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Das zerrissene Herz

Viel sind Erinnerungen

Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland

Sonne und Mond, Tage und Monate verweilen nur kurz als Gäste ewiger Zeiten. Und so ist es auch mit den Jahren: Sie gehen und kommen, sind stets auf Reisen.

Nicht anders ergeht es den Menschen, die ihr ganzes Leben auf Booten dahinschaukeln lassen oder jenen, die mit ihren am Zügel geführten Pferden dem Alter entgegenziehen.

Tagtäglich unterwegs, machen sie das Reisen zu ihrem ständigen Aufenthalt.

Meine Gedanken hören nicht auf, wohl angeregt durch den Wind, der die Wolkenfetzen jagt, um das stete Getriebenwerden zu schweifen - ich weiß schon gar nicht mehr von welchem Jahr an.

Matsuo Bashō

Japan 1644 - 1694

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© 2017 Autor: Gerhardt Staufenbiel

www.teeweg.de

Verlag: tredition GmbH

www.tredition.de

ISBN:

978-3-7439-3718-5 (Paperback)

978-3-7439-3719-2 (Hardcover)

978-3-7439-3720-8 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das zerrissene Herz

Viel sind Erinnerungen

Kindheit und Jugend im Grünen Herzen Deutschlands

Inhaltsverzeichnis

Viel sind Erinnerungen!

Der Hülfensberg

Der Nabel der Erde

Autos

St. Georg

Die schöne Aussicht

Das Haus

Die Ziegen

Der Anzug

Die Eisenbahn

Der Dackel

Das Plumpsklo

Hunger

Schlachtefest

Schmuggel

Stachelbeeren

Die Post

Wintermärchen

Amerikaner

Großmutter

Kassel

Die Küche

Soldaten

Milchkaffee

Schule

Griechenland

Musik

Die Dorflinde

Die LPG

Die Werratalbahn

Die Gießerei

Tanabata

Nachgesang

Viel sind Erinnerungen!

Es ist das Vorrecht der Alten, sich zu erinnern.

Erinnerungen sind eine merkwürdige Sache. Anders als das Gedächtnis, das Daten und Fakten speichert, er-innern wir oft nur Bilder, Klänge oder Gerüche. Meistens ist es eine ganz bestimmte, isolierte Situation, die wir erinnern und nicht die großen und bedeutenden Ereignisse der Geschichte. Es sind die ganz kleinen, scheinbar alltäglichen Dinge aus dem Augenblick, die sich ganz lebendig für immer einprägen. Die großen Ereignisse der Geschichte gehören in die Geschichtsbücher, die kleinen Dinge sind für das Herz.

Ich erinnere mich noch an einen gewaltigen Regen in meiner Kindheit. Ich holte zusammen mit meiner Mutter einen selbstgebackenen Kuchen vom Bäcker ab. Man konnte damals die Kuchenbleche zum Bäcker bringen. Wenn dann das Brot gebacken war, wurden die Kuchen der Kunden in den noch heißen Ofen geschoben. Meine Mutter hatte gerade das Blech mit dem duftenden Kuchen genommen, als ein fürchterlicher Platzregen losbrach. Wir standen in einem Hauseingang und warteten. Schnell bildeten sich große Pfützen. Die dicken Regentropfen schlugen riesige Luftblasen auf den Pfützen, die immer größer wurden und dann mit einem kleinen Knall zerplatzten. Ich habe nie wieder solch große Luftblasen auf Regenpfützen gesehen. Oder waren die Blasen nur deshalb so groß, weil ich so klein war? Der Regen prasselte, die Regentropfen tanzten und die Blasen schlugen den Takt dazu. Es war ein faszinierendes Schauspiel der Lust am vergänglichen Augenblick.

Unvergesslich ist mir auch das strahlende Morgenlicht, das durch die dunklen Schatten der Bäume eines Waldes fällt. Der Boden ist mit dichtem, hell weißen Nebelschwaden bedeckt und die Sonnenstrahlen dringen kalt leuchtend durch den Nebel. Ich friere, denn es ist bitterkalt. Es war der helle Morgen nach einer dunklen Nacht, in der ein russischer Soldat nach uns gesucht und wild mit seiner Maschinenpistole durch den Wald geschossen hatte. Aber wir waren am Leben! Ich sehe nur das helle Morgenlicht im Nebel. Da ist kein Russe. Aber irgendwo weiß ich, dass er da gewesen sein muss. Und da ist auch noch die Erinnerung an die Schüsse in der Dunkelheit der Nacht. Dann ist nur noch Dunkelheit. Ich habe die Nacht völlig Vergessen, es gibt keinerlei Erinnerung mehr an sie. Es sind zwei völlig voneinander losgelöste Erinnerungen, die dennoch untrennbar zusammengehören.

Die Erinnerung unterscheidet nicht zwischen wichtig und unwichtig. Sie bewahrt Eindrücke, die uns in einem bestimmten Augenblick tief in unserem Inneren berührt haben. Das sind die Augenblicke, in denen wir wirklich leben. Was uns nicht tief im Inneren berührt, versinkt gnädig im Dunkel des Vergessens.

Erinnerungen sind wie die Räume eines unendlichen Herrenhauses. Kaum öffnet man eine Tür und betritt einen Raum der Erinnerungen, schon öffnen sich weitere und weitere Türen, die in immer neue Räume führen. Manchmal stoßen wir auf Türen, die fest verschlossen sind, manchmal öffnet eine neue Tür eine Unzahl von Räumen. Die Räume sind das Labyrinth unserer Erinnerungen, in denen wir wandern, in denen wir uns aber auch völlig verlieren können. Wo ist das alles gespeichert? Im Gehirn? Oder in jeder Zelle des Körpers? Aber Zellen sterben ab und neue Zellen bilden sich. Unser Körper ist stets ein anderer, aber die Erinnerungen bleiben. Ist es nicht wunderbar, wie und wo solche Mengen an Erinnerungen gespeichert werden können?

Ich fühle mich genötigt, Geschichten aus meiner Kindheit mitten im zerrissenen grünen Herzen Deutschlands zu erzählen. Niemand zwingt mich dazu, aber nach einer Reise in die alte Heimat wurden die Erinnerungen so drängend, dass sie aufgeschrieben werden wollten. Geschichten von meinem Vater, der seit er tot ist - innen in mir in meinen Erinnerungen Angst hat, tiefe Angst. Und der am gebrochenen Herzen starb, weil er nie das sein durfte, was er war. Oder von meinem Großvater, der immer davon träumte, als armer Müllerssohn ein Königreich zu erringen, wenn schon nicht ein ganzes, so doch wenigstens ein halbes. Innen in seinem Herzen hatte er das Königreich gefunden. Und von Großmutter, die ihn nie fühlen ließ, daß er kein König, sondern nur ein armer Bauer war.

Es sind Geschichten aus einer Zeit, in der Deutschland noch nicht geteilt war und Geschichten aus der Zeit der Teilung. Schöne Geschichten von einer behüteten Jugend und schreckliche Erlebnisse aus Krieg und der Zeit der Teilung.

Es sind Geschichten, so wie ich mich erinnere. Vielleicht ist manches falsch erinnert und manches auch einfach nur geträumt. Aber ich will ja auch kein Geschichtsbuch schreiben, sondern einfach Geschichten aus der Erinnerung erzählen.

Junge Menschen leben in der Gegenwart für ihre Zukunft. Aber im Alter wird die Zukunft immer weniger und zugleich unbedeutender oder gar ängstigender. Dafür wird die Gegenwart immer wichtiger. Es ist das Glück des Alters, dass man ganz und gar in der Gegenwart leben darf. Aber die Gegenwart ist geprägt durch alles, was wir erlebt und erfahren haben. Auch unsere Hoffnungen für die Zukunft werden aus der Vergangenheit geprägt. Aber die Zukunft der Alten ist weniger wichtig als für junge Menschen, die ja noch kaum Vergangenheit, dafür aber ihre ganze Zukunft vor sich haben. So können wir den Augenblick genießen und uns des Lebens freuen. Die Jungen mögen ihre Zukunft planen, aber meistens geschieht alles wie von einer fremden Macht gesteuert.

Rilke sieht in den Duineser Elegien unser Leben wie ein Theaterstück. Wir sitzen gespannt vor dem Vorhang des Lebens und warten, bis sich der Vorhang hebt - und die Szenerie ist Abschied. Abschied von dem, was bisher war und Abschied von unseren Hoffnungen und Plänen. Wir sind wie Marionetten, die an Drähten geführt werden. Am glücklichsten ist derjenige, der weiß, dass ein Engel die Regie führt und die Drähte zieht und nicht ein böser Schicksalsdämon. Wir werden gespielt und sind zugleich die Zuschauer des Stückes, das unser Leben bedeutet. Gespannt schauen wir zu, wie das Theaterstück des Lebens weiter geht.

Ich sitze hier auf meiner Terrasse und genieße die Stille. Es ist ein herrlicher Sommernachmittag und die Vögel singen. Unten auf dem Friedhof versammeln sich Menschen und geleiten einen alten Freund auf seinem letzten Weg. Der Posaunenchor spielt das Lied vom alten Kameraden. Der Vorhang ging auf und die Szenerie war - Abschied.

Manche Alten leben nur noch in der Vergangenheit. Als junger Mensch habe ich einmal einen alten Herrn kennen gelernt, der damals schon dreiundneunzig Jahre alt war. Er war immer noch am Zeitgeschehen interessiert, deshalb musste man ihm jeden Tag die Zeitung vorlesen. Aber das hatte er oft schon wenige Minuten später wieder vergessen. Er hörte nur noch sehr schlecht und das Hörgerät konnte er kaum bedienen. Nur wenn man über ein Thema sprach, das ihn interessierte und das seine Erinnerungen berührte, war sein Gedächtnis und seine Hörfähigkeit brillant. Einmal erzählte ich in seiner Gegenwart von Martin Buber, den ich sehr verehrte. »Ja, das war ein schöner Jud!«, sprach er. »Aber Großvater, du kennst doch Martin Buber überhaupt nicht!« »Doch doch! Der hat vor einem Jahr im Fernsehen aus seiner Bibelübersetzung gelesen!«

Und dann begann er minutiös die Geschichte seiner Einschulung in Prag um die Jahrhundertwende von 1900 zu erzählen.

Sein Onkel war der ehrwürdige Rektor der Schule. Er saß mit dem gesamten Lehrerkollegium hoch auf einem Podest. Alle waren feierlich im Frack gekleidet, ihre prächtigen gepflegten Bärte ragten über den gesteiften Hemdkragen und die Monokel blitzen streng. Jeder neue Schüler musste vor das Ehrfurcht einflößende Gremium treten und wurde nach Name, Familie und Religion gefragt. Mit Schrecken stellte unser alter Herr fest, dass er keine Ahnung hatte, was Religion war. Manche der zukünftigen Schüler sagten »katholisch«, manche »protestantisch«. Katholisch klang in seinen Ohren ziemlich schrecklich und protestantisch kam überhaupt nicht in Frage. Er wollte einfach nicht protestieren. Die meisten der Schüler aber sagten »mosaisch!« Das klang ganz sympathisch. Der alte Herr kannte noch jeden Namen der Schüler vor ihm. Langsam rückte der Zeitpunkt immer näher, dass er nach seiner Religion gefragt wurde. Schließlich beugte sich sein Onkel, der Rektor mit strengem Blick zu ihm hinunter und donnerte: »Religion?« Er nahm sich seinen ganzen Mut zusammen und sagte: »Mosaisch!« Das Lehrerkollegium erstarrte, denn allle wussten, dass die Familie protestantisch war. Was für ein aufsässiger Geist wuchs da heran, der seinen Glauben verleugnete und sich freiwillig zum Judentum bekannte?

Ich habe niemals derart in der Vergangenheit gelebt. Ja, meine Herkunft und meine Vergangenheit haben mich so gut wie gar nicht beschäftigt. Immer waren meine Gedanken in den fremden Kulturen des alten Griechenland oder Japans und Chinas befasst. Ich habe die alten Geschichten und Erlebnisse nicht vergessen oder gar verdrängt. Es war einfach keine Zeit, sich damit zu befassen.

Aber nun war ich, eigentlich fast zufällig in meiner alten Heimat, der grünen Mitte Deutschlands. Dort bin ich den Erinnerungen aus den Kriegs- und Nachkriegszeiten begegnet, die mich plötzlich sehr gefangen genommen haben. Ist das ein Zeichen des Alters? Muss ich mich mit diesen individuellen Erlebnissen einer schrecklichen Zeit auseinandersetzen? Oder sind viele von meinen Erlebnissen wie ein Muster des gesamtdeutschen Schicksals?

Wie dem auch sei, eine innere Stimme zwingt mich, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Mögen sie dazu beitragen, dass sich solche Ereignisse nie wiederholen!

Es sind die Erinnerungen eines Kindes. Unvollständig, ungeordnet und oft unverstanden. Aber sie sollen so aufgeschrieben werden, wie ich sie ganz subjektiv als Kind erlebt habe. Ohne wissenschaftliche Ordnung und weitgehend ohne Deutung. Die Ortsnamen und die Begebnisse sind so erzählt, wie ich sie in Erinnerung habe, nur manchmal sind einige Namen geändert. Ich hätte auch alle Ortsnamen ändern und durch frei erfundene Namen ersetzen können. Aber ganz bewusst habe ich alle Ortsnamen so erhalten, wie sie wirklich sind. Damit sind alle Ereignisse konkret in der Mitte unseres Landes lokalisiert. Aber sie könnten genau so überall in Deutschland geschehen sein.

Oft kann ich die Ereignisse nicht mehr korrekt in den historischen Ablauf einordnen. Aber ich habe bewusst darauf verzichtet, die Zeiten exakt zu ermitteln. Es sind Geschichten aus einem deutschen Kinderleben in den Umbruchszeiten des Krieges und der deutschen Trennung.

Diese Erinnerungen sind wieder so lebendig geworden, nachdem ich das Grenzmuseum im Schifflergrund nahe Bad Soden Allendorf besucht hatte. Das Grenzmuseum steht an einer Stelle, an der der originale Grenzzaun mit seinen Selbstschussanlagen erhalten geblieben ist. Er trennt das thüringische Eichsfeld vom hessischen Allendorf. Mein Großvater war oft in Allendorf und mein Onkel hatte Arbeit in einer Fabrik in Allendorf. Dorthin fuhr er mit dem Fahrrad, bis er eingezogen wurde und in Russland für immer verschwand.

Hinter dem Grenzzaun mit seinen Selbstschussanlagen liegt in einem tiefen natürlichen Graben ein auch heute noch sorgfältig gepflügter und geeggter Streifen Land. So konnte man immer leicht frische Fußspuren entdecken. Hinter dem geeggten Streifen erhebt sich ein steiler Hang. Oben verläuft eine regionale kleine Straße in Hessen. Die Grenze im Westen ist lediglich durch die Leitplanke geschützt, die Autos vor dem Sturz in den Hang sichert. Das letzte Grenzdorf Asbach-Sickingen auf der thüringischen Seite hatte bis zum Wanfrieder Abkommen noch zu Hessen gehört.

Bei einer Grenzbereinigung, die im Wanfrieder Abkommen besiegelt wurde, kam das Dorf zum russisch besetzten Thüringen.

Heinz-Josef Große war einer von denen, die dem offiziell nicht existierenden Schießbefehl zum Opfer fielen. Die Stelle, an der er am 29. März 1982 versuchte, mit Hilfe eines Frontladers über den Grenzzaun und den Hügel hinauf zu fliehen, ist vom Ausblick des Museums gut zu sehen. Am Straßenrand gegenüber, oberhalb des Hangs – erst dort begann »der Westen« - ist ein Denkmal aufgestellt. Hier mussten drei Zollbeamte mit ansehen, wie Große nach neun Kalaschnikow-Schüssen am Hang verblutete, denn dieser gehörte, obwohl jenseits des Grenzzauns gelegen, noch zum Territorium der DDR. Die Stelle, an der Große starb, ist mit einem einfachen Holzkreuz aus Birkenholz gekennzeichnet.

Große war mit seinem Frontlader zur Arbeit an einem Grenzpfosten eingeteilt. Nachdem ihn die Soldaten der NVA eingewiesen hatten, verließen sie den Ort. Große fuhr mit seinem Frontlader bis zum Grenzzaun mit den Selbstschussanlagen und hob die Schaufel über den Zaun. Über den Ausleger und die Schaufel sprang er über den Zaun und rannte den gegenüberliegenden Hang hinauf. Kurz bevor er die Leitplanke oben am Hang erreichte, die die Grenze zwischen dem Warschauer Pakt und dem Westen bildete, wurde er erschossen. Der Frontlader von Heinrich Große steht noch heute im Grenzmuseum.

Wäre das Dorf nicht im Wanfrieder Abkommen auf die russische Seite geschlagen worden, sondern im amerikanisch besetzten Hessen geblieben, dann würde Große heute vielleicht noch leben.

Unzählige Menschen haben die Flucht in den Westen versucht. Vielen ist sie gelungen, aber viele haben bei dem Versuch ihr Leben gelassen. Und nicht immer war der Westen Deutschlands das erhoffte Paradies.

In Japan habe ich einen der Flüchtlinge aus der DDR getroffen, denen die Flucht gelungen war. Aber Westdeutschland war ihm auch zu eng. Die Menschen jagten nur den wirtschaftlichen Erfolg hinterher. Das Nachkriegs - Westdeutschland war ihm zu spießig und eng. Aus irgend einem Grund zog es ihn nach Japan.

Ich wohnte damals für ein paar Wochen in einem buddistischen Tempel. Im Tempel lebten keine Mönche. Er wurde nur ein paarmal im Jahr von Priestern besucht, die sich versammelten und einige Tage lang ihre religiösen Gesänge und Sutren rezitierten. Der Tempel wurde verwaltet von einer alten Dame mit dem schönen Namen Shizuka. Der Name wird mit zwei Schriftzeichen geschrieben, die einzeln ‚still, friedlich, ruhevoll‘ und ‚Duft‘ bedeuten - ‚duftender Frieden‘. Eines Tages sagte Shizuka: »Heute kommt ein junger Deutscher. Er spielt wundervoll die Zen-Flöte Shakuhachi und er beherrscht das klassische Noh-Theater. Er macht heute im Steingarten im Tempelinnenhof eine Performance.« Nennen wir den jungen Mann der Einfachheit halber Uwe. Der Name ist kurz und einprägsam und nimmt mit seinen drei Buchstaben nicht so viel Platz weg. Uwe baute rund um den Tempelgarten Lautsprecher auf, ein Cello und mehrere Shakuhachi lehnten an den Felsen und eine professionelle, computergesteuerte Beleuchtungsanlage wurde aufgebaut. Die Nacht kam und nur ein dämmriges Licht ließ den Kies, die Felsen und die spärlichen Pflanzen im Garten aufleuchten. Rund um den Innenhof saßen viele Japaner in der Dunkelheit und warteten gespannt auf die Performance. Man konnte nur undeutlich ihre Schatten wahrnehmen, denn es herrschte eine gespannte Stille. Dann erschien Uwe. Er tanzte sein Leben bis zu diesem Augenblick in Japan. Er tappte suchend durch die Felsen, tanzte seine Flucht aus der DDR und zeigte sein ruhelos suchendes Herz, das auch in Westdeutschland nicht satt wurde. Er spielte klassische Musik auf seinem Cello, die sich allmählich tastend und suchend zu Rockmusik verwandelte. Dann tanzte er Japan. Er kam suchend in einen buddhistischen Tempel, lernte die Lehre Buddhas kennen und fand hier endlich seinen Frieden, den er wunderbar mit seiner Zen-Shakuhachi darstellte. Ich war tief beeindruckt. Vor allem hatte es mit der dunkle Klang der Shakuhachi angetan, mit der Uwe den Frieden und die duftende Stille darstellte. Das war Shizuka!

Uwe lebte inzwischen in einem kleinen japanischen Bergdorf. Er war mit einer Japanerin verheiratet und im Tempel des Ortes lernte er die Shakuhachi und das klassische Noh-Theater. Tagsüber baute er sein Gemüse und seinen Reis an und lebte das Leben eines japanischen Bauern. Viele Jahre später besuchte mich Uwe in meiner fränkischen Teeklause und wir spielten Shakuhachi und saßen bei der Teezeremonie zusammen und schwiegen.

Heimat und Shizuka ist dort, wo wir unseren inneren Frieden finden und ganz im Augenblick leben.

Der Hülfensberg

Eine Reise in die Mitte Deutschlands

Gerade bin ich von einer Reise in ‚ferne Welten und Zeiten‘ wieder zu Hause angekommen.

Ich sitze auf der Terrasse mitten im Grün. Der Kirchturm leuchtet in der Sonne und die Vögel singen ihr Lied. Der Blauregen wuchert wild und fast will es mir scheinen, als wollte er mich so einhüllen, wie einst die mythische Frau im Rosenhag geborgen war. Aber der Blauregen hat keine Dornen, die stechen könnten, und so rahmt er die Landschaft mit einem weichen grünen Rahmen. Der Blauregen wächst um meine Terrasse, weil er mich immer an Japan erinnert. Dort heißt der Blauregen Fuji. Die Familie der Fuji-wara haben viel zur japanischen Kultur beigetragen. Sie haben ihren Namen, weil einer ihrer Vorfahren immer unter einem Fuji gesessen und chinesische Gedichte studiert und geschrieben hat. Und so musste auch an meinem kleinen japanischen Teehaus mitten in der fränkischen Schweiz unbedingt ein Fuji gepflanzt werden. Nun sitze ich und studiere japanische Geschichten unter dem Fuji. Japan ist überall.

Nein, ich meine nicht die Reise nach Japan im Frühjahr und auch nicht die nach Kärnten oder Würzburg, wo ich Seminare gehalten hatte. Ich meine die Reise in die alte Heimat im grünen Herzen Deutschlands, das lange durch eine unmenschliche Grenze zerrissen war.

Eigentlich bin ich auch dort in der Mitte Deutschlands nicht wirklich zu Hause. Ich wurde in einem Bahnhof geboren, am Fuße des Hülfensberges, des heiligen Berges des Eichsfeldes, einer Region im nördlichen Thüringen. Mein Vater war bei der Deutschen Reichsbahn und deshalb nirgendwo zu Hause. Denn kaum war man irgendwo angekommen, wurde er an einen anderen Dienstort versetzt und die ganze Familie zog wieder um in einen anderen Bahnhof. Vielleicht haben mein Fernweh und mein Zuhausesein in fremden Welten damit zu tun, dass ich meine Kindheit immer in Bahnhöfen verbracht habe? Immer bereit zu einer Reise in die Fremde und in fremde Welten. Oder ist es ein allgemeines Schicksal der heutigen Menschen, dass das Empfinden von Heimat weitgehend verloren gegangen ist? Wir sind heute Weltbürger und eigentlich nirgendwo mehr zu Hause. Vielleicht sind wir modernen Menschen alle in irgendeiner Weise Heimatvertriebene?

Der heilige Berg des Eichsfeldes, an dessen Fuß ich geboren wurde, heißt seit etwa 1700 der »Hülfensberg«. Seit dieser Zeit sind Wallfahrten auf den Berg bezeugt, bei denen man auf den Berg zog, um dort um ‚Hülfe‘ zu beten. Aber in einer alten päpstlichen Urkunde aus dem 13. Jahrhundert heißt er der »Stuffenberg«. Der Stuff oder Stauf ist ein kegelförmiges Trinkgefäß. In der alten Sprache hieß es: »den stouf den er da hie tranc, der genædige Christ, ... des muz wir alle bichorn - Den Stauf, den hier trank der gnädige Christ(us), den müssen wir alle büßen«. Der Stuffenberg oder Stauffenberg ist also ein kegelförmiger Berg, geformt wie ein umgestürzter Trinkbecher.

In einer noch älteren Sprache ist der Berg ein Biel oder Bühl oder Bühel: »als ich sah ewrer schneeweiszen brust bezauberende bühl«. Ein Bieler, ist jemand, der am Biel, am Berg wohnt. Im fränkischen Dialekt, der hier gesprochen wird, wo ich heute wohne, heißt der Berg der Bell. Ich wohne oben am Bell und der gleicht - von der Ferne gesehen - einem Kegel. Also ist es ein Stuffen-bell. Das Dorf heißt heute Oberrüsselbach. Aber früher haben die Bauern unten im Tal ‚die dort oben am Berg‘ nur die »Beller« genannt.

So ist der Stuffenbiel, also der Hülfensberg mein Namensgeber. In der Umgebung des Hülfensberges gibt es viele Staufenbiels. Und irgendwie wohne ich heute wieder am Bell - am Berg. Herkunft ist Zukunft!

Eine alte Legende sagt, dass der heilige Bonifatius bei Geismar eine heilige Eiche des germanischen Gottes Donar gefällt haben soll. Es gibt viele Orte mit dem Namen Geismar. Die Eichsfelder aber sind fest davon überzeugt, dass die Donar - Eiche auf dem Hülfensberg bei Geismar im Eichsfeld stand. Bonifatius soll sinnend auf dem Berg gestanden, weit in die Landschaft geschaut und den Spruch getan haben: »Wann wird Friede schweben über dieser Aue?« Daraus sollen die Ortsnamen Wanfried, Frieda, Schwebda und Aue im Werratal auf der hessischen Seite entstanden sein. Wanfried wurde dann später der Ort, in dem ich die Schule besucht habe.

Diese Geschichte zeigt schon, dass der Hülfensberg an der Grenze zweier Länder steht. Er liegt im thüringischen Eichsfeld und er schaut ins hessische Werratal. Genauer besehen ragt er mit seinem Fuß ohnehin ins hessische Nachbarland. Ich glaube diese Geschichte allerdings nicht so ganz, weil Bonifatius ein Ire war und er mit Sicherheit kein Hochdeutsch gesprochen hat. Allenfalls hat er eine Mischung von Mittelhochdeutsch, Gälisch und Latein gesprochen, das die am Hülfensberg Ansässigen ohnehin kaum verstanden haben. Aber es ist immerhin eine schöne Geschichte, die ein wenig Heimatgefühl erzeugt. Auf jeden Fall besagt sie, dass der Hülfensberg schon weit in keltischen Zeiten ein kultischer Ort gewesen sein muss, auf dem keltische Gottheiten verehrt wurden. Weil der Berg direkt auf der Grenze zwischen zwei Ländern lag, bin ich gewissermaßen mit dem einen Fuß in Thüringen und dem anderen in Hessen geboren worden.

Der dicht bewaldete Hülfensberg ist weithin sichtbar, sowohl in Thüringen als auch in Hessen. Das riesige Kreuz auf dem Gipfel lässt den Berg schon von weit her als heiligen Berg erscheinen. Nach der Teilung Deutschlands verlief die Grenze nur knapp tausend Meter unterhalb des Berges. Damit war der heilige Berg Sperrgebiet und niemand durfte ihn betreten, es sei denn, er hatte eine ausdrückliche schriftliche Erlaubnis von der Volkspolizei bekommen. So kam es, dass ich das Haus meiner Geburt, den Bahnhof Großtöpfer, der direkt am Fuße des Hülfensberges / Stuffenberges liegt und zum Ort Geismar gehört, erst viele Jahre später, erst nach der Wende, wieder gesehen habe.

Damals gab es die erste Möglichkeit, ohne Grenzformalitäten die DDR zu besuchen. Ich fuhr mit dem Auto über die Grenze, die damals noch von Volkspolizisten bewacht war. Freundlich beugte sich der Grenzbeamte herunter, schaute zum Fenster hinein. Mein Tibet Terrier tobte und bellte, weil er meinte, das Auto verteidigen zu müssen. Aber der Grenzbeamte lachte nur und wünschte eine gute Fahrt.

Aber als ich den Bahnhof nach Jahrzehnten wieder sah, schoss es wie ein Blitz durch mein Herz: Dort bin ich geboren. Ich hatte das Haus nie wieder gesehen, aber das Bild lag noch tief in meinem Herzen geborgen. Das Wiedererkennen durchfuhr mich wie ein kleiner Schock.

Aber ich konnte das Haus nicht besuchen, denn dort war noch die Hundestaffel der Grenzsoldaten stationiert. Die scharfen Hunde liefen zwischen den beiden Grenzzäunen, dem inneren und dem äußeren Zaun, und stellten jeden potentiellen Flüchtling. Sie hatten zwar ihre Aufgabe verloren, aber noch tobten sie im Zwinger am Bahnhof.

Ich hatte einmal in den Semesterferien in Frieda in der Fabrik gearbeitet, die später mein Klassenkamerad von seinem Vater übernommen hat. Vor dort aus war es fast nur einen Steinwurf weit bis zu meinem Geburtshaus. Aber man konnte es weder sehen noch besuchen. Die Zonengrenze zog sich in einem Waldstück direkt hinter der Fabrik zwischen den Ländern hin und trennte uns nahezu unüberbrückbar. Heute zieht sich »das grüne Band«, ein Wanderweg entlang der Grenze, oft noch auf den alten Betonpfaden dahin, die auf der DDR Seite angelegt worden waren. Aber den Hülfensberg konnte man auch in Wanfried, durch die unüberwindliche Grenze unendlich weit entfernt von meinem Geburtsort immer zu sehen. So blieb die unstillbare Sehnsucht stets im Herzen.

Schon seit dem Mittelalter war der Berg Ziel vieler Wallfahrten. Tausende Menschen strömten auf den Berg. Aber in den Zeiten der DDR durften maximal dreihundert Menschen und nur mit Sondergenehmigung der Volkspolizei an der Wallfahrt teilnehmen. Am 4. November 1989, nur wenige Tage vor der Grenzöffnung, zogen spontan etwa 3000 Menschen aus den umliegenden Dörfern zu einer nicht genehmigten Wallfahrt auf den heiligen Berg. Sie hatten sich auf einer Kirchweih getroffen. Die Nachricht, dass man auf den Hülfensberg wallfahrten wollte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Gegend. Und es war wie ein Wunder, dass die Volkspolizei tatenlos zuschaute.