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9.


„Hast du Sergeant Zattig getötet?“, fragte mich der schmächtige Kommandant und kratzte sich den struppigen Bart.

„Na los, was gibt es denn da lange zu überlegen?“ Der Wächter hinter mir hieb mir den Gewehrkolben in die Hüfte. Der Schmerz durchfloss mich wie eine Feuerlanze.

Tränen rannen aus meinen Augen, so sehr ich mich auch dagegen wehrte.

Der Captain hieß Wirz. Er war der Kommandant des Lagers. Ich hatte von ihm gehört, aber ihn nie vorher gesehen. Er war ein gebürtiger Schweizer, wie ich gehört hatte. Ich wusste nur, dass die Schweiz ein Land in Europa war, und Europa war so weit weg wie der Mond.

Wirz blieb stehen und kratzte sich erneut im Bart. „Es ist egal, wer Zattig erstochen hat. Hängen werdet ihr alle vier.“

Ich stellte mich mühsam gerade.

Wir befanden uns im Dienstzimmer des Kommandanten. Das war ein einfacher, spartanisch eingerichteter Raum mit der konföderierten Fahne an der Wand und einem aus Brettern zusammengenagelten Schreibtisch, hinter dem ein zerfledderter Sessel stand.

„Ihr werdet hängen“, wiederholte der schmächtige Mann. „Morgen, wenn der Tag graut, Ronco!“

Das formlose Urteil traf mich hart, obwohl ich mit nichts anderem hatte rechnen können. Alle waren gehängt worden, die jemals versucht hatten, zu fliehen. Warum sollte es mir und den drei Kameraden anders ergehen. Ich musste an die Leichen unter dem Galgenbaum denken, die noch dort hingen und von den Krähen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden waren. Das also war nun das Ende ...

„Abtreten!“, befahl Wirz schroff und mit böse funkelnden Augen.

„Los, los, du hast doch gehört, was der Captain gesagt hat!“, rief der Wachtposten und stieß mir den Kolben seines Gewehres in die Hüfte.

Ich prallte abermals gegen die Wand, wurde an der Schulter gefasst und weggezogen. Ich taumelte durch den Raum zur Tür, öffnete sie und lief durch einen fast finsteren Flur, in dem es keine einzige Lampe gab.

Die Haustür der Blockhütte stand offen. Draußen warf der Wind Sand über den Boden, und es heulte und pfiff in der Luft.

„Zu den Arrestzellen, mein Freund. Dort kannst du noch achtzehn Stunden darüber nachdenken, wie schlecht es die Welt mit dir meint!“ Der Soldat lachte hämisch und schlug wieder nach mir.

Ich stolperte und stürzte. Der scharfe Sand riss mir das Gesicht auf.

„Aufstehen!“

So schnell ich konnte, raffte ich mich auf, um so wenige Tritte wie nur möglich zu kassieren. Ich schleppte mich zu den Bretterbuden weiter, die als Arrestzellen dienten. Eine davon stand offen. Ich hatte sie schon fast erreicht, als der Wächter hinter mir mit einem Satz vorsprang, um mir wenigstens noch einen Hieb verpassen zu können. Gegen die Schulter getroffen taumelte ich in den stinkenden, zugigen Bau und knallte gegen die Wand.

Die Tür schlug zu und wurde verriegelt.

Ich ließ mich zu Boden sinken und blickte in die nächste Zelle. In der Zwischenwand fehlte ein Brett, und so konnte ich Olf sehen, dessen Gesicht noch schmaler und faltiger geworden war.

Die Zellen waren quadratisch, vielleicht anderthalb mal anderthalb Yards. Zwischen den einzelnen Brettern klafften daumenbreite Ritzen, so dass der Wind fast ungehindert hindurchpfeifen konnte.

Eine andere Tür wurde hinter meinem Rücken geöffnet. „Los, jetzt du, Halunke!“, sagte der Wächter.

„Ich habe eine Frau daheim!“, bettelte der Farmer aus Maine. „Mich könnt ihr doch am Leben lassen. Ronco, was hat er gesagt?“

Ich gab keine Antwort.

„Ronco ...“

„Los jetzt, oder ich schleife dich über den Hof, du Jammerlappen!“

„Ich bin doch nur mit den anderen mit. Der Tunnel war nicht meine Idee. Ich kann das beschwören. Und ich habe auch Sergeant Zattig nicht getötet. Bestimmt, ich war das nicht. Ich habe ja kein Messer. Es gehört Olf!“

Ich sah das jähe Aufblitzen in Olfs Augen.

Hinter mir waren ein Krachen und Romans lautes Jammern zu hören. Er schien die Zelle zu verlassen.

Die Schritte entfernten sich.

„So sind sie immer“, sagte Olf resignierend. „Wollte er wissen, wer Zattig gegeben hat, was er verdiente?“

„Ja. Aber nur am Rande.“

„Hast du es ihm gesagt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Wozu? Es hätte meinen Kopf nicht retten können.“

„Du hättest es auch nicht gesagt, wäre der Kopf dadurch aus der Schlinge gerutscht, mein Junge. Du nicht! Dazu muss man ein Waschlappen wie Roman sein. Oder wie Tully! Hörst du ihn?“

Ich wandte den Kopf und lauschte, weil Tully in der übernächsten Zelle hinter mir stecken musste. Das leise Jammern war mir vorher entgangen.

„Der Kerl ist nichts weiter als ein ganzer Sack voller Tränen“, sagte Olf verächtlich. „Wann?“

Ich blickte ihn nicht begreifend an, weil seine Gedankensprünge zu schnell erfolgten.

„Wann?“, schrie er mich an.

„Meinst du, wann es so weit ist mit uns?“

„Verdammt, was denn sonst! Stell dich doch nicht so an. Also?“

„Morgen, wenn es Tag wird.“

Es dauerte nicht sehr lange, dann wurde der Farmer zurückgebracht und in seine Arrestzelle gestoßen.

„Ich habe doch nichts getan“, jammerte Roman.

„Jetzt du!“, rief der Wächter weiter entfernt. Er holte Tully, der sich das Urteil von Captain Wirz anhören sollte. Sie wahrten das Reglement, zumindest dem Anschein nach.

„Ich habe eine Frau!“, rief Roman. „Olf, sag du ihm, dass ich mit dem Tod von Zattig nichts zu tun hatte!“

Olf gab ihm keine Antwort.

„Wir hätten uns nicht so lange bei dem Farmer am Wald aufhalten dürfen.“ Ich blickte zu Olf hinüber. „Am besten hätten wir einen Bogen um die Farm geschlagen.“

„Dann wären wir um den schönen Speck, den Schinken und das frische Brot betrogen worden, mein Junge.“ Olf lächelte und verdrehte selig die Augen. „Der Schinken zerging richtig auf der Zunge. Schon für den hat es sich gelohnt.“

Mir lief bei dem Gedanken der Speichel im Munde zusammen, gleich darauf hörte ich das Klappern von Blechnäpfen vor der nahen Küchenbaracke.

„Mann, mir knurrt der Magen“, redete Olf weiter.

„Sie werden uns nichts geben“, erwiderte ich. „Wir sind morgen tot. Wozu sollen sie noch Essen an uns verschwenden?“

Bald darauf wurde Tully zurückgebracht und eingesperrt. Ich hörte den Wächter an der Arrestzelle vorbeigehen, in der ich auf dem Boden hockte. Olfs Zelle wurde aufgeschlossen.

„Jetzt kannst du dir deine Kiste abholen“, sagte der Soldat draußen vor den Zellen.

Olf stand auf. „Ich würde mir lieber etwas zu essen holen. Wie steht es damit?“

Der Posten lachte: „Dann bist du zu schwer, und der Strick reißt. Das wollen wir doch nicht riskieren. Du brichst dir womöglich ein Bein.“ Er lachte immer noch, als habe er den besten Witz der Welt gemacht.

Die Tür fiel zu, pendelte aber wieder ein Stück auf. Ich sah den hellen Streifen durch das Loch in der Wand, stand auf und trat gegen das nächste Brett neben dem Spalt. Die Zellen waren so dürr wie Zunder. Das Brett flog hinüber in den Raum. Ich zwängte mich durch den Spalt, schob die Tür auf und sah Olf vor dem Wächter mit dem Gewehr im Blockhaus verschwinden.

Wie von Sinnen stürmte ich aus der Arrestzelle und zum Corral, in dem viele Pferde standen.

„Halt!“, befahl jemand hinter mir.

Ein Schuss fiel, eine Kugel strich über mich hinweg.

Vor mir tauchten Soldaten auf. Ich warf mich ihnen entgegen, und es war mir gleichgültig, ob sie schossen. Lieber jetzt schnell gestorben, als langsam eine Nacht lang.

Aber sie feuerten nicht auf mich. Sie schlugen mit Colts auf mich ein. Ich hämmerte dem Kerl vor mir die Faust ins Gesicht, und als er stürzte, sprang ich über ihn weg, setzte über den Zaun und sah ein gesatteltes Pferd in der Herde. Das Tier schnaubte und trabte davon. Ich vermochte das Glück kaum zu fassen, raste dem Tier nach und sprang in den Sattel.

Scharf riss ich den Grauschimmel herum und trat ihm die Absätze in die Seiten. Das Tier wieherte und schnellte vorwärts. Als würden wir fliegen, ging es über die Umzäunung hinweg.

Soldaten warfen sich aus dem Weg, um nicht niedergeritten zu werden. Der Palisadenzaun rückte näher.

Da – wieder ein Schuss aus nächster Nähe. Die Kugel traf den Kopf des Pferdes und ließ es zusammenbrechen. Mit unwiderstehlicher Gewalt wurde ich hochgeschleudert, flog durch die Luft und landete auf dem Boden. Ich rollte ein Stück und sprang wieder auf. Ich wollte noch immer nicht einsehen, dass es nicht ging, stürmte auf den Zaun zu und hatte auf einmal einen Mann und einen Gewehr­kolben vor mir. Der Kolben versperrte mir die Sicht, traf mich gegen die Stirn und warf mich wieder um.


*


Der Wind war eingeschlafen. Das heisere Krächzen der Krähen erfüllte die Nacht. Ich hatte noch immer Schmerzen im Gesicht, obwohl es ungefähr dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Stunden her sein musste, dass mich der Schlag getroffen hatte.

Es war noch tiefe Nacht. Man hatte uns kurz vor Mitternacht in den beiden Zellen zusammengesperrt. Draußen hörten wir die Wachen. Es waren mehr Soldaten, als uns auf der Farm gestellt hatten, und sie standen auf beiden Seiten der Arrestzellen.

Roman jammerte manchmal leise vor sich hin. Tully schluckte und wischte sich immer wieder verstohlen über die Augen. In dem Dunkel war es mehr an den Geräuschen zu bemerken, als zu sehen.

„Es geht ganz schnell vorbei“, sagte Olf in einem Ton, als wäre er bereits einmal gehängt worden und könnte aus Erfahrung sprechen. „Nur wenn sich die Schlinge zuzieht, ist es unangenehm.“

„Hätten wir den Tunnel doch nicht gegraben!“, jammerte Roman. „Ich hatte diese Idee nicht. Ich nicht!“

„Der Tunnel war eine ganz große Sache“, erwiderte Olf. „Das hat sogar der Kommandant zu mir gesagt.“

„Was hat er?“, fragte ich ungläubig.

„Er hat mir gratuliert. Ja, richtig gratuliert. Wegen des Tunnels. Und er sagte, dafür hätte ich eigentlich einen Orden verdient. Aber leider müssten sie mich aufhängen.“

Ich lehnte mich zurück und versuchte, durch die Ritzen etwas zu erkennen. Der neue Tag konnte nicht mehr fern sein. Vor meinem geistigen Auge begann eine Schlinge zu pendeln. Das Herz schlug mir schneller. Der Lebenswille bäumte sich wieder auf und suchte nach einem Ausweg aus der verfahrenen Lage, aber mein noch präzise arbeitender Verstand sagte mir, dass es keinen Ausweg mehr gab.

Draußen knirschte der Sand unter den Stiefeln der Wächter.

Roman stand auf, schlug mit den Fäusten gegen die sich biegenden Bretter und schrie: „Ich will nicht sterben! Lasst mich hier raus!“

Die Tür öffnete sich. Schemenhaft sah ich die Gestalten. Roman erhielt zwei Kolbenschläge und sank zu Boden. Die Tür schloss sich, und der Riegel knirschte.

„Alles sinnlos“, sagte Olf leise.

Roman wimmerte auf dem Boden.

„Wir müssen es wie Männer tragen“, sprach Olf weiter. „Ihr müsst euch nicht den Kopf zermartern, wie ihr hier noch herauskommen könnt, sondern ihr müsst nachdenken, wie ihr es mannhaft ertragen könnt. Nur darauf müsst ihr euch konzentrieren!“

Ich stand langsam auf. Mir war es, als hätte ich etwas gehört. Die Schritte der Wächter waren verstummt. Auch die Krähen meldeten sich seit ein paar Minuten nicht mehr, wie mir jetzt auffiel.

„Was ist denn los?“, fragte draußen eine Stimme.

Plötzlich knatterten überall Schüsse. Rund um das ganze Gefangenenlager wurde geschossen. Der Widerschein von Mündungsflammen war zu erkennen. Schreie waren zu hören. Gestalten stürzten getroffen von den Bastionen herunter.

„Die Yankees sind da!“, brüllte eine Stimme.

„Mein Gott!“ Roman sprang auf und umarmte mich. „Mein Gott, unsere Leute! General Shermans Armee hat das Lager umstellt!“

Die heftigen Musketensalven hielten ein paar Minuten lang an, immer erneut untermalt vom Geschrei der Getroffenen. Dann verstummte das Feuer, und eine Stimme rief: „Werft die Waffen weg und kommt mit erhobenen Händen zum Hauptausgang!“

Wir standen im Dunkeln unserer Todeszellen und starrten in die Schwärze der zu Ende gehenden Nacht.

Schritte entfernten sich. Es wurde still. Die Zeit verstrich. Schließlich trat ich gegen die Tür, dass der Riegel abgerissen wurde und zu Boden fiel. Die Tür schwang auf.

Draußen war niemand. Ich verließ die Zelle und roch den Schwarzpulverrauch, der die Luft wie einen schleimigen, zähen Nebel erfüllte. Weit entfernt hörte ich Kommandos. Drüben, im anderen Teil des Lagers, hob Siegesgeschrei unter den ausgemergelten Gestalten an.

Olf, Roman und Tully liefen an mir vorbei. Ich wollte ihnen schon nach, als ein Schatten auf mich zusprang und gegen mich prallte. Bei dem Versuch, mich zur Wehr zu setzen, spürte ich das zottige Fell eines Hundes und erkannte, dass es Shita war.

Mein lieber Freund sprang in die Höhe und jaulte und winselte. Ich kraulte ihm das Fell und begriff nur langsam, wie gut es gewesen war, dass sie gestern nicht auf mich geschossen hatten, als ich ein letztes Mal zu fliehen versuchte. Ich kniete und umarmte den jaulenden Hund, bis ich Captain Frazier sagen hörte: „Da bist du ja, Ronco!“

Der Adjutant mit dem Knebelbart stand zwischen ein paar Unionssoldaten. „Ich hatte erst gar nicht gesehen, wohin der Hund läuft.“

Ich richtete mich auf und blickte nach Osten. Dort war der erste Schimmer des neuen Tages zu sehen – der letzte Tag, der mir nach dem Willen von Captain Wirz hatte beschieden sein sollen.

„Shita hat die Nachricht wohlbehalten zurück­gebracht“, sagte Captain Frazier.

Ich kraulte meinem Hund den Nacken.

„Ja, auf Shita war schon immer Verlass, Sir.“

„Wieso bist du eigentlich auf dieser Seite des Lagers?“

„Das ist eine ziemlich lange Geschichte, Captain. Und keine sehr schöne. Die erzähle ich Ihnen bei anderer Gelegenheit.“

„Wie du willst. Übrigens, deinen Hengst haben wir auch gefunden. Der ist aber im Augenblick bei General Shermans Tross, der in dieser Stunde Andersonville erreichen dürfte. Hörst du das Kanonenfeuer?“

Ich lauschte, hörte aber nur das Jubeln der befreiten Gefangenen.

„Na, du wirst es schon noch hören.“ Captain Frazier wandte sich ab und ging mit seinem Soldaten in das Dunkel zurück.

Langsam folgte ich den Männern mit Shita.

Als wir später nach Andersonville kamen, hatten die Unionstruppen die Stadt bereits eingenommen. Ich erhielt meinen Braunen wieder und ritt mit Shermans Truppen weiter durch Georgia. Der erste Schnee fiel. Der Wind, der von der nahen Atlantikküste heranstrich, nahm an Stärke und Kälte wieder zu.

Aber die Südstaaten befanden sich bereits im militärischen Todeskampf. Ihre Streitkräfte zersplitterten und zerfielen, und überall mangelte es an Lebensmitteln und Munition. Das Ende des blutigen, langen Krieges rückte näher.


RONCO



In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

2711 Dietmar Kuegler Pony Express

2712 Dietmar Kuegler Todgeweiht

2713 Dietmar Kuegler Revolvermarshal

2714 Dietmar Kuegler Goldrausch

2715 Dietmar Kuegler Himmelfahrtskommando

2716 Dietmar Kuegler Im Fegefeuer

2717 Dietmar Kuegler Die Ratten von Savannah

2718 Dietmar Kuegler Missouri-Guerillas


Dietmar Kuegler


Im Fegefeuer






Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-165-6

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Colorado Mann


von Dietmar Kuegler


24. Oktober 1880

In den letzten Wochen habe ich mehrfach gedacht, es geht nicht weiter. Es war eine schlimme Zeit, in der ich häufig das Gefühl hatte, der Tod Lindas habe auch mein Leben beendet. Aber da ist noch immer Jellico, mein Sohn. Ich habe mich entschlossen, ihn zu einem Ort zu bringen, wo er sich in Sicherheit befindet und alle Fürsorge erhält, die nötig ist, um ihn zu einem aufrechten Kerl heranreifen zu lassen.

Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig ist. Ich weiß, dass der Ort gut gewählt ist.

Ich bin in Texas. Jellico sitzt vor mir im Sattel. Nur noch wenige Meilen, dann sind wir dort, wo meine Geschichte begann: In der Mission der spanischen Padres am Pease River. Dort bin ich aufgewachsen, dort habe ich glückliche Jahre verbracht, bis ein verräterischer Armeescout mich verschleppte und an die Apachen verkaufte, wo ich zeitweise als weißer Indianer aufwuchs und zum Mann wurde.

Ich will, dass auch Jellico bei den Padres aufwächst, die mir einst das Leben retteten und alles taten, mich nicht spüren zu lassen, dass ich allein auf der Welt stand. Nur ihnen kann ich Jellico anvertrauen. Ich weiß, dass mein Sohn gut bei ihnen aufgehoben ist.

Ein eigenartiges Gefühl hat mich erfasst, seit ich mich wieder in dem Land befinde, das einmal meine Heimat war. Mehr als zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Meine Vergangenheit steht vor mir, klar und deutlich, jede Einzelheit. In diesem Land nahm alles seinen Anfang. Damals ahnte ich noch nicht, was das Leben mir alles bringen würde. Ich war ein Kind und wusste nichts.

Ich wuchs auf, erst bei Mönchen, dann bei Apachen, dann musste ich meinen eigenen Weg finden. Ich war ein Tramp, ritt im Pony Express, sah den Goldrausch von Montana.

Während ich mich in den Territorien des weiten Westens herumgetrieben hatte, war der Bürgerkrieg zwischen dem Norden und dem Süden ausgebrochen. Als ich Mississippi erreichte, beschloss ich, um das Kriegs­geschehen einen weiten Bogen zu machen. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich bereits mittendrin steckte und niemand sich in diesen Tagen den Ereig­nissen entziehen konnte.

Wie viele andere musste ich mich entscheiden. Ich blieb im Norden. Ich hasste die Sklaverei in jeglicher Form. Die Freiheit ging mir über alles. Mehr als woanders hatte ich ihren Wert bei den Indianern kennengelernt. Daher gab es für mich keinen Zweifel, dass ich an die Seite des Nordens gehörte, gegen die Sklavenhalter im Süden. Auch wenn ich später begriff, dass auch die Freiheit im Norden alles andere als ein Paradies war.

Als ich Mitte Juli 1864 Mississippi als ziviler Kurierreiter der Unionsarmee verließ, lagen einige Ereignisse hinter mir, die mich direkt mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert hatten. Ich ritt nach Georgia, in der Satteltasche meines hässlichen braunen Hengstes eine versiegelte Nachricht für General Sherman, dessen Truppen vor der Hauptstadt des Staates, Atlanta, aufmarschiert waren. Ihr Fall stand unmittelbar bevor, und General Sherman hatte große Pläne, die er mit den übrigen Truppenkommandeuren abstimmen wollte. Das war der Inhalt der Depesche, die ich zu befördern hatte. Mehr wusste ich nicht darüber. Aber es wurde viel gemunkelt. Gerüchte gingen um. Doch ich hatte schon gelernt, darauf nichts weiter zu geben. Außerdem konnte ich ja ohnehin nichts ändern. Ich hatte mich für den Norden entschieden und folgte loyal meinen Aufträgen.

Als ich das Heerlager Shermans am 21. Juli 1864 erreichte und die Botschaft ablieferte, lag ein anstrengender Ritt hinter mir. Alles war glattgegangen. Ich konnte zufrieden sein. Ich war noch nie in Georgia gewesen und gedachte auch nicht, lange zu bleiben.

Ich ahnte nicht, dass es anders kommen würde.



1.


Graue Nebel wallten aus den Niederungen, als ich verschlafen aus dem Zelt kroch. Das ganze Heerlager General Shermans war bereits auf den Beinen. Blau­uniformierte Männer hasteten an mir vorbei und zurrten im Laufen ihre Koppel fest. Scharf und knapp hallten die Kommandorufe der Offiziere durch den Frühdunst. Links von mir tauchte ein Trompeter mit einer Regimentsfahne in den Händen auf. Er war kaum älter als ich.

„Wir greifen Atlanta an!“, rief er mir zu, dann war er schon vorbei. Ich ging zurück ins Zelt, schnallte meinen Waffengurt um und nahm meinen Sharps-Karabiner. Shita bellte erwartungsvoll und wedelte mit dem Schwanz, als ich wieder aus dem Zelt trat. Ich bückte mich und strich ihm über den Kopf.

„Das ist nicht unser Bier, Alter“, sagte ich. „Wir werden uns daran nicht die Köpfe einrennen.“

Am Westende des Lagers formierte sich die Kavallerie. Ich sah General Sherman. Er saß auf einem mageren Pferd und hatte einen scheußlichen Schlapphut auf dem Kopf. Sein roter Bart wirkte zerzaust. Er trug den knielangen Uniformrock bis zum Hals zugeknöpft.

An der Kavallerie vorbei rollten die Artilleriebatterien in die vordersten Stellungen. Sie bezogen auf den Hügeln über der Stadt, die im dichten Frühnebel nur schemenhaft zu erkennen war, Stellung.

Als die ersten Strahlen der Sonne die Nebelschleier durchbrachen, ertönte ein blechernes Hornsignal. Die Infanterie rückte vor, eine unübersehbare Masse von Männern in blauen Uniformen, langläufige Springfield-Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett in den Fäusten. Trommeln begannen zu dröhnen, bald übertönt vom Hufgetrappel vieler Pferde, als die Kavallerie an den Flanken der Infanterie vorbeirückte und die Geschützstellungen umging.

Unvermittelt krachten die ersten Kanonen. Dumpf grollend hallten die Detonationen durch den Morgen. In gleichförmigem Rhythmus wurden die Batterien ­abgefeuert. Mächtige Feuerblitze stachen auf die Stadt in der Ebene zu.

Die Nebelschwaden lösten sich auf und trieben im leichten Frühwind wie die Fetzen eines Bahrtuches über die Hügel und das Militärlager.

Atlanta lag in der Morgensonne vor den Truppen der Union, umgeben von flüchtig aufgeschütteten Schanzen und Wällen und flachen Schützengräben. Die Gebäude am Stadtrand waren bereits von Granateneinschlägen gezeichnet. Zwischen prächtigen, hohen weißen Steingebäuden mit Marmorsäulen vor den Eingängen ragten schwarze Brandruinen auf. Abfallhalden türmten sich an den Straßenrändern. Streunende Hunde und Katzen kämpften mit zahllosen Ratten um den Unrat. Aber es gab nicht mehr viele Tiere in Atlanta. Der Hunger ging in der seit Wochen eingeschlossenen Stadt um. Hunde und Katzen wurden geschlachtet und gegessen, um den ärgsten Hunger zu stillen, und wenn die Belagerung noch länger andauerte, würde es in Atlanta wohl bald gebratene Ratten als Delikatesse geben.

Zwischen den von der Nordarmee besetzten Hügeln und der Stadt befand sich ein langgestrecktes Lager der konföderierten Armee unter General Hood. Von dort ertönten jetzt Trompetensignale. Soldaten stürmten aus den Zelten und eilten in loser Formation zu den provisorisch errichteten Befestigungsanlagen.

Die Mörserbatterien Shermans nahmen das Lager unter Feuer. Mächtige, hundertzwanzigpfündige Geschosse rasten mit schrillem Pfeifen in hohem Bogen durch die Luft und schlugen zwischen den Zelten der Konföderierten ein.

Jetzt erst begannen auch die Geschütze der Konföderierten zu krachen. Sie rissen Lücken in die geschlossenen Reihen der blauuniformierten Soldaten. Explosionskrater zerfetzten den grünen Rasen der Hänge vor Atlanta.

In der Stadt sah ich Männer durch die Straßen eilen, mit Gewehren und Revolvern bewaffnet, die die Wälle am Stadtrand besetzten, um notfalls von hier aus bis zum Letzten gegen die Einnahme der Stadt zu kämpfen. Die Sonne stieg rasch höher, aber der blaue Himmel verschwand mehr und mehr unter schwarzgrauen Pulverdampfschleiern. Eine Dunstwolke penetranten Gestanks von Pferdeexkrementen, Schweiß, verbranntem Stoff, Blut und Eiter lag über dem Schlachtfeld. Das schrille Wiehern sterbender Pferde vereinigte sich mit dem Gebrüll von Verletzten und dem pausenlosen Krachen von Schüssen, dem Donnern der Kanonen zu einer Symphonie des Todes.

Männer in grauen, zerfetzten Uniformen, mit pulver­geschwärzten Gesichtern, preschten wie reitende Teufel auf ihren Pferden heran und warfen sich der Unions­kavallerie entgegen. Mit lautem Gebrüll und Hurra­geschrei stürmte Shermans Infanterie die Befestigungen der Konföderierten.

Mit unvorstellbarer Wucht stießen die gegnerischen Truppen zusammen. Blut netzte den Boden, der von Granateneinschlägen zerpflügt, von Pferdehufen und den Stiefeln der kämpfenden Soldaten zerstampft wurde.

Gewehre knatterten, Sprengladungen detonierten. Ein Kampf Mann gegen Mann entbrannte. Schon bald bedeckten die Leichen grau und blau uniformierter Soldaten die Hänge vor Atlanta.

Das Zeltlager der konföderierten Armee brannte lichterloh. Einige Granaten hatten den Stadtrand erreicht. Auch hier schlugen Flammen hoch.

In vorderster Linie erhob sich wildes Gebrüll. Verzweifelte Stimmen schrien nach dem Sanitätswagen. Ich sah General Sherman quer über das Schlachtfeld galoppieren. Der linke Ärmel seines Uniformrocks war zerfetzt, er blutete. Er ritt zwei Südstaatler nieder. Fast gleichzeitig schlug unmittelbar am Fuß des Hügels, auf dem Shita und ich uns befanden und das Kampfgeschehen beobachteten, eine Kanonenkugel ein.

Ich zog es vor, die Stellung zu wechseln, und verließ die Anhöhe, gefolgt von Shita, um mich in Deckung zu bringen. Wenig später polterte ein Sanitätswagen über das Schlachtfeld und hielt vor dem grauen Zelt des Feldschers, der seit einiger Zeit pausenlos operierte. In durchbluteten Körben schleppten Männer amputierte Glied­maßen heraus.

Auf den Anhöhen erschien ein Reiter und brüllte nach dem Tross.

„Wir schaffen es!“, schrie er. Seine Stimme überschlug sich fast. „Die Rebellen flüchten!“

Er riss sein Pferd herum und war schon wieder verschwunden, während sich Munitionswagen in Bewegung setzten und auf das Schlachtfeld hinausrollten.

Zusammen mit Shita ging ich zurück auf eine Anhöhe und schaute über die Toten hinweg zu den Schanzen der Südstaatler hinüber.

Das Lager General Hoods war völlig niedergebrannt. Das Feuer hatte teilweise auch Buschwerk und Gras der Ebene erfasst. Überall lagen Leichen.

Ich verließ den Hügel. Wind strich über das Land und trug mir den bitteren Geruch des Todes nach. Mir war ein wenig übel. Ich hustete. Pulverdampf reizte meine Schleimhäute. Ich begab mich zum Kantinenzelt.

Die Feldküche war trotz der Schlacht in Betrieb. Ich ließ mir ein Glas Wasser geben. Ich hatte an diesem Tag noch keinen Bissen zu mir genommen, aber ich spürte keinen Hunger, ich spürte nur einmal mehr die Entsetzlichkeit des Krieges. Shita neben mir hatte nicht solche Gefühle. Er winselte und jaulte, bis ich ihm einen Knochen besorgte. Während ich im Gras saß und ihm zuschaute, wie er mit seinen kräftigen Zähnen das zähe Fleisch von dem Knochen fetzte, dachte ich, dass man sich in Atlanta vermutlich um so einen Knochen prügeln würde.