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H. G. Wells

Die ersten Menschen auf dem Mond

H. G. Wells

Die ersten Menschen auf dem Mond

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Felix Paul Greve
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-19-9

null-papier.de/431

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Inhaltsverzeichnis

1 – Mr. Bed­ford lernt Mr. Ca­vor zu Lym­pne ken­nen

2 – Wie das Ca­vo­rit zum ers­ten Male ge­macht wur­de

3 – Der Bau der Sphä­re

4 – In der Sphä­re

5 – Die Fahrt zum Mond

6 – Die Lan­dung auf dem Mond

7 – Son­nen­auf­gang auf dem Mond

8 – Ein Mond­mor­gen

9 – Das Kund­schaf­tern be­ginnt

10 – Auf dem Mond ver­irr­te Men­schen

11 – Die Mond­kalb­wei­den

12 – Das Ge­sicht des Se­le­ni­ten

13 – Mr. Ca­vor stellt ein paar Ver­mu­tun­gen auf

14 – Ex­pe­ri­men­te der Mit­tei­lung

15 – Die schwind­li­ge Brücke

16 – Ge­sichts­punk­te

17 – Der Kampf in der Höh­le der Mond­schläch­ter

18 – Im Son­nen­schein

19 – Mr. Bed­ford al­lein

20 – Mr. Bed­ford im un­end­li­chen Raum

21 – Mr. Bed­ford in Litt­le­sto­ne

22 – Die er­staun­li­che Mit­tei­lung Mr. Ju­li­us Wen­di­gees

23 – Ein Aus­zug aus den sechs ers­ten von Mr. Ca­vor er­hal­te­nen Bot­schaf­ten

24 – Die Na­tur­ge­schich­te der Se­le­ni­ten

25 – Der Mond­herr­scher

26 – Die letz­te Bot­schaft, die Ca­vor zur Erde sand­te

Dan­ke

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1 – Mr. Bedford lernt Mr. Cavor zu Lympne kennen

Wie ich mich hier mit­ten im Schat­ten des Wein­laubs un­ter dem blau­en Him­mel Sü­dita­li­ens zum Schrei­ben hin­set­ze, wird es mir mit ei­ner ge­wis­sen Tö­nung der Ver­wun­de­rung klar, daß mei­ne Teil­nah­me an den er­staun­li­chen Aben­teu­ern Mr. Ca­vors im Grun­de nur die Fol­ge des reins­ten Zu­falls war. Es hät­te je­der sein kön­nen. Ich ge­riet zu ei­ner Zeit in die­se Din­ge hin­ein, als ich glaub­te, der ge­rings­ten Mög­lich­keit stö­ren­der Er­leb­nis­se ent­rückt zu sein. Ich war nach Lym­pne ge­gan­gen, weil ich den Ort für den er­eig­nis­lo­ses­ten in der gan­zen Welt ge­hal­ten hat­te. »Auf je­den Fall«, sag­te ich, »wer­de ich hier Frie­den fin­den, und eine Mög­lich­keit zu ar­bei­ten.«

Und die­ses Buch ist die Fol­ge; so ab­so­lut wi­der­strei­tet das Ge­schick all den klei­nen Plä­nen der Men­schen.

Ich kann hier viel­leicht er­wäh­nen, daß ich sehr kürz­lich einen scheuß­li­chen Rein­fall in ge­wis­sen ge­schäft­li­chen Un­ter­neh­mun­gen er­lebt hat­te. Jetzt, da ich hier sit­ze, um­ge­ben von al­len Ein­zel­hei­ten des Reich­tums, liegt ein Lu­xus dar­in, mei­ne Not zu­zu­ge­ben. Ich kann so­gar zu­ge­ben, daß mein Un­glück bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de hand­greif­lich mein ei­ge­nes Werk war. Vi­el­leicht gibt es Rich­tun­gen, in de­nen ich ei­ni­ges Ta­lent habe, aber die Lei­tung von Ge­schäfts­ope­ra­tio­nen ist nicht un­ter ih­nen. Aber in je­nen Ta­gen war ich jung, und mei­ne Ju­gend nahm un­ter an­de­ren ta­delns­wer­ten For­men die ei­nes Stol­zes auf mei­ne ge­schäft­li­chen Fä­hig­kei­ten an. Ich bin noch im­mer jung an Jah­ren, aber die Din­ge, die mir wi­der­fah­ren sind, ha­ben et­was von der Ju­gend aus mei­nem Geis­te fort­ge­trie­ben. Ob sie dar­un­ter ir­gend­wel­che Weis­heit ans Licht ge­bracht ha­ben, das ist we­ni­ger zwei­fel­los.

Es ist kaum nö­tig, im ein­zel­nen auf die Spe­ku­la­tio­nen ein­zu­ge­hen, die mich zu Lym­pne in Kent lan­de­ten. Heut­zu­ta­ge hängt selbst um Ge­schäfts­un­ter­neh­mun­gen ein star­ker Schein des Aben­teu­ers. Ich ris­kier­te et­was. In die­sen Din­gen han­delt es sich un­wei­ger­lich um eine ge­wis­se Men­ge von Ge­ben und Neh­men, und schließ­lich fiel mir das Ge­ben zu. Ich tat es wi­der­stre­bend ge­nug. Selbst als ich aus al­lem her­aus war, hielt es ein wi­der­haa­ri­ger Gläu­bi­ger für an­ge­bracht, bös­wil­lig zu sein. Vi­el­leicht ist Ih­nen ein­mal je­nes flam­men­de Ge­fühl ver­letz­ter Tu­gend be­geg­net, oder viel­leicht ha­ben Sie es nur ge­fühlt. Er jag­te mich scharf. Mir schi­en zu­letzt, mir blieb nichts wei­ter üb­rig, als ein Dra­ma zu schrei­ben, wenn ich mich nicht als Hand­lungs­ge­hil­fe um mei­nen Le­bens­un­ter­halt pla­gen woll­te. Ich habe eine ge­wis­se Phan­ta­sie und lu­xu­ri­öse An­la­gen, und ich ge­dach­te, kräf­tig dar­um zu kämp­fen, ehe mich je­nes Schick­sal faß­te. Au­ßer mei­nem Glau­ben an mei­ne Ta­len­te als Ge­schäfts­mann hat­te ich in je­nen Ta­gen stets die Vor­stel­lung ge­habt, ich sei im­stan­de, ein sehr gu­tes Dra­ma zu schrei­ben. Ich glau­be, die­se Über­zeu­gung ist nicht sehr un­ge­wöhn­lich. Ich wuß­te, au­ßer le­gi­ti­men Ge­schäftss­pe­ku­la­tio­nen hat nichts so üp­pi­ge Mög­lich­kei­ten, und sehr wahr­schein­lich be­ein­fluß­te das mei­ne Mei­nung.

Ich ent­deck­te bald, daß ein Dra­ma zu schrei­ben, län­ge­re Zeit in An­spruch nahm, als ich vor­aus­ge­setzt hat­te; erst hat­te ich zehn Tage dar­auf ge­rech­net, und ich kam nach Lym­pne, um ein pied-à-ter­re1 zu ha­ben, so­lan­ge es in Ar­beit war. Ich schätz­te mich glück­lich, daß ich das klei­ne Som­mer­haus be­kam. Ich be­kam es auf drei­jäh­ri­gen Kon­trakt. Ich setz­te ein paar Stück Mö­bel hin­ein, und so­lan­ge das Dra­ma in Ar­beit war, be­sorg­te ich mein Ko­chen sel­ber. Mein Ko­chen hät­te Mrs. Bond ent­setzt. Und doch, wis­sen Sie, es hat­te Wür­ze. Ich hat­te einen Kaf­fee­topf, einen Blech­ko­cher für Eier und einen für Kar­tof­feln und eine Brat­pfan­ne für Wurst und Speck – das war der ein­fa­che Ap­pa­rat mei­ner Ge­müt­lich­keit. Man kann nicht im­mer groß­ar­tig sein, aber die Ein­fach­heit ist eine stets mög­li­che Al­ter­na­ti­ve. Im üb­ri­gen hat­te ich auf Kre­dit ein Acht­zehn-Gal­lo­nen-Faß Bier ein­ge­nom­men, und ein ver­trau­ens­vol­ler Bä­cker kam je­den Tag. Es war viel­leicht nicht im Stil von Sy­ba­ris, aber ich habe schlim­me­re Zei­ten er­lebt. Der Bä­cker tat mir ein we­nig leid, denn er war wirk­lich ein sehr an­stän­di­ger Mann, aber selbst für ihn hoff­te ich.

Wenn je­mand Ein­sam­keit sucht, so ist si­cher­lich Lym­pne der Ort. Es liegt im Lehm­teil von Kent, und mein Häu­schen stand auf dem Ran­de ei­ner al­ten Mee­res­klip­pe und blick­te über die Mar­sche­be­ne von Rom­ney aufs Meer hin­aus. Bei sehr nas­sem Wet­ter ist der Ort fast un­zu­gäng­lich, und ich habe ge­hört, der Post­bo­te gehe zu­zei­ten die saf­ti­ge­ren Tei­le sei­ner Stra­ße mit Bret­tern an den Fü­ßen. Ich habe es nie ge­se­hen, aber ich kann es mir ganz gut vor­stel­len. Vor den Tü­ren der we­ni­gen Hüt­ten und Häu­ser, die das ge­gen­wär­ti­ge Dorf aus­ma­chen, ste­cken große Bir­ken­be­sen, mit de­nen man den schlimms­ten Lehm ab­fegt, was eine un­ge­fäh­re Vor­stel­lung von der Be­schaf­fen­heit des Distrikts ge­ben wird. Ich zweifle, ob der Ort über­haupt vor­han­den sein wür­de, wenn er nicht eine ver­blas­sen­de Erin­ne­rung an auf ewig ver­gan­ge­ne Din­ge wäre. Er war zu rö­mi­schen Zei­ten der große Ha­fen Eng­lands, Por­tus Le­ma­nus, und jetzt ist das Meer vier Mei­len ent­fernt. Den gan­zen stei­len Hü­gel hin­un­ter fin­det man Ge­röll und Mas­sen rö­mi­scher Zie­gel, und von ihm aus springt die alte Wat­ling Street, stel­len­wei­se noch ge­pflas­tert, wie ein Pfeil nach Nor­den. Ich stand oft auf dem Hü­gel und dach­te an all das, die Ga­lee­ren und Le­gio­nen, die Ge­fan­ge­nen und Of­fi­zie­re, die Spe­ku­lan­ten wie mich, den gan­zen Schwarm und Tu­mult, der im Ha­fen ein und aus ras­sel­te. Und jetzt ge­ra­de noch ein paar Hau­fen Ge­röll auf ei­nem Gras­hang, ein oder zwei Scha­fe – und ich! Und wo der Ha­fen ge­we­sen war, la­gen die Marsch­flä­chen, die sich rings in wei­ter Kur­ve bis zum fer­nen Dun­ge­neß her­um­schwan­gen und hier und dort mit drei Bäu­men und dem Kirch­turm mit­tel­al­ter­li­cher Städ­te ge­spren­kelt wa­ren, die jetzt Le­ma­nus in das Ver­lö­schen folg­ten.

Je­ner Aus­blick auf die Marsch war denn auch eine der schöns­ten Aus­sich­ten, die ich je ge­se­hen habe. Ich glau­be, Dun­ge­neß war fünf­zehn Mei­len ent­fernt; es lag wie ein Floß auf dem Mee­re, und wei­ter nach Wes­ten hin la­gen die Hü­gel von Has­tings un­ter der un­ter­ge­hen­den Son­ne. Bis­wei­len hin­gen sie nah und klar, bis­wei­len schie­nen sie blaß und nied­rig, und oft ver­barg der Zug des Wet­ters sie dem Auge ganz. Und all die nä­he­ren Tei­le der Marsch wa­ren von Grä­ben und Kanä­len durch­zo­gen und er­hellt.

Das Fens­ter, an dem ich ar­bei­te­te, über­blick­te den Ho­ri­zont die­ses Kam­mes, und von die­sem Fens­ter aus kam mir Ca­vor zu­erst vor die Au­gen. Ich rang ge­ra­de mit mei­nem Sze­na­ri­um und hielt mei­nen Geist an die blo­ße, har­te Ar­beit dar­an nie­der­ge­drückt, und na­tür­lich ge­nug stör­te er mei­ne Auf­merk­sam­keit.

Die Son­ne war un­ter­ge­gan­gen, der Him­mel war eine leb­haf­te Ruhe von Grüns und Gelbs, und ge­gen ihn tauch­te er schwarz auf – die son­der­bars­te klei­ne Ge­stalt.

Er war ein kur­z­er, rund­lei­bi­ger, dünn­bei­ni­ger klei­ner Mann mit et­was Ruck­wei­sem in sei­nen Be­we­gun­gen; er hat­te es für an­ge­bracht ge­hal­ten, sei­ne au­ßer­or­dent­li­che See­le in eine Kricket­müt­ze, einen Über­rock und Rad­fahr­ho­se und -St­rümp­fe zu klei­den. Wa­rum er das tat, weiß ich nicht, denn er fuhr nie Rad und spiel­te nie Kricket. Es war ein zu­fäl­li­ges Zu­sam­men­tref­fen von Klei­dungs­stücken, das sich, ich weiß nicht wie, er­ge­ben hat­te. Er ges­ti­ku­lier­te mit den Hän­den und Ar­men, warf sei­nen Kopf um­her und summ­te. Er summ­te wie et­was Elek­tri­sches. Nie hat man so ein Sum­men ge­hört. Und von Zeit zu Zeit räus­per­te er sich mit ganz au­ßer­or­dent­li­chem Lärm.

Es war Re­gen ge­fal­len, und je­nes, sein krampf­haf­tes Ge­hen, wur­de noch durch die äu­ßers­te Schlüpf­rig­keit des Fuß­pfads ver­stärkt. Genau, als er vor die Rich­tung der Son­ne kam, mach­te er Halt, zog eine Uhr her­aus, zö­ger­te. Dann mach­te er mit ei­ner Art krampf­haf­ter Ges­te kehrt und zog sich mit je­dem Zei­chen der Eile zu­rück; er ges­ti­ku­lier­te nicht mehr, son­dern ging mit wei­ten Schrit­ten, die das re­la­tiv große For­mat sei­ner Füße – sie wur­den, wie ich mich er­in­ne­re, im For­mat durch an­haf­ten­den Lehm gro­tesk über­trie­ben – so vor­teil­haft wie nur mög­lich zeig­ten.

Dies ge­sch­ah am ers­ten Tage mei­nes Auf­ent­halts, als mei­ne Dra­men­schrei­be-Ener­gie auf ih­rer Höhe stand, und ich be­trach­te­te den Zwi­schen­fall nur als eine är­ger­li­che Ablen­kung – die Ver­schwen­dung von fünf Mi­nu­ten. Ich kehr­te zu mei­nem Sze­na­ri­um zu­rück. Aber als sich die Er­schei­nung am Abend dar­auf mit merk­wür­di­ger Prä­zi­si­on wie­der­hol­te, und so­gar je­den Abend, wenn kein Re­gen fiel, wur­de die Kon­zen­tra­ti­on und das Sze­na­ri­um zu ei­ner be­trächt­li­chen An­stren­gung. »Zum Hen­ker mit dem Kerl«, sag­te ich, »man könn­te mei­nen, er wol­le Ma­rio­net­ten­spie­len ler­nen!« und meh­re­re Aben­de lang ver­fluch­te ich ihn aus gan­zem Her­zen.

Dann wich mein Är­ger dem Stau­nen und der Neu­gier. Wa­rum auf al­ler Welt konn­te ich es nicht mehr aus­hal­ten, und so­bald er er­schi­en, öff­ne­te ich das fran­zö­si­sche Fens­ter, ging über die Ve­ran­da und nahm die Rich­tung auf den Punkt zu, wo er un­ab­än­der­lich Halt mach­te.

Er hat­te die Uhr ge­zo­gen, als ich ihn er­reich­te. Er hat­te ein run­des, ro­tes Ge­sicht mit röt­lich­brau­nen Au­gen – bis­her hat­te ich ihn nur erst ge­gen das Licht ge­se­hen. »Ei­nen Mo­ment, Herr«, sag­te ich, als er kehrt mach­te.

Er starr­te. »Ei­nen Mo­ment«, sag­te er, »si­cher­lich. Oder wenn Sie län­ger mit mir zu re­den wün­schen und es nicht zu viel ver­langt ist – Ihr Mo­ment ist vor­bei – wäre es Ih­nen zu viel Mühe, wenn Sie mich be­glei­te­ten?«

»Nicht im ge­rings­ten«, sag­te ich, in­dem ich mich ne­ben ihn be­gab.

»Mei­ne Ge­wohn­hei­ten sind re­gel­mä­ßig. Mei­ne Zeit für den Ver­kehr – be­grenzt.«

»Dies, neh­me ich an, ist Ihre Zeit für die Be­we­gung?«

»Ganz recht. Ich kom­me hier­her, um den Son­nen­un­ter­gang zu ge­nie­ßen.«

»Das ist nicht wahr.«

»Herr?«

»Sie se­hen ihn nie an.«

»Sehe ihn nie an?«

»Nein. Ich habe Sie drei­zehn Aben­de be­ob­ach­tet, und Sie ha­ben kein ein­zi­ges Mal nach dem Son­nen­un­ter­gang ge­blickt – kein ein­zi­ges Mal.«

Er run­zel­te die Stirn, wie ei­ner, der auf ein Pro­blem stößt.

»Nun, ich ge­nie­ße das Son­nen­licht – die At­mo­sphä­re – ich gehe die­sen Pfad ent­lang, durch die Pfor­te da« – er ruck­te mit dem Kopf über die Schul­ter – »und her­um – –«

»Das ist nicht wahr. Das ha­ben Sie nie ge­tan. Das ist al­les Un­sinn. Es gibt da gar kei­nen Weg. Heut abend, zum Bei­spiel – –«

»O! Heut abend! Las­sen Sie se­hen; Ah! ich blick­te ge­ra­de auf mei­ne Uhr, sah, daß ich schon drei Mi­nu­ten über die prä­zi­se hal­be Stun­de aus­ge­we­sen war, ent­schied, ich hät­te kei­ne Zeit mehr, her­um­zu­gehn, mach­te kehrt –«

»Das tun Sie im­mer.«

Er sah mich an und dach­te nach. »Vi­el­leicht ja, jetzt, wo ich drü­ber nach­den­ke. Aber wor­über woll­ten Sie mit mir re­den?«

»Nun, dar­über!«

»Dar­über?«

»Ja. Wa­rum tun Sie das? Je­den Abend kom­men Sie und ma­chen ein Geräusch – –«

»So« – ich ahm­te sein sum­men­des Geräusch nach.

Er sah mich an, und es war klar, das Sum­men er­weck­te Wi­der­wil­len. »Das tue ich?«, frag­te er.

»Je­den lie­ben Abend.«

»Ich hat­te kei­ne Ah­nung.«

Er blieb ste­hen. Er sah mich ernst an. »Ist es mög­lich«, sag­te er, »daß ich eine An­ge­wohn­heit an­ge­nom­men habe?«

»Nun, es sieht so aus. Nicht wahr?«

Er zog zwi­schen Fin­ger und Dau­men die Un­ter­lip­pe her­ab. Er blick­te eine Pfüt­ze zu sei­nen Fü­ßen an.

»Mein Geist ist sehr be­schäf­tigt«, sag­te er. »Und Sie wol­len wis­sen, warum! Ja, Herr, ich kann Sie ver­si­chern, daß ich nicht nur nicht weiß, warum ich die­se Din­ge tue, son­dern ich wuß­te nicht ein­mal, daß ich sie tat. Wenn ich nach­den­ke, es ist ge­nau, wie Sie sa­gen; ich bin nie über das Feld hin­aus­ge­gan­gen … Und die­se Din­ge be­läs­ti­gen Sie?«

Aus ir­gend­ei­nem Grun­de be­gann ich ver­söhn­li­cher ge­gen ihn zu wer­den. »Be­läs­ti­gen nicht«, sag­te ich. »Aber – stel­len Sie sich vor, Sie schrie­ben ein Dra­ma!«

»Könn­te ich nicht.«

»Nun, ir­gend et­was, wozu Kon­zen­tra­ti­on nö­tig ist.«

»Ah!«, sag­te er, »na­tür­lich«, und er dach­te nach. Sein Aus­druck sprach so be­redt von Kum­mer, daß ich noch ver­söhn­li­cher wur­de. Schließ­lich ist es ein we­nig ag­gres­siv, wenn man ei­nem Men­schen sagt, man wis­se nicht, warum er auf ei­nem öf­fent­li­chen Fuß­weg summt.

»Sie sehn«, sag­te er schwach, »es ist eine An­ge­wöh­nung.«

»O, das sehe ich ein.«

»Ich muß sie ein­stel­len.«

»Nicht, wenn es Sie stört. Schließ­lich hat­te ich kein Recht – ich habe mir so et­was wie eine Frei­heit her­aus­ge­nom­men.«

»Durchaus nicht«, sag­te er, »durch­aus nicht. Ich bin Ih­nen sehr ver­bun­den. Ich soll­te mich vor sol­chen Din­gen hü­ten. Ich wer­de es in Zu­kunft. Könn­te ich Sie noch ein­mal be­mü­hen? – Dies Geräusch?«

»Etwa so«, sag­te ich: »Su­suhh, Su­suhh. Aber wirk­lich, wis­sen Sie – –«

»Ich bin Ih­nen sehr ver­bun­den. Ich weiß auch, ich wer­de ab­surd geis­tes­ab­we­send. Sie ha­ben ganz recht – voll­stän­dig recht. Wahr­haf­tig, ich bin in Ih­rer Schuld. Die Sa­che soll auf­hö­ren. Und jetzt, Herr, ich habe Sie schon wei­ter mit­ge­nom­men, als ich hät­te tun sol­len.«

»Ich hof­fe, mei­ne Im­per­ti­nenz – –«

»Durchaus nicht, Herr, durch­aus nicht.«

Wir blick­ten ein­an­der einen Au­gen­blick an. Ich hob den Hut und wünsch­te ihm einen gu­ten Abend. Er er­wi­der­te krampf­haft, und so gin­gen wir un­se­rer Wege.

Am Zaun­tritt blick­te ich auf sei­ne ver­schwin­den­de Ge­stalt zu­rück. Sein Ge­ba­ren war merk­wür­dig ver­än­dert, er schi­en lahm, zu­sam­men­ge­schrumpft. Der Kon­trast mit sei­nem ehe­ma­li­gen ges­ti­ku­lie­ren­den, sum­men­den Selbst er­griff mich ab­sur­der­wei­se als pa­the­tisch. Ich be­ob­ach­te­te ihn, bis er nicht mehr zu se­hen war. Dann kehr­te ich mit dem herz­li­chen Wunsch, ich hät­te mich an mei­ne ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten ge­hal­ten, in mein Som­mer­haus und zu mei­nem Dra­ma zu­rück.

Am nächs­ten Abend sah ich ihn nicht. Aber er lag mir sehr im Sinn, und mir war ein­ge­fal­len, er kön­ne in der Ent­wick­lung mei­nes Dra­mas als ein sen­ti­men­tal ko­mi­scher Cha­rak­ter ei­nem nütz­li­chen Zwe­cke die­nen. Am drit­ten Tage mach­te er mir einen Be­such.

Eine Zeit­lang plag­te mich der Ge­dan­ke, was ihn wohl her­ge­führt habe. Er mach­te aufs for­mells­te gleich­gil­ti­ge Kon­ver­sa­ti­on; dann kam er un­ver­mit­telt aufs Ge­schäft. Er woll­te mich aus mei­nem Haus her­aus­kau­fen.

»Sie sehn«, sag­te er, »ich ta­de­le Sie nicht im ge­rings­ten, aber Sie ha­ben eine Ge­wohn­heit zer­stört, und das des­or­ga­ni­siert mir mei­nen Tag. Ich bin hier jah­re­lang ge­gan­gen – Jah­re. Ohne Zwei­fel habe ich ge­summt … All das ha­ben Sie un­mög­lich ge­macht!«

Ich schlug vor, er sol­le es mit ei­ner an­de­ren Rich­tung ver­su­chen.

»Nein. Es gibt kei­ne an­de­re Rich­tung. Dies ist die ein­zi­ge. Ich habe mich er­kun­digt. Und jetzt – je­den Nach­mit­tag um vier – da komm ich an eine blin­de Mau­er.«

»Aber, mein lie­ber Herr, wenn die Sa­che für Sie von sol­cher Be­deu­tung ist – –«

»Es ist eine Le­bens­fra­ge. Sie sehn, ich bin – ich bin ein For­scher – ich bin mit ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Un­ter­su­chung be­schäf­tigt. Ich woh­ne – –« er hielt inne und schi­en zu den­ken. »Da drü­ben«, sag­te er und zeig­te plötz­lich in ge­fähr­li­che Nähe mei­nes Au­ges. »Das Haus mit den wei­ßen Schorn­stei­nen, die Sie da ge­ra­de über den Bäu­men se­hen. Und mei­ne Ver­hält­nis­se sind anor­mal – anor­mal. Ich ste­he im Be­griff, eins der al­ler­wich­tigs­ten Ex­pe­ri­men­te zu vollen­den – ich kann sie ver­si­chern, eins der al­ler­wich­tigs­ten Ex­pe­ri­men­te, die je ge­macht sind. Das er­for­dert be­stän­di­ges Den­ken, be­stän­di­ge geis­ti­ge Frei­heit und Ak­ti­vi­tät. Und der Nach­mit­tag war mei­ne glän­zends­te Zeit! – gä­rend von neu­en Ge­dan­ken – neu­en Ge­sichts­punk­ten.«

»Aber warum nicht wei­ter dort vor­bei­gehn?«

»Al­les wäre an­ders. Ich wäre be­wußt. Ich wür­de an Sie bei Ihrem Dra­ma den­ken – wie Sie mich ge­reizt be­ob­ach­ten – statt an mei­ne Ar­beit zu den­ken. Nein! ich muß das Haus ha­ben.«

Ich über­leg­te. Na­tür­lich woll­te ich die Sa­che gründ­lich durch­den­ken, ehe et­was Ent­schei­den­des ge­sagt wur­de. Ich war im all­ge­mei­nen in je­nen Ta­gen zu Ge­schäf­ten be­reit ge­nug, und Ver­kau­fen hat­te mich im­mer an­ge­zo­gen; aber ers­tens war es nicht mein Haus, und selbst wenn ich es ihm zu ei­nem gu­ten Prei­se ver­kauf­te, konn­te ich in der Über­ga­be der Gü­ter Unan­nehm­lich­kei­ten ha­ben, wenn der lau­fen­de Be­sit­zer von dem Ge­schäft Wind be­kam, und zwei­tens war ich, nun – nicht schul­den­frei. Es war ent­schie­den ein Ge­schäft, das vor­sich­ti­ges Ver­fah­ren er­for­der­te. Oben­drein in­ter­es­sier­te mich auch die Mög­lich­keit, daß er auf der Spur ei­ner wert­vol­len Er­fin­dung war. Mir kam der Ge­dan­ke, daß ich gern mehr von sei­ner Un­ter­su­chung wüß­te, ohne jede un­ehr­li­che Ab­sicht, ein­fach mit dem Ge­dan­ken, zu er­fah­ren, was es war, wür­de eine Ablen­kung vom Dra­men­schrei­ben sein. Ich streck­te Fühl­hör­ner aus.

Er war ganz be­reit, Aus­kunft zu ge­ben. Ja, als er ein­mal recht im Gan­ge war, wur­de die Un­ter­hal­tung zum Mo­no­log. Er re­de­te wie ein lan­ge ein­ge­sperr­ter Mensch, der es wie­der und wie­der bei sich durch­ge­gan­gen ist. Er re­de­te fast eine Stun­de lang, und ich muß ge­ste­hen, ich fand es ein ziem­lich star­kes Stück, zu­zu­hö­ren. Aber durch al­les lief der Un­ter­ton der Be­frie­di­gung hin­durch, die man fühlt, wenn man eine Ar­beit ver­säumt, die man sich ge­setzt hat. Wäh­rend je­ner ers­ten Un­ter­re­dung wur­de mir sehr we­nig da­von klar, wor­auf sei­ne Ar­beit hin­aus­lief. Die Hälf­te sei­ner Wor­te wa­ren tech­ni­sche Aus­drücke, die mir völ­lig fremd wa­ren, und er il­lus­trier­te ein oder zwei Punk­te mit dem, was ihm ele­men­ta­re Ma­the­ma­tik zu nen­nen be­lieb­te, in­dem er mit ei­nem Ko­piert­in­ten­stift auf ei­nem Ku­vert in ei­ner Wei­se Be­rech­nun­gen an­stell­te, die es schwer mach­ten, auch nur den An­schein zu er­we­cken, als ver­ste­he man. »Ja«, sag­te ich, »ja. Nur wei­ter!« Trotz­dem wur­de mir ge­nug klar, um mich zu über­zeu­gen, daß er kein blo­ßer Schwach­kopf war, der Ent­de­ckun­gen spiel­te. Trotz sei­ner schwach­kopf­ar­ti­gen Er­schei­nung zeig­te er eine Kraft, die das un­mög­lich mach­te. Was es auch war, es war et­was von me­cha­ni­schen Mög­lich­kei­ten. Er er­zähl­te mir von ei­nem Werk­schup­pen, den er habe, und von drei Ge­hil­fen – ur­sprüng­lich in Ak­kord ar­bei­ten­den Zim­mer­leu­ten – die er ab­ge­rich­tet hat­te. Nun ist vom Werk­schup­pen bis zum Pa­tent­amt klär­lich nur ein Schritt. Er lud mich ein, mir die Sa­chen an­zu­se­hen. Ich nahm be­reit­wil­ligst an und sorg­te da­für, daß ich das – durch eine Be­mer­kung oder so – un­ter­strich. Der vor­ge­schla­ge­ne Ver­kauf des Som­mer­häus­chens blieb sehr an­ge­neh­mer­wei­se noch in der Schwe­be.

Schließ­lich stand er auf, um zu ge­hen, und ent­schul­dig­te sich we­gen der Län­ge sei­nes Be­suchs. Über sei­ne Ar­beit zu re­den, sag­te er, war ein Ver­gnü­gen, das er nur zu sel­ten ge­noß. Nicht oft fin­de er einen so in­tel­li­gen­ten Zu­hö­rer wie mich; er ver­keh­re sehr we­nig mit be­rufs­mä­ßi­gen Wis­sen­schaf­ten.

»So­viel Klei­nig­kei­ten«, er­klär­te er, »so­viel Int­rigue! Und wahr­haf­tig, wenn man eine Idee hat – eine neue, be­fruch­ten­de Idee – Ich will nicht un­barm­her­zig sein, aber – –«

Ich bin ein Mann, der an Im­pul­se glaubt. Ich mach­te einen Vor­schlag, der viel­leicht über­eilt war. Aber man muß be­den­ken, daß ich vier­zehn Tage lang in Lym­pne al­lein ge­we­sen war und an ei­nem Dra­ma ge­schrie­ben hat­te, und mein Ge­wis­sens­biß we­gen sei­nes ver­nich­te­ten Spa­zier­gangs ließ mir noch kei­ne Ruhe.

»Wa­rum nicht«, sag­te ich, »dies zu Ih­rer neu­en Ge­wohn­heit ma­chen? Statt der, die ich ver­dor­ben habe? We­nigs­tens, bis wir we­gen des Hau­ses ins rei­ne kom­men kön­nen. Was Sie nö­tig ha­ben, ist, daß Sie Ihre Ar­beit im Geist über­le­gen. Das ha­ben Sie im­mer auf Ihrem Nach­mit­tags­spa­zier­gang ge­tan. Das ist lei­der vor­bei – Sie kön­nen die Din­ge nicht wie­der ma­chen, wie sie wa­ren. Aber warum nicht her­kom­men und mir von Ih­rer Ar­beit er­zäh­len: mich als eine Art Wand be­nut­zen, ge­gen die Sie Ihre Ge­dan­ken wer­fen, um sie wie­der auf­zu­fan­gen? Ge­wiß ist, daß ich nicht ge­nug weiß, um Ihre Ide­en sel­ber zu steh­len – und ich ken­ne kei­ne Wis­sen­schaf­ter – –«

Ich hielt inne. Er über­leg­te. Of­fen­bar zog ihn die Sa­che an. »Aber ich fürch­te, die Sa­che wür­de Sie lang­wei­len«, sag­te er.

»Sie mei­nen, ich bin zu dumm?«

»O, nein; aber tech­ni­sche Din­ge – –«

»Ei­ner­lei, Sie ha­ben mich heu­te nach­mit­tag un­ge­heu­er in­ter­es­siert.«

»Na­tür­lich wä­re es für mich eine große Hil­fe. Nichts klärt ei­nem sel­ber die Ide­en so sehr auf, wie, wenn man sie aus­ein­an­der­setzt. Bis­her – –«

»Mein lie­ber Herr, sa­gen Sie nichts mehr.«

»Aber wahr­haf­tig, ha­ben Sie die Zeit über?«

»Es gibt kein Aus­ru­hen, das ei­nem Wech­sel der Be­schäf­ti­gung gleich­kommt«, sag­te ich mit tiefer Über­zeu­gung.

Die Sa­che war vor­über. Auf mei­nen Ve­ran­da­stu­fen dreh­te er sich um. »Ich bin schon sehr in Ih­rer Schuld«, sag­te er.

Ich räus­per­te mich fra­gend.

»Sie ha­ben mich völ­lig von die­ser lä­cher­li­chen An­ge­wöh­nung zu sum­men be­freit«, er­klär­te er.

Ich glau­be, ich sag­te, ich freue mich, ihm ir­gend­wie von Nut­zen zu sein, und er wand­te sich fort.

So­fort muß der Ge­dan­ken­gang, den un­se­re Un­ter­hal­tung an­ge­regt hat­te, sei­ne Herr­schaft wie­der auf­ge­nom­men ha­ben. Sei­ne Arme be­gan­nen auf die frü­he­re Art zu schlen­kern. Auf der Bri­se kam das schwa­che Echo des »Su­suhh« zu mir zu­rück …

Nun, schließ­lich war das nicht mei­ne Sa­che …

Er kam am nächs­ten Tage und den Tag dar­auf wie­der und hielt zwei Vor­trä­ge über die Phy­sik zu un­se­rer ge­gen­sei­ti­gen Be­frie­di­gung. Er re­de­te mit ei­ner Mie­ne, als sei er au­ßer­or­dent­lich klar, über den »Äther«, über »Kraft­tu­ben«, über »Gra­vi­ta­ti­ons­po­ten­zen« und ähn­li­che Din­ge, und ich saß in mei­nem zwei­ten Klapp­stuhl und sag­te: »Ja«, »Nur wei­ter«, »Ich ver­ste­he«, um ihn in Gang zu hal­ten. Es war schau­er­lich schwie­ri­ges Zeug, aber ich glau­be nicht, daß er je ahn­te, wie­viel da­von ich nicht ver­stand. Es gab Mo­men­te, in de­nen ich zwei­fel­te, ob ich rich­tig be­schäf­tigt sei, aber auf je­den Fall ruh­te ich von dem ver­damm­ten Dra­ma aus. Hin und wie­der glänz­ten mir die Din­ge eine Zeit­lang klar auf, aber nur, um zu ver­schwin­den, wenn ich ge­ra­de mein­te, ich habe sie nur zu fas­sen. Bis­wei­len ver­sag­te mei­ne Auf­merk­sam­keit voll­stän­dig, und ich gab es auf und saß und starr­te ihn an und frag­te mich, ob es nicht schließ­lich viel­leicht doch bes­ser sei, ihn in ei­ner gu­ten Far­ce als Zen­tral­fi­gur zu be­nut­zen und all das an­de­re Zeug fah­ren zu las­sen. Und dann be­griff ich viel­leicht wie­der eine Stre­cke weit.

Bei der ers­ten Ge­le­gen­heit ging ich, mir sein Haus an­zu­se­hen. Es war groß und ohne Sorg­falt mö­bliert; Dienst­bo­ten wa­ren au­ßer sei­nen drei Ge­hil­fen kei­ne vor­han­den, und sei­ne Diät war wie sein Pri­vat­le­ben durch eine phi­lo­so­phi­sche Ein­fach­heit ge­kenn­zeich­net. Er war Was­ser­trin­ker, Ve­ge­ta­ri­er und all die­se lo­gi­schen und sys­te­ma­ti­schen Din­ge. Aber der An­blick sei­ner Ein­rich­tung be­sei­tig­te vie­le Zwei­fel. Es sah vom Kel­ler bis zur Dach­stu­be nach Ge­schäft aus – ein er­staun­li­ches Nest in ei­nem ab­ge­le­ge­nen Dor­fe. Die Par­ter­re­zim­mer ent­hiel­ten Ar­beit­s­ti­sche und Werk­zeu­ge, das Back­haus und die Wasch­kü­che hat­ten sich zu an­sehn­li­chen Schmel­zö­fen ent­wi­ckelt, im Kel­ler stan­den Dy­na­mos, und im Gar­ten sah ich einen Ga­so­me­ter. Er zeig­te mir al­les mit dem ver­trau­ens­se­li­gen Wohl­be­ha­gen ei­nes Man­nes, der zu­viel al­lein ge­lebt hat. Sei­ne Ab­ge­schlos­sen­heit floß jetzt in ei­nem Über­maß des Ver­trau­ens über, und ich hat­te das Glück, das Ge­fäß für sie zu sein.

Die drei Ge­hil­fen wa­ren un­rühm­li­che Bei­spie­le der Klas­se von Hand­wer­kern, aus der sie stamm­ten. Ge­wis­sen­haft, wenn auch un­in­tel­li­gent, stark, höf­lich und wil­lig. Der eine, Spar­gus, der das Ko­chen und alle Me­tall­ar­beit be­sorg­te, war See­mann ge­we­sen; ein zwei­ter, Gibbs, war Schrei­ner; und der drit­te war ein ehe­ma­li­ger Ak­kord­gärt­ner, jetzt all­ge­mei­ner Ge­hil­fe. Sie wa­ren blo­ße Ar­bei­ter. Alle Ar­beit des In­tel­lekts tat Ca­vor. Selbst im Ver­gleich mit mei­nem wir­ren Ein­druck wa­ren sie von fins­te­rer Un­wis­sen­heit.

Und jetzt, was die Na­tur der Un­ter­su­chun­gen an­geht. Hier kommt lei­der eine erns­te Schwie­rig­keit. Ich bin kein wis­sen­schaft­li­cher Sach­ver­stän­di­ger, und woll­te ich ver­su­chen, das Ziel, auf das sei­ne Ex­pe­ri­men­te hin­aus­woll­ten, in Mr. Ca­vors hoch­wis­sen­schaft­li­cher Spra­che aus­ein­an­der­zu­set­zen, ich fürch­te, so wür­de ich nicht nur den Le­ser ver­wir­ren, son­dern auch mich, und fast si­cher wür­de ich ir­gend­ei­nen Bock schie­ßen, der den Spott je­des auf der Höhe ste­hen­den Stu­den­ten der ma­the­ma­ti­schen Phy­sik im Lan­de auf mich nie­der­lenk­te. Das bes­te also, glau­be ich, was ich tun kann, ist, mei­ne Ein­drücke in mei­ner ei­ge­nen un­ex­ak­ten Spra­che wie­der­zu­ge­ben, ohne je­den Ver­such, ein Ge­wand des Wis­sens zu tra­gen, auf das ich kei­nen An­spruch ma­chen kann.

Das Ziel von Mr. Ca­vors Un­ter­su­chung war ein Stoff, der »für alle For­men strah­len­der Ener­gie« »un­durch­sich­tig« sein soll­te – er ge­brauch­te ein an­de­res Wort, das ich ver­ges­sen habe, aber »un­durch­sich­tig« gibt die Idee. »Strah­len­de Ener­gie«, mach­te er mir klar, war al­les wie Licht oder Wär­me oder jene Rönt­gen­strah­len, von de­nen vor ein paar Jah­ren so viel die Rede war, oder wie Mar­co­nis elek­tri­sche Wel­len, oder die Gra­vi­ta­ti­on. Alle die­se Din­ge, sag­te er, strah­len von Zen­tren aus und wir­ken auf ent­fern­te Kör­per, wo­her der Aus­druck »strah­len­de Ener­gie« kommt. Nun sind fast alle Stof­fe ge­gen die eine oder an­de­re Form strah­len­der Ener­gie un­durch­läs­sig. Glas zum Bei­spiel ist für Licht durch­sich­tig, aber für Wär­me we­ni­ger, so daß es als Ofen­schirm Diens­te tut; und Alaun ist für Licht durch­läs­sig, sperrt aber Wär­me voll­stän­dig ab. Eine Lö­sung von Jod in Koh­len­di­sul­fid da­ge­gen sperrt das Licht völ­lig ab, ist da­ge­gen für Wär­me ganz durch­läs­sig. Es ver­birgt ei­nem ein Feu­er, läßt aber all sei­ne Wär­me zu ei­nem kom­men. Me­tal­le sind nicht nur für Licht und Hit­ze un­durch­läs­sig, son­dern auch für elek­tri­sche Ener­gie, die so­wohl durch die Jod­lö­sung wie durch Glas fast so hin­durch­geht, als wä­ren sie nicht ein­ge­schal­tet. Und so wei­ter.

Nun sind alle be­kann­ten Stof­fe für die Gra­vi­ta­ti­on »durch­sich­tig«. Man kann Schir­me ver­schie­de­ner Art an­wen­den, um das Licht, oder die Wär­me, oder den elek­tri­schen Ein­fluß der Son­ne, oder die Wär­me der Erde von ir­gend et­was ab­zu­schnei­den; man kann Kör­per durch Me­tall­plat­ten vor Mar­co­nis Strah­len schüt­zen, aber nichts wird die An­zie­hung der Schwer­kraft der Son­ne oder die der Erde ab­schnei­den. Und doch ist es schwer zu sa­gen, warum es nichts ge­ben soll­te. Ca­vor sah nicht ein, warum ein sol­cher Stoff nicht exis­tie­ren soll­te, und si­cher­lich konn­te ich es ihm nicht sa­gen. Ich hat­te noch nie an eine sol­che Mög­lich­keit ge­dacht. Er zeig­te mir durch Be­rech­nun­gen auf dem Pa­pier – und Lord Kel­vin oder Pro­fes­sor Lod­ge oder Pro­fes­sor Karl Pear­son oder ir­gend­ei­ner von den großen Wis­sen­schaf­tern hät­te sie ohne Zwei­fel ver­ste­hen kön­nen, mich aber brach­ten sie in hoff­nungs­lo­se Ver­wir­rung – daß nicht nur ein sol­cher Stoff mög­lich sei, son­dern daß er so­gar ge­wis­sen Be­din­gun­gen ge­nü­gen müs­se. Es war ein er­staun­li­ches Stück Rä­son­ne­ment. So sehr es mich zur Zeit er­staun­te und in An­spruch nahm, es wäre un­mög­lich, es hier wie­der­zu­ge­ben. »Ja«, sag­te ich zu al­lem, »ja, nur wei­ter!« Es ge­nü­ge für die­sen Be­richt, daß er glaub­te, er wer­de im­stan­de sein, die­sen mög­li­chen Stoff, der für die Gra­vi­ta­ti­on un­durch­läs­sig wäre, aus ei­nem kom­pli­zier­ten Ge­misch von Me­tal­len und et­was Neu­em – ei­nem neu­en Ele­ment, den­ke ich mir; ich glau­be, es hieß He­li­um, und es wur­de ihm aus Lon­don in ver­sie­gel­ten Steinkrü­gen ge­schickt – her­zu­stel­len. Auf die­se letz­te­re Ein­zel­heit ist Zwei­fel ge­wor­fen wor­den, aber ich bin fast ge­wiß, daß es He­li­um war, was er in ver­sie­gel­ten Steinkrü­gen ge­schickt er­hielt. Auf je­den Fall war es et­was sehr Flüch­ti­ges und Dün­nes. Wenn ich nur No­ti­zen ge­macht hät­te! …

Aber wie soll­te ich auch die Not­wen­dig­keit vor­aus­sehn, No­ti­zen zu ma­chen?

Je­der, der nur den ge­rings­ten Keim von Phan­ta­sie hat, wird die au­ßer­or­dent­li­chen Mög­lich­kei­ten ei­nes sol­chen Stof­fes be­grei­fen, und er wird die Er­re­gung ein we­nig mit­füh­len, die ich durch­mach­te, als die­ses Ver­ständ­nis aus dem Ne­bel ab­stru­ser Phra­sen auf­tauch­te, mit de­nen Ca­vor sich aus­drück­te. Ko­mi­sche Be­frei­ung in ei­nem Dra­ma! Es dau­er­te ei­ni­ge Zeit, ehe ich glau­ben woll­te, daß ich ihn recht ge­deu­tet hat­te, und ich nahm mich sehr in acht, kei­ne sol­chen Fra­gen zu stel­len, die ihn in­stand ge­setzt hät­ten, die Tie­fe des Miß­ver­ste­hens zu er­mes­sen, in die er sei­ne täg­li­che Dar­le­gung hin­ein­warf. Aber nie­mand, der die­se Ge­schich­te hier liest, wird ganz mit­füh­len kön­nen, denn es wird un­mög­lich sein, mei­ner nack­ten Er­zäh­lung die Kraft mei­ner Über­zeu­gung zu ent­neh­men, daß die­ser er­staun­li­che Stoff tat­säch­lich im Be­griff stand, her­ge­stellt zu wer­den.

Ich be­sin­ne mich nicht, daß ich nach mei­nem Be­such im Hau­se auch nur noch eine Stun­de hin­ter­ein­an­der an mei­nem Dra­ma ge­ar­bei­tet hät­te. Mei­ne Phan­ta­sie hat­te an­de­re Din­ge zu tun. Die Mög­lich­kei­ten des Stoffs schie­nen völ­lig un­be­grenzt zu sein; wo ich auch ver­such­te, stieß ich auf Wun­der und Re­vo­lu­tio­nen. Wenn man zum Bei­spiel ein Ge­wicht he­ben woll­te, moch­te es noch so un­ge­heu­er sein, man brauch­te nur eine Plat­te von die­sem Stoff dar­un­ter zu tun, und man konn­te es mit ei­nem Stroh­halm he­ben. Mein ers­ter na­tür­li­cher Im­puls war, die­ses Prin­zip auf Ka­no­nen und Pan­zer­schif­fe und als Ma­te­ri­al auf alle Metho­den der Krieg­füh­rung an­zu­wen­den, dann auf die Schif­fahrt, die Lo­ko­mo­ti­ven, den Bau, jede nur denk­ba­re Form mensch­li­cher In­dus­trie. Der Zu­fall, der mich ge­ra­de in die Ge­burts­kam­mer die­ser neu­en Zeit ge­bracht hat­te – es war eine Epo­che, nichts Ge­rin­ge­res – war ei­ner von je­nen Zu­fäl­len, die in tau­send Jah­ren ein­mal kom­men. Die Sa­che ent­roll­te sich, sie dehn­te und dehn­te sich. Un­ter an­de­rem sah ich mei­ne Er­lö­sung als Ge­schäfts­mann dar­in. Ich sah eine Mut­ter­ge­sell­schaft und Toch­ter­ge­sell­schaf­ten, An­glie­de­run­gen rechts von uns, An­glie­de­run­gen links, Rin­ge, Trusts, Pri­vi­le­gi­en und Kon­zes­sio­nen, die sich aus­brei­te­ten und aus­brei­te­ten, bis eine un­ge­heu­re stu­pen­de Ca­vo­rit-Ge­sell­schaft die Welt um­lief und be­herrsch­te.

Und ich war dar­in!

Ich wähl­te so­fort mei­nen Weg. Ich wuß­te, ich setz­te al­les aufs Spiel, aber ich tat den Sprung als­bald.

»Wir sind ein­fach bei dem größ­ten Ding, das je er­fun­den wor­den ist«, sag­te ich und leg­te den Ak­zent auf das »Wir«. »Wenn Sie mich da her­aus­hal­ten wol­len, wer­den Sie’s mit ’ner Ka­no­ne tun müs­sen. Mor­gen kom­me ich her­un­ter, um Ihr vier­ter Ar­bei­ter zu wer­den.«

Er schi­en von mei­nem En­thu­si­as­mus über­rascht, aber kei­ne Spur arg­wöh­nisch oder feind­lich. Viel­mehr wür­dig­te er sich selbst her­ab.

Er blick­te mich zwei­fel­haft an. »Aber mei­nen Sie wirk­lich –?«, sag­te er. »Und Ihr Dra­ma! Was wird aus dem Dra­ma?«

»Das ist ver­schwun­den!«, rief ich. »Mein lie­ber Herr, se­hen Sie nicht, was Sie da ha­ben? Se­hen Sie nicht, was Sie im Be­griff sind, zu ma­chen?«

Das war nur eine rhe­to­ri­sche Wen­dung, aber er sah es po­si­tiv nicht. Erst konn­te ich es nicht glau­ben. Er hat­te nicht die Spur von ei­ner Ah­nung von ei­ner Idee. Die­ser er­staun­li­che klei­ne Mann hat­te die gan­ze Zeit über auf bloß theo­re­ti­schem Grun­de ge­ar­bei­tet! Als er sag­te, es sei das »al­ler­wich­tigs­te« Ex­pe­ri­ment, das die Welt noch ge­se­hen habe, hat­te er nur ge­meint, es be­rich­ti­ge so vie­le Theo­ri­en, er­le­di­ge so vie­les, was zwei­fel­haft sei; über die An­wen­dung des Stoffs, den er ma­chen woll­te, hat­te er sich so we­nig be­un­ru­higt, wie wenn er eine Ma­schi­ne ge­we­sen wäre, die Ka­no­nen macht. Dies war ein mög­li­cher Stoff, und er woll­te ihn ma­chen! V’­la tout, wie der Fran­zo­se sagt.

Über das hin­aus war er kin­disch! Wenn er ihn mach­te, wür­de der Stoff als Ca­vo­rit oder Ca­vor­in auf die Nach­welt kom­men, ihn wür­de man zur Aka­de­mie be­ru­fen, sein Por­trät wür­de als das ei­nes wis­sen­schaft­li­chen Man­nes von Ver­dienst mit der »Na­tur« ver­teilt wer­den, und der­lei Din­ge mehr. Und das war al­les, was er sah! Er hät­te die­se Bom­be in die Welt ge­wor­fen, als hät­te er eine neue Mücken­art ent­deckt, wenn nicht der Zu­fall ge­wollt hät­te, daß ich dazu ge­kom­men war. Und da hät­te sie ge­le­gen und ge­pufft wie noch ein paar an­de­re klei­ne Din­ge, die die­se Wis­sen­schaf­ter an­ge­zün­det und um uns ge­wor­fen ha­ben.

Als mir das klar wur­de, war ich der­je­ni­ge, der das Re­den be­sorg­te, und Ca­vor sag­te: »Nur wei­ter!« Ich sprang auf. Ich schritt durchs Zim­mer und ges­ti­ku­lier­te wie ein Jun­ge von zwan­zig. Ich ver­such­te, ihm sei­ne Pf­lich­ten und Verant­wort­lich­kei­ten in der Sa­che ver­ständ­lich zu ma­chen – un­se­re Pf­lich­ten und Verant­wort­lich­kei­ten in der Sa­che. Ich ver­si­cher­te ihm, wir könn­ten Geld ge­nug ma­chen, um jede Art so­zia­ler Re­vo­lu­ti­on durch­zu­füh­ren, die wir woll­ten, wir könn­ten die gan­ze Welt be­sit­zen und ord­nen. Ich er­zähl­te ihm von Ge­sell­schaf­ten und Pa­ten­ten und den Ge­set­zen für ge­hei­me Pro­zes­se. All die­se Din­ge schie­nen auf ihn zu wir­ken, wie sei­ne Ma­the­ma­tik auf mich ge­wirkt hat­te. In sein ro­tes klei­nes Ge­sicht kam ein Blick der Ver­wir­rung. Er stot­ter­te ei­ni­ges über Gleich­gil­tig­keit ge­gen Reich­tum, aber ich jag­te all das bei­sei­te. Er hat­te reich zu wer­den und sein Stot­tern nütz­te zu nichts. Ich gab ihm zu ver­ste­hen, was für eine Art Mensch ich war, und daß ich sehr be­trächt­li­che Ge­schäfts­er­fah­run­gen hat­te. Ich sag­te ihm nicht, daß ich zur Zeit in ei­nem noch un­ge­re­gel­ten Ban­ke­rott stak, denn das war nur vor­über­ge­hend, aber ich glau­be, ich ver­söhn­te mei­ne of­fen­bar wir­ken­de Kraft mit mei­nen fi­nan­zi­el­len An­sprü­chen. Und ganz un­merk­lich, wie eben sol­che Plä­ne wach­sen, wuchs zwi­schen uns das Ein­ver­ständ­nis über ein Ca­vo­rit-Mo­no­pol em­por. Er soll­te den Stoff ma­chen, und ich soll­te den Lärm dazu ma­chen.

Ich hing mich wie ein Blut­egel an das »wir« – »Sie« und »ich« exis­tier­te für mich nicht.

Sei­ne Idee war, der Ge­winst, von dem ich sprach, kön­ne dazu die­nen, die For­schung zu för­dern, aber das war na­tür­lich eine Sa­che, die wir spä­ter zu er­le­di­gen hat­ten. »Schon gut«, rief ich, »schon gut.« Der Haupt­punkt war, wie ich be­harr­te, das Zeug wirk­lich zu ma­chen.

»Hier ha­ben wir einen Stoff«, rief ich, »ohne den zu sein kein Haus, kei­ne Wirt­schaft, kei­ne Fes­tung, kein Schiff wa­gen kann – all­ge­mei­ner an­wend­bar noch als eine Pa­tent­me­di­zin! Kei­ne ein­zi­ge Sei­te, nicht eine von sei­nen zehn­tau­send mög­li­chen An­wen­dun­gen, die uns nicht rei­cher ma­chen wird, Ca­vor, als sich nur die Hab­sucht träu­men las­sen kann.«

»Nein«, sag­te er. »Ich fan­ge an, es ein­zu­se­hen. Es ist merk­wür­dig, wie man zu neu­en Ge­sichts­punk­ten kommt, wenn man die Din­ge durch­spricht!«

»Und der Zu­fall woll­te, daß Sie ge­ra­de mit dem rich­ti­gen Mann ge­spro­chen ha­ben!«

»Ich glau­be«, sag­te er, »nie­mand ist un­ge­heu­rem Reich­tum ab­so­lut ab­ge­neig­t. Na­tür­lich bleibt ein – –«

Er hielt inne. Ich stand still.

»Es ist ge­ra­de noch mög­lich, wis­sen Sie, daß wir es schließ­lich doch nicht ma­chen kön­nen! Es kann eins von den Din­gen sein, die eine theo­re­ti­sche Mög­lich­keit aber eine prak­ti­sche Ab­sur­di­tät sind. Oder wenn wir es ma­chen, kann noch ir­gend­ein klei­ner Ha­ken da­bei sein – –«

»Den Ha­ken wol­len wir un­ter­krie­gen, wenn er kommt«, sag­te ich.


  1. Zweit­woh­nung  <<<

2 – Wie das Cavorit zum ersten Male gemacht wurde

Aber Ca­vors Be­fürch­tun­gen wa­ren grund­los, so­weit die tat­säch­li­che Fa­bri­ka­ti­on in Fra­ge kam. Am 14. Ok­to­ber 1899 wur­de die­ser un­glaub­li­che Stoff her­ge­stellt!

Son­der­bar ge­nug wur­de er zu­letzt durch einen Zu­fall fer­tig, als Mr. Ca­vor es am we­nigs­ten er­war­te­te. Er hat­te eine An­zahl Me­tal­le und ge­wis­se an­de­re Din­ge mit­ein­an­der ver­schmol­zen – ich woll­te jetzt, ich wüß­te die Ein­zel­hei­ten! – und er be­ab­sich­tig­te, die Mi­schung eine Wo­che in Ruhe zu las­sen und sie dann lang­sam ab­zu­küh­len. Wenn er nicht falsch ge­rech­net hat­te, muß­te die letz­te Ent­wick­lungs­stu­fe in der Kom­bi­na­ti­on er­fol­gen, wenn das Zeug auf eine Tem­pe­ra­tur von 60° Fah­ren­heit ge­sun­ken war. Aber es traf sich, daß ohne Ca­vors Wis­sen ein Streit über die Un­ter­hal­tung des Feu­ers im Schmelzofen aus­ge­bro­chen war. Gibbs, der vor­her da­für ge­sorgt hat­te, hat­te plötz­lich ver­sucht, es auf den Mann ab­zu­wäl­zen, der Gärt­ner ge­we­sen war, und zwar mit der Be­grün­dung, Koh­le wer­de ge­gra­ben und sei Erde, kön­ne also un­mög­lich in den Be­reich ei­nes Schrei­ners fal­len; der Mann, der Ak­kord­gärt­ner ge­we­sen war, mach­te da­ge­gen gel­tend, Koh­le sei ein me­tal­li­scher oder erz­ar­ti­ger Stoff, ganz ab­ge­se­hen da­von, daß er Koch sei. Aber Spar­gus be­stand dar­auf, daß Gibbs das Feu­ern be­sorg­te, zu­mal er ein Schrei­ner sei, und Koh­le be­kann­ter­ma­ßen fos­si­les Holz ist. In­fol­ge­des­sen hör­te Gibbs auf, den Schmelzofen nach­zu­fül­len, und nie­mand tat es, und Ca­vor war zu sehr in ge­wis­sen in­ter­essan­ten Pro­ble­men in­be­treff ei­ner Ca­vo­rit-Flug­ma­schi­ne ver­sun­ken (wo­bei er den Luft­wi­der­stand und ein oder zwei an­de­re Punk­te ver­nach­läs­sig­te) um zu mer­ken, daß ir­gend et­was ver­kehrt ging. Und die vor­zei­ti­ge Ge­burt sei­ner Er­fin­dung trat ein, als er ge­ra­de über das Feld in mein Haus kam, um beim Tee un­ser Nach­mit­tags­ge­spräch zu hal­ten.

Ich er­in­ne­re mich des Vor­falls mit äu­ßers­ter Leb­haf­tig­keit. Das Was­ser koch­te und al­les war vor­be­rei­tet, und das Geräusch sei­nes »Su­suhh« hat­te mich auf die Ve­ran­da hin­aus­ge­ru­fen. Sei­ne be­weg­li­che klei­ne Ge­stalt stand schwarz ge­gen den herbst­li­chen Son­nen­un­ter­gang, und rechts er­ho­ben sich die Schorn­stei­ne sei­nes Hau­ses eben über eine glor­reich ge­tön­te Baum­grup­pe. Fer­ner er­ho­ben sich blaß und blau die Weal­den Hills, wäh­rend sich nach links hin ge­räu­mig und hei­ter die neb­li­ge Marsch er­streck­te. Und dann – –!

Die Schorn­stei­ne ruck­ten zum Him­mel em­por, im Flug zu ei­ner Rei­he Zie­gel zer­sprit­zend, und das Dach und ein Ge­misch von Mö­beln folg­te. Dann hol­te sie eine rie­sen­haf­te wei­ße Flam­me ein. Die Bäu­me um das Ge­bäu­de schwank­ten und wir­bel­ten und ris­sen in Stücke, die auf die Flacker­glut loss­pran­gen. Mei­ne Ohren schlug ein Don­ner­schlag, von dem ich auf ei­ner Sei­te fürs Le­ben taub ge­blie­ben bin, und über­all um mich zer­spran­gen die Fens­ter un­be­ach­tet.

Ich mach­te von der Ve­ran­da drei Schrit­te auf Ca­vors Haus zu, und als ich das tat, kam der Wind.

Im Nu flat­ter­te mir mein Rock­schoß über dem Kopf, und ich rann­te in großen Sät­zen und Sprün­gen und ganz ge­gen mei­nen Wil­len auf ihn zu. Im sel­ben Mo­ment wur­de der Ent­de­cker er­faßt, her­um­ge­wir­belt, und er flog durch die schrei­en­de Luft. Ich sah einen mei­ner Schorn­stei­ne sechs Schritt von mir zu Bo­den schla­gen, ei­ni­ge zwan­zig Fuß sprin­gen und so in großen Sät­zen auf den Brenn­punkt des Aufruhrs zu­ei­len. Ca­vor flog, mit Fü­ßen und Ar­men schla­gend, wie­der her­ab, roll­te eine Stre­cke weit am Bo­den hin, ar­bei­te­te sich in die Höhe, wur­de auf­ge­ho­ben und mit enor­mer Ge­schwin­dig­keit vor­wärts ge­tra­gen, bis er schließ­lich zwi­schen den rin­gen­den, peit­schen­den Bäu­men ver­schwand, die sich um sein Haus wan­den.

Eine Mas­se von Rauch und Aschen und ein Block bläu­lich leuch­ten­den Stof­fes stürm­te zum Ze­nith em­por. Ein großes Zaun­frag­ment kam an mir vor­bei­ge­se­gelt, fiel auf die Kan­te, schlug zu Bo­den und kam flach zu lie­gen, und da­mit war das Schlimms­te vor­bei. Die Luft­be­we­gung leg­te sich rasch, bis sie nur noch ein kräf­ti­ger Sturm war, und mir kam noch ein­mal wie­der zum Be­wußt­sein, daß ich Atem und Füße hat­te. In­dem ich mich ge­gen den Wind zu­rück­lehn­te, ge­lang es mir, ste­hen zu blei­ben, und ich konn­te zu­sam­men­su­chen, was mir noch an Ver­stand blieb.

In dem Mo­ment hat­te sich das gan­ze An­ge­sicht der Erde ver­än­dert. Der ru­hi­ge Son­nen­un­ter­gang war ver­schwun­den, der Him­mel war dun­kel vor fe­gen­den Wol­ken, al­les war flach­ge­legt und schwank­te mit dem Sturm. Ich warf einen Blick zu­rück, um zu se­hen, ob mein Haus im großen und gan­zen noch ste­he, und stol­per­te dann auf die Bäu­me zu, un­ter de­nen Ca­vor ver­schwun­den war, und durch de­ren große, blät­ter­nack­te Äste die Flam­men sei­nes bren­nen­den Hau­ses leuch­te­ten.

Ich be­trat das Ge­büsch, in­dem ich von ei­nem Baum zum an­dern flog und mich an sie an­klam­mer­te; eine Zeit­lang such­te ich ihn ver­ge­bens. Dann merk­te ich, daß sich mit­ten in ei­nem Hau­fen zer­knit­ter­ter Äste und Zaun­werks, der sich ge­gen einen Teil sei­ner Gar­ten­mau­er auf­ge­baut hat­te, et­was rühr­te. Ich such­te da­hin­zu­lau­fen; aber ehe ich es er­reich­te, lös­te sich ein brau­ner Ge­gen­stand da­von los, er­hob sich auf zwei schlamm­be­schmutz­ten Bei­nen und hielt zwei hän­gen­de, blu­ten­de Hän­de vor sich hin. Von sei­nem mitt­le­ren Teil flat­ter­ten ein paar zer­fetz­te Klei­der­res­te aus, die vor dem Win­de schwe­ben blie­ben.

Ei­nen Mo­ment lang er­kann­te ich die­sen Erd­klum­pen nicht, und dann sah ich, daß es Ca­vor war, über­zo­gen von dem Schlamm, in den er ge­rollt war. Er lehn­te sich ge­gen den Wind vorn­über und rieb sich den Schmutz aus Au­gen und Mund.

Er streck­te eine schlam­mi­ge Hand­mas­se aus und stol­per­te auf mich zu. Sein Ge­sicht ar­bei­te­te vor Er­re­gung, und fort­wäh­rend fie­len klei­ne Erd­klum­pen da­von her­ab. Er sah so be­schä­digt und er­bärm­lich aus wie nur ir­gend­ein le­ben­des Ge­schöpf, das ich je ge­se­hen hat­te, und da­her ver­blüff­te mich sei­ne Be­mer­kung au­ßer­or­dent­lich: »Gra­tu­lie­ren Sie mir«, keuch­te er, »gra­tu­lie­ren Sie mir!«

»Ih­nen gra­tu­lie­ren?«, sag­te ich. »Gü­ti­ger Him­mel! Wozu?«

»Ich hab’s fer­tig ge­bracht.«

»Wahr­haf­tig. Was zum Teu­fel hat die Ex­plo­si­on ver­an­laßt?«

Ein Wind­stoß blies sei­ne Wor­te fort. Ich ver­stand so­viel, daß er sag­te, es sei gar kei­ne Ex­plo­si­on. Der Wind wir­bel­te mich in eine Kol­li­si­on mit ihm, und wir stan­den und klam­mer­ten uns an­ein­an­der.

»Ver­su­chen Sie, zu mei­nem Hau­se zu­rück­zu­kom­men«, brüll­te ich ihm ins Ohr. Er hör­te mich nicht und rief et­was wie »drei Mär­ty­rer-Wis­sen­schaft«, und auch et­was wie »nicht viel wert«. Zu der Zeit quäl­te er sich un­ter dem Ein­druck, sei­ne drei Ge­hil­fen sei­en in dem Wir­bel­wind um­ge­kom­men. Zum Glück war das nicht rich­tig. So­wie er sich nach mei­nem Hau­se auf dem Weg ge­macht hat­te, wa­ren sie zum Wirts­haus in Lym­pne ge­gan­gen, um die Fra­ge der Schmel­zö­fen über ei­ner klei­nen Er­fri­schung zu er­ör­tern.

Ich wie­der­hol­te mei­nen Vor­schlag, zu mei­nem Hau­se zu­rück­zu­keh­ren, und dies­mal ver­stand er. Wir hin­gen uns Arm in Arm und er­reich­ten schließ­lich den Schutz des­sen, was mir noch von mei­nem Da­che ge­blie­ben war. Eine Zeit­lang sa­ßen wir in Lehn­stüh­len und keuch­ten. Alle Fens­ter wa­ren zer­bro­chen, und die leich­teren Ein­rich­tungs­ge­gen­stän­de wa­ren in großer Un­ord­nung, aber kein un­wi­der­ruf­li­cher Scha­den war an­ge­rich­tet. Zum Glück hat­te die Kü­chen­tür den Druck dar­auf aus­ge­hal­ten, so daß alle mei­ne Ton­wa­ren und Koch­ma­te­ria­li­en am Le­ben ge­blie­ben wa­ren. Der Öl­ofen brann­te noch, und ich setz­te das Was­ser für den Tee von neu­em zum Ko­chen auf. Und als das ge­sche­hen war, konn­te ich mich um sei­ne Er­klä­rung an Ca­vor wen­den.

»Ganz in Ord­nung«, be­harr­te er, »ganz in Ord­nung. Ich hab’s fer­tig ge­bracht, und al­les stimmt.«

»Aber«, pro­tes­tier­te ich. »In Ord­nung! Kei­ne Scheu­ne kann mehr ste­hen, kein Zaun, kein Stroh­dach, nicht im Um­kreis von zwan­zig Mei­len …«