.“
Noch immer lauschten die Zennos den Worten ihres Hunnos. Einige der Gesichter deuteten inzwischen auf Zuversicht hin. Die von Gaidemar aufgeführten Sippen brachten eine größere Zahl wehrfähiger Krieger und deshalb wuchs das Vertrauen in die eigene Kraft.
„Doch auch dann sind wir den Römern unterlegen“ stellte der Hunno fest und dämpfte damit aufkeimende Hoffnungen. „Wir müssen Boten zu unseren übrigen Sippen schicken und alle Krieger zum Mondstein führen!“ Mit einer kurzen Pause sorgte Gaidemar für das erforderliche Überdenken der entstandenen Situation.
„Nicht alle Verbündeten kennen das alte Buchendorf und den Felsen. Zu jeder Sippe reiten zwei Boten gemeinsam. Einer kennt die Sippe und der Andere ist ein Wegekundiger, der zum Mondstein finden kann.“ Gaidemar schwieg. Keiner der Zennos stellte Fragen.
„Wir führen inzwischen die Verhandlungen mit Gottfried zu Ende. Ich hoffe, dessen Zustimmung zum Bündnis erlangen zu können ...“
Der Hunno beabsichtigte nicht von seiner Sorge, der Eldermann könnte den Bündnisbeitritt abschlagen, zu sprechen. Warum sollte er die Zennos beunruhigen?
Es war Zeit, Entscheidungen zu treffen, ohne immer erst über deren Inhalt zu beraten. Er war der Hunno und besaß die Macht zur Durchsetzung. Entschlossen diese Macht auch zu gebrauchen, wandte er sich mit klaren Befehlen an seine Zennos.
„Zu einigen Sippen sind schon Boten unterwegs. Das betrifft die Bündnispartner, die wir zuletzt aufnahmen. Die Krieger der Sippen von Tassilo, Gottfried und Farold werden wir selbst zum Mondstein bringen. Die Sippe, die Irvin gefangen nahm, lassen wir von Olaf auffordern, unserem Bund beizutreten. Als Zeichen unseres guten Willens vergessen wir die Gefangennahme und werden denen auch unseren Gefangenen übergeben …“
Der Hunno lauerte auf Widerspruch. Vielleicht spürten die Zennos, dass sich nach dem Kampf am Römerhof etwas veränderte. Nicht jede Entscheidung wurde vom Hunno begründet und es gab schon gar keinen Anlass, über einen seiner Befehle zu streiten.
„Unter Olafs Führung ziehen sein Rudel, Werners Marderrudel und das Otterrudel zur Reihersippe. Irvin wird Olaf begleiten. Er wird die Krieger der Sippe und unsere Männer anschließend zum Mondstein führen.“ Der Befehl war erteilt und davon betroffene Zennos nickten zur Bestätigung mit dem Kopf.
„Rolf, der Wegkundige des Farold, ist schon unterwegs, um dessen Krieger zu uns zu bringen. Er wird auch Tassilos Ochsensippe aufsuchen, die wir dann auch hier erwarten. Die Ottersippe wird bei der Dachssippe auf uns lauern. Die Dachssippe streifen wir auf unserem Weg zum Mondstein. Bleiben noch die Ebersippe, die Bibersippe und die Marder ...“ Gaidemars Blick glitt über die Anwesenden. Als er den Gesuchten gewahrte, sprach er den jungen Zenno an.
„Reingard, du wirst Boten zu diesen Sippen senden. Die Biber und die Marder sollen erst zur Talwassersippe und ab dort, gemeinsam mit der Ebersippe, zum Mondstein ziehen. Von jetzt an in zehn Tagen triffst du mit den Kriegern dort ein!“ Der Hunno hob seine beiden Hände und zeigte zum Verständnis alle abgespreizten Finger.
Reingard quittierte den erhaltenen Befehl mit dem Nicken des Kopfes und den Worten: „Wir werden rechtzeitig eintreffen, Hunno!“
„Dann bleiben nur noch die Sippen hinter dem Maa. Leif, …“ wandte er sich an den Friesen „… sende Boten, die diese Sippen benachrichtigen. Du bleibst mit deinem Rudel hier und folgst uns nach, sollten die Sippen zu spät eintreffen.“ Gaidemar legte eine Pause ein.
„Schicken wir unsere Boten zu allen Verbündeten und fordern das Bündnis ein. Die Römer werden nicht warten, bis wir unsere Einheit hergestellt haben. Deshalb ist Eile geboten. Ermahnt die Boten aber zur Vorsicht. Es könnten römische Trupps im Gelände unterwegs sein ...“ Gaidemar musterte seine Männer.
„Wer auf Römer trifft, beobachtet! Keiner greift die Römer an! Wer die Römer angreift, wird sie warnen. Dem reiße ich eigenhändig sein Herz heraus …!“ Zuletzt wies er die übrigen Zennos an, die Boten auszuwählen und sofort zu ihm zu schicken.
Nach einigem Zögern forderte Gaidemar einige der Zennos zum Verbleiben auf. Darunter Olaf, Werner, Thilo und Gerald, den Sohn des Fischers Hagen, denen er besondere Aufträge zu erteilen beabsichtigte.
„Olaf, du gehst in Irvins Begleitung zur Sippe seiner Gefangennahme und verhandelst mit dem Eldermann. Die Marder und Otter helfen dir. Ihr nehmt keine Pferde, sondern das Prahmboot. Schickt die bisherigen Wachen am Boot zu mir.“ Olafs Zustimmung nahm er ungerührt zur Kenntnis.
„Ihr schwimmt bis vor das Dorf und sendet einen Boten dorthin. Fordert den Ältesten zur Zusammenkunft auf. Tretet ihm in gleicher Stärke, mit Entschlossenheit, gegenüber und versucht seine Zustimmung zum Bündnis zu erlangen. Seid vorsichtig, wer einmal verrät, macht es vielleicht wieder … Beobachtet alles und entfernt euch rechtzeitig, wenn Gefahr droht. Sollte sich der Älteste dem Bündnis nicht anschließen, brennt das Dorf nieder! Das ist ein Befehl! Wir brauchen keine Laus im Pelz. Habt ihr das verstanden?“
Die beiden Zennos hatten verstanden. Entschlossenheit prägte ihre Mienen. Sie spürten den Ernst der Lage.
„Wenn die Sippe zum Bündnis stößt, übergebt denen das Prahmboot. Sie sollen die Prahm in der Nähe ihres Dorfes verstecken und bewachen. Vielleicht brauchen wir das Boot noch einmal …“
Gaidemar zögerte etwas und fügte dann an: „Es könnte sein, die Sippe weiß von der Ankunft der Römer und ist denen freundlich gesinnt. Wenn der Älteste Boten zu den Römern schicken sollte, fangt sie ab und tötet sie!“
Der Hunno wartete auf Fragen, doch es gab keine.
„Geht!“ befahl er und fügte an Irvin gewandt an: „Führe alle Krieger zum Mondstein. In spätestens zehn Tagen müsst ihr dort sein! Auch für dich gilt, keine unbesonnene Tat zu begehen, sonst reiße ich dir ebenso das Herz heraus … Olaf ist euer Anführer! Nun, fort mit euch!“ Die Männer verließen den Beratungsort und Gaidemar wandte sich an die verbleibenden Zennos Gerald und Thilo.
„Eure Aufgabe ist weit wichtiger und gefährlicher. Ihr reitet zum Römerlager. Gerald ist mir verantwortlich. Wir wollen wissen, was die Römer tun. An jedem Morgen sendest du mir einen Boten …“ Gaidemar wendete sich direkt an Gerald. „… der über den vergangenen Tag berichtet. Ich will wissen, wie stark die Römer sind, wie das Lager befestigt ist, welche Feldzeichen aufgepflanzt sind, wer die Kohorten und die Gesamtkräfte befehligt, welche Außenposten sich an welchem Ort befinden und wie viele Krieger sich dort aufhalten ...“ Gaidemar wartete, bis Gerald verstanden zu haben schien.
„Verlassen Gruppen das Römerlager, erhalte ich sofort Meldung durch einen zusätzlichen Boten! Ihr kämpft nicht! Wer sich gefangen nehmen lässt, tötet sich selbst oder ihr werdet dafür sorgen, dass er stirbt, bevor er sprechen kann! Habt ihr das verstanden?“ Der Hunno spürte Zweifel in seinen beiden Zennos.
„Die Römer können jeden noch so Schweigsamen zum Sprechen zwingen, deshalb ist der Tod eines gefangenen Gefährten unabänderlich! Die Römer dürfen in keinem Fall von uns und unseren Vorbereitungen Kenntnis erlangen ... Nehmt ausreichend Pferde, Verpflegung und Futter mit ...“ Der Hunno zögerte etwas. Er überdachte seine gegebene Weisung und prüfte, ob er eine Absicht oder einen Befehl übersehen hatte.
„Wir sind noch längstens zwei Tage hier am Ort. Deshalb findet uns euer erster Bote noch hier. Ihr reitet sofort und beginnt morgen mit Aufgang Sunnas die Beobachtung. Dein erster Bote wird also Morgen, zum Ende des Tages, wieder bei mir sein und am nächsten Morgen zu dir zurück reiten. Der zurückkommende Bote wird wissen, wo er mich am Folgetag treffen kann!“
„Was ist, wenn das Lager schon verlassen ist?“ fragte Gerald zurück.
„Das werden die Römer nicht tun. Sie werden immer mindestens eine der Kohorten im Lager lassen … Deshalb müsst ihr feststellen, ob bei eurer Ankunft schon Legionäre ausgerückt sind!“
Gaidemar wusste, dass dieses Ausspähen der Feinde das größte Risiko barg. Deshalb bestimmte er Gerald zum Anführer. Er ging davon aus, dass sich Thilo dem Älteren unterordnen und dessen Befehle befolgen würde.
Der Hunno teilte seine gesamte Gefolgschaft auf und sandte deren Kräfte zur Durchführung verschiedenster Aufgaben aus. Bei ihm blieben nur noch sein Berater, der Bataver Gandulf, die drei Weiber, die Chatten und die sechs Jungmänner des Ochsenrudels, für die er noch keinen Zenno zu benennen vermochte.
Sich nach einem seiner Schatten umwendend und nur Hella erblickend, beauftragte er diese: „Hella, suche Leif und bring ihn noch einmal zu mir!“ Die junge Frau stürzte davon und kehrte kurz darauf mit dem gewünschten Zenno zurück.
Inzwischen wandte Gaidemar sich erneut den zurückgebliebenen Zennos zu. „Es gibt bei den Römern eine Lagerordnung, an der ihr sehen könnt, ob alle Kohorten noch im Lager weilen. Ein erstes sicheres Zeichen ist das Fehlen eines Feldzeichens. Sind Römer einer Kohorte ausgerückt, fehlt eines von wahrscheinlich vier Feldzeichen ...“ Er wartete, bis seine Zennos ihr Verstehen mit Nicken bekundeten.
„Die Römer haben im Lager eine feste Ordnung, in jedem Teil befindet sich eine Kohorte, die Römer vermischen nicht … Bewegt sich in einem Teil des Lagers kein Krieger, könnt ihr davon ausgehen, dass diese Kohorte ausgerückt ist. Sucht deren Spuren, folgt ihr und meldet mir deren Bewegung!“
„Warum schickst du nicht Leif an meiner Stelle?“ fragte Thilo. „Er kennt sich doch besser aus …“
„Nein, der Bataver, der Friese und die Chatten bleiben bei mir! Nicht dass ich Leif nicht vertraue, aber wenn ich auf die anderen Kriegerhaufen der Sippen treffe, müssen deren Krieger wissen, dass diese Männer zu uns gehören. Unsere Kämpfer werden den für sie Fremden nur vertrauen, wenn jeder diese Männer im Angesicht kennt. Dazu muss ich ihnen den Bataver, den Friesen und die Chatten zeigen. Ihr werdet der Aufgabe gerecht werden!“ schloss der Hunno seine Erklärung.
Leif nahm Gaidemars Weisung, die Zennos in die römische Lagerordnung einzuführen, gewissenhaft wahr. Da auch Gaidemar diese Informationen brauchen konnte, hörte er aufmerksam zu und entließ die Zennos danach.
„Hella, ich brauche Sindolf!“ befahl der Anführer seinem weiblichen Schatten und kurz darauf erschien der Jungkrieger. „Wir drei reiten zum Ältesten Gottfried!“ bestimmte er.
Sindolf sah ihn überrascht an. „Ist das nicht leichtsinnig, nur wir drei? Nach dem Überfall auf das Römerlager könnte Gottfrieds Zorn noch immer anhalten?“
„Mehr Aufwand ist nicht nötig, wenn ich Vertrauen anbieten will!“ äußerte der Anführer brüsk.
In der Nähe seiner bisherigen Gespräche tauchten Krieger auf, die sich lautstark und lachend begrüßten. Es waren die von ihm geforderten Boten an alle Sippen des Bündnisses, die diese zum Mondstein führen sollten. Deren Zennos standen bei ihren Männern und so hatte Gaidemar die Möglichkeit, sich einen Überblick zu verschaffen. Keine Sippe durfte vergessen werden. Auch Jungkrieger der vom anderen Ufer des Maa stammenden Sippen erkannte er.
Der Hunno wandte sich an die versammelten Boten und erteilte ihnen deren Auftrag selbst: „Hört her und tragt meine Botschaft zu allen Ältesten! Die Römer sind zurückgekehrt! Sie planen einen Angriff auf unsere Sippen! Ich fordere alle Bündnispartner auf, ihre Krieger zu entsenden! Lasst uns gemeinsam den Römern zeigen, dass wir uns nicht vor ihnen fürchten und sie aus unserem Land werfen … Wir sammeln uns am Mondstein, im alten Buchendorf. Ich werde dort bis zum zehnten Tag von heute an auf die Krieger warten. Sagt den Ältesten, dass unser aller Leben von diesem Kampf abhängt und dass die Römer in einer Stärke von weit über zweimal Tausend Kriegern das Lager bezogen haben. Weiterhin sagt den Ältesten, dass kein Krieger auf seinem Weg die Römer angreifen darf! Wenn wir siegen wollen, brauchen wir die Überraschung und jeder frühzeitige Kampf würde die Römer warnen …“ Gaidemar schwieg, damit sich die Männer seine Botschaft einprägen konnten.
Dann fragte er: „Wer von euch kennt den Ort des alten Buchendorfes oder das Dorf der Talwassersippe am Fluss Salu und findet dorthin?“ Alle Boten bekundeten einen der Orte zu finden.
„Wer den Mondstein finden kann, kommt direkt dort hin! Wer das Dorf an der Salu kennt, führt seine Krieger dorthin! Alle anderen Sippen müssen in drei Tagen hier sein und ziehen mit uns! Es werden noch einige Wegekundige hier verbleiben, um Nachzügler zum Mondstein zu bringen. Die Zeit drängt, wer in sieben Tagen nicht hier ist, findet keine Wegekundigen mehr, beeilt euch also!“ Die Botschaft war klar und unmissverständlich. So gab es auch keine Fragen.
Nach dem die Boten sich entfernt hatten, bestiegen Gaidemar, Sindolf und Hella ihre Pferde um kurz darauf, im leichten Trab, aus dem Lager zu reiten.
Im Dorf am Steinhaus des Eldermann Gottfried eingetroffen, band der Hunno sein Pferd am Weidengeflecht der Umzäunung an und betrat, gefolgt von der jungen Frau, das Haus. Sindolf verblieb bei den Pferden.
Der Älteste, von einem Schalk gerufen, trat ihnen sofort entgegen und begrüßte den Gefolgschaftsführer: „Kommst du, um dich für den Überfall auf den Römerhof zu entschuldigen? Du hast unsere Sippe beschämt und den Frieden gebrochen …“
„Du hast ein prächtiges Haus, Eldermann!“ quittierte der Gast die unfreundliche Begrüßung.
Wider erwarten ging der Eldermann auf die Antwort ein. „Und du eine ausnehmend hübsche Begleitung, wollen wir tauschen?“ antwortete der Hausherr und musterte die junge Frau eindringlich.
Gaidemar drehte sich zu Hella um und kommentierte die Bemerkung mit: „Da magst du recht haben … Ich meinerseits würde nicht wagen, die Tochter eines Vaters, ohne dessen Einwilligung, zu tauschen …“ Gaidemar lächelte noch, als er diese Worte sprach. Sein Blick verfinsterte sich jedoch mit seiner nächsten Bemerkung.
„Was ich darüber hinaus auch nicht machen würde ist, die junge Frau gegen ihren Willen zu verschachern, egal was für mich dabei herausspringen könnte …“
Seine Worte wurden drohend, als er anfügte: „ Mit Hella ist in dieser Beziehung ohnehin nicht zu spaßen, hat sie doch einem zudringlichen Freier schon mal seine Eier an einen Baum genagelt!“
Überrascht sah der Eldermann das Mädchen an. „Da könntest du recht haben … Die Schönheit zuckt nicht mit der Wimper und ihre Augen sind eiskalt …“
„In diesem Punkt irrst du gewaltig, Eldermann.“ In Gaidemars Augen funkelte Belustigung und ein Lächeln nistete sich in dessen Mundwinkel. „Ihre Augen sind wunderschön und zumeist von viel Wärme durchdrungen. Wenn du aber in ihrem Beisein solche Angebote machst, brauchst du dich über Veränderungen im Antlitz und Härte im Blick nicht zu wundern ... Also lass es lieber…“
Gottfried, der Älteste dieser Sippe war, wie Tassilo, ein stattlicher Mann mit dunklem, kurzem Haupthaar, einem Grübchen im markanten Kinn und zwei großen braunen Augen. Er hatte kräftige Arme, breite Schultern und war nur wenig kleiner als Tassilo, also ein stattlicher Mann.
Diese Visitation auch vornehmend, musterte Hella den Eldermann. Sich mit etwas spöttischem Lächeln abwendend, drehte sie sich so zum Ältesten, dass sie diesen und die Zugangstür im Blick behielt.
Gaidemar wusste, warum er zu diesem Treffen ausgerechnet Hella als Begleitung wählte. Seine Überlegungen trafen einfach zu. Gottfried war nicht zu alt, um auf Schönheit nicht anzusprechen. Und Hella war eine ausgemachte Schönheit ….
Würde sein Herz nicht Ragna zugeneigt sein, diese Frau könnte ihn auch interessieren … Weil er glaubte, auch im Eldermann noch derartige Regungen ausmachen zu können, zog er Hellas Begleitung der von Sindolf vor.
Gottfried wandte sich seinem Gast zu: „Trotzdem stehst du in meiner Schuld. Ich gab den Römern Gastrecht. Du hast es gebrochen!“ Der Vorwurf war hart.
„Was ich nicht gebe, kann ich nicht brechen!“ Unmissverständlich klang des Hunnos Antwort.
„Dein Gastrecht wurde nicht verletzt, denn keiner deiner Krieger war am Angriff beteiligt!“
„Der Römerhof steht auf meinem Boden, ich gab das Versprechen des Schutzes!“ Auch der Eldermann war wütend.
Nach seiner Ansicht galt sein Gastrecht für den Römerhof und sollte ausreichenden Schutz gegen Jedermann beinhalten.
„Wusstest du von meinen Absichten? Wurde dir mitgeteilt, dass meine Krieger sich um den Hof verteilten?“
Der Eldermann stutzte überrascht. „Nein!“
Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: „Wir hatten keinen Grund, dir zu misstrauen. Tassilo brachte dich zu mir und dieser Freund würde mich nie hintergehen …“
„Das ehrt euch Beide! Warum denkst du, ich hätte keine Gründe für den Überfall?“ Noch immer schwelte auch Zorn im Hunno.
Beide Widersacher spürten den Zorn des Anderen und sich dieses Umstandes bewusst werdend, erkannten sie, dass keiner auch nur ein kleinstes Stück zurückweichen würde.
Gottfried musterte noch einmal die junge Frau. Diese stand noch immer, aufmerksam zuhörend, mit Blick zu ihm und zur Tür. Täuschte er sich vielleicht? War das Weib doch nicht nur dabei, um ihn freundlicher zu stimmen?
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Dieses Weib stand in Waffen ... Der Bogen auf ihrer Schulter hing griffbereit. Ein kurzer Ruck und ein Pfeil aus dem Köcher an ihrer Seite würde die Sehne spannen. Ihn im Blick haltend und die Tür beobachtend, stellte das Weib zweifellos eine, wenn auch bildhübsche Bedrohung dar. Ein Schatten glitt über sein Gesicht.
„Du denkst richtig!“ bestätigte der Hunno des Eldermanns Vermutung. „Ich wäre ein Dummkopf, würde ich mich in dieser bedauerlichen Situation allein in dein Haus wagen, ohne an einen Schutz zu denken … Hella ist schneller mit dem Bogen als deine Worte fliegen könnten … Also denke nicht daran. Keine Hilfe schützt dich vor ihrem Pfeil!“
Die gesprochenen Worte hingen wie eine dunkle Wolke im Raum. Der Eldermann, überrascht vom Besuch des Hunno, dessen schöne Begleiterin erblickend, dachte im Moment der ersten Begegnung nicht an eine Bedrohung. Wer sollte ihn innerhalb seiner Sippe bedrohen?
Doch es war geschehen und Gottfried erkannte seine ausweglose Lage, falls er dem Hunno weitere Vorwürfe zu machen gedachte. Der Gast hatte die Macht, ihn zu töten. Verletzte der Hunno damit das Gastrecht, das er ihm gab?
Das Ergebnis dieser Überlegung glättete die Sorgenfalten auf des Eldermanns Gesicht. Es geschah nicht zum ersten Mal, dass er bedroht wurde. Zu oft schon befand er sich in ausweglosen Situationen und wusste deshalb, dass ein momentaner Nachteil schnell zum Vorteil werden konnte, wenn nur geringfügige Umstände die Gegebenheiten veränderten. Also brauchte er Zeit...
Gelassenheit nahm von ihm Besitz. Mit diesem Gedanken drängte sich ein Weiterer in den Vordergrund. War der Hunno hinterlistig und falsch?
Er glaubte nicht daran. Dann wäre es nicht der Eldermann der Ochsensippe gewesen, der ihn begleitete. Tassilo war ein kluger und aufrechter Mann. Den zu täuschen war nahezu unmöglich. Was also verband den Hunno mit dem Freund und Eldermann der Nachbarsippe?
„Du … sprachst … von Gründen …“
Für Gottfried blieb die Bedrohung greifbar, wenn sie auch nicht wirklich umgesetzt wurde.
„Zuerst danke ich dir für deine Offenheit.“
Dem Hunno gelang es erneut, ihn zu verwirren. Wieso dankte er ihm? Die Verblüffung schien in seinem Gesicht lesbar zu sein.
Der Hunno schien dies zu bemerken. Ein Lächeln glitt über dessen Gesicht.
„Der römische Tribun und der Sklavenhändler kamen zu dir. Dieses Gespräch haben wir belauscht.“
Schon wieder irritierte ihn der Hunno.
„Du kamst sehr schnell zu mir, um darüber zu berichten … Das hätte eine Täuschung sein können …“ Wieder grinste der Jüngere und Gottfried fühlte sich verunsichert. Doch bevor ihn Wut erreichte, hörte er wohlwollende Worte.
„Das war für mich aber undenkbar … Tassilo sprach von dir mit Achtung. Also glaubte ich dir.“
Gottfrieds Verunsicherung stieg. Was wollte der Kerl? Trieb er ein Spiel mit ihm?
Der Eldermann begriff langsam, dass dieser Hunno durchtrieben und vorausschauend vorging. Erst überrumpelte der Hunno ihn mit der Schönheit der Begleiterin, dann drohte er mit ihrer tödlichen Wirkung, um kurz darauf mit Verwirrung und Anerkennung fortzusetzen.