Wie ein roter Feuerball stand die aufgehende Sonne halbrund am Horizont. Der Wind raschelte durch das hohe, trockene Gras. In dem feinen morgendlichen Dunstschleier formte sich eine dunkle Silhouette, das Trommeln von Hufen dröhnte dumpf auf der Erde.
Ein schwarzes Pferd wurde sichtbar, löste sich aus dem Dunst, jagte mit dem Wind dahin. Weit holten seine langen schlanken Beine aus, ohne jede Anstrengung flogen sie über den Boden. Die Muskeln spielten unter dem schwarzen Fell, das wie Seide im frühen Tageslicht schimmerte. Der Hengst schien die Freiheit zu genießen, im rasenden Lauf machte er ein paar übermütige Bocksprünge. Wie Wellen flossen die Bewegungen durch seinen Körper und ließen Mähne und Schweif tanzen.
Jetzt erreichte der Schwarze den Waldrand. Kurz hob er den Kopf, mit einem leichten Zittern weiteten sich seine geblähten Nüstern noch ein wenig mehr. Dann preschte er ohne zu zögern hinein in das kühle, duftende Grün. Doch nach wenigen Sprüngen gabelte sich der Weg. Der Hengst wurde langsamer und hob den Kopf. Sein Blick ging nach links, dann nach rechts. Welchen Pfad sollte er nehmen?
Lous Herz verkrampfte sich im Schlaf. In ihrem Traum flog sie mit dem schwarzen Pferd dahin, sah die Welt mit seinen Augen, spürte seine Kraft und Lebendigkeit in jeder Faser ihres Körpers.
Der Hengst entschied sich für den linken Pfad. Lou wollte ihn daran hindern, wusste jedoch nicht wie. Von beiden Seiten ragten Äste in den schmalen Weg, peitschten Schultern und Flanken des Hengstes. Immer wieder duckte er tief den Kopf, um seine Augen zu schützen. Plötzlich tat sich in einiger Entfernung etwas Schwarzes vor ihm auf, ein dunkles Loch, hinter dem das Nichts gähnte. Der Hengst hielt darauf zu, ohne seine Geschwindigkeit zu drosseln.
Lou schrie auf. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, sie stöhnte. Aus weiter Entfernung hörte sie eine helle Stimme.
„Lou! Lou, wach auf! Du hast schlecht geträumt!“
Keuchend riss Lou die Augen auf. Ihr Herz raste, sie war nass geschwitzt. Benommen sah sie sich um. Sie lag in ihrem Bett. Blasse Sonnenstrahlen fielen durch die luftige Gardine vor dem Fenster.
Vor ihr stand Emmie, ihre kleine Schwester, im Schlafshirt und mit wirren Haaren.
Lou richtete sich auf und strich sich eine Strähne ihrer langen dunklen Haare zurück, die an ihren Schläfen klebten.
„Du bist ja ganz nass!“ Emmie trippelte von einem Fuß auf den andern, der Holzboden war kalt. „Schon wieder von ihm geträumt?“
Lou nickte nur. Dieser Albtraum kehrte mittlerweile regelmäßig wieder. Sie schlug die Decke zurück, stand auf und schlang fröstelnd die Arme um ihren Körper. „Wenn ich nur wüsste, was es bedeutet und wer er ist.“
Emmie nutzte den Moment und hüpfte in das vorgewärmte Bett. „Papa hat auch immer von Pferden geträumt, erinnerst du dich?“
Schlagartig zog sich Lous Magen zusammen. Ihr Vater war vor ziemlich genau vier Jahren gestorben. Damals war sie zwölf gewesen, so alt wie Emmie heute. Noch immer tat es weh, wenn jemand auch nur seinen Namen erwähnte. Er fehlte ihr so sehr.
„Vielleicht steht er eines Tages vor dir, ganz plötzlich!“, plapperte Emmie weiter. Sie war immer noch bei dem schwarzen Hengst.
Lou blickte auf ihr Handy. Es war kurz vor sechs – eigentlich früh, denn sie hatten Ferien. Aber den Pferden war das egal, sie warteten auf ihr Futter. Lou schnappte sich ihre Klamotten und ging ins Bad, das sich zwischen ihrem und Emmies Zimmer befand.
In dem großen alten Herrenhaus des Immenhofs gab es reichlich Platz. Besonders das obere Stockwerk mit den großen, hellen Zimmern hatten die Mädchen von Anfang an geliebt. Hier hatten sie sogar direkten Blick auf die weitläufigen Pferdekoppeln rundum.
„Meinst du, er flüchtet vor etwas?“ Emmie gab nicht so schnell auf. „Hauptsache, sie bekommen ihn nicht!“
Lou hielt kurz inne. Die Bilder aus ihrem Traum tauchten wieder vor ihr auf, sie sah das seidige Fell des Pferdes und darunter die geschmeidigen Muskeln. „Er ist unendlich schön, nicht von dieser Welt!“
Emmie seufzte abgrundtief. „Wenn ich doch auch mal so was Aufregendes träumen würde!“
Tautropfen funkelten wie winzige Diamanten an den Spitzen der Grashalme. Über den weitläufigen Koppeln lag Stille, nur ab und zu zwitscherte ein Vogel. Die aufgehende Sonne tauchte die Wipfel der angrenzenden Bäume in ein weiches Licht.
Langsam erwachte der Immenhof zum Leben. Pferde streckten ihre Köpfe aus den Fenstern ihrer Boxen und wieherten erwartungsvoll, als Lou aus der Haustür trat. Mit schnellen Schritten eilte das Mädchen über den gepflasterten Innenhof. Ihr erstes Ziel war der alte Stall, das Zuhause der Islandponys.
Auf den ersten Blick wirkte der Immenhof herrschaftlich und romantisch. Neben dem riesigen Herrenhaus mit seinen Erkern und Türmchen gab es mehrere Nebengebäude, Stallungen und Scheunen, alle weiß gestrichen und rot gedeckt, teilweise mit hübschen Rundbögen und Sprossenfenstern. Der Innenhof war so groß, dass er Platz für eine kleine Koppel und einen gemauerten Brunnen bot. Die Zufahrt wurde begrenzt durch drei große alte Torbögen, vor denen Rosenbüsche wuchsen.
Erst bei genauerer Betrachtung wurde klar, dass der Hof seine besten Tage längst hinter sich hatte. Die Fensterläden des Herrenhauses waren ausgeblichen, manche hingen schief in den Angeln. Überall bröckelte der Putz, zwischen dem Pflaster spross Unkraut, auf den Dächern wuchs Moos. Ein uralter Anhänger parkte vor der Scheune, zusammen mit einem rostigen roten Pick-up. Ausrangierte Möbel und Werkzeuge waren notdürftig unter Vordächern verstaut.
All das fiel Lou schon gar nicht mehr auf. Auch der baufällige Isländerstall, an dem sich seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts wenig verändert hatte, störte sie nicht. Im Gegenteil, sie liebte das graue, angenagte Holz der Boxenwände, das diffuse Licht, das durch die morsche Tür und die kleinen Fenster fiel und die tanzenden Staubpartikel beleuchtete.
Die großen Boxen wurden nur mit Stangen zur Stallgasse abgetrennt. In einer Ecke schaukelte ein Traumfänger, dessen silbrige Fäden in den Sonnenstrahlen funkelten.
Lou lächelte. Diesen Moment liebte sie. Ein ganzer langer Tag auf dem Immenhof lag vor ihr.
Sie ging zu der Futtertruhe, in der ein paar halb leere Hafersäcke, Kleie und Mineralfutter lagerten. Getrocknete Kräuter hingen zu kleinen Sträußen gebündelt von der Decke. In dem Regal darunter befand sich ein Sammelsurium von Tiegeln und Bechern mit speziellen Futterzusätzen.
Lou holte Eimer hervor und begann das Futter für die 40 Pferde zuzubereiten. Eine Liste brauchte sie nicht, sie hatte genau im Kopf, wie viel und was jedes Pferd bekam.
Zwanzig Minuten später lief sie mit den Futtereimern zu den Großpferden im anderen Stalltrakt hinüber – und bekam prompt Gesellschaft. Krümel, das braun gescheckte ehemalige Zirkuspony, folgte ihr hungrig und stieß sie auffordernd mit der Nase an. Dicht dahinter trottete Mikro, das winzige schneeweiße Fohlen, das von Krümel adoptiert worden war.
Lou lachte und wuschelte zärtlich durch die dichten Ponymähnen. „Ihr bekommt am Schluss, das wisst ihr doch.“
Sie schlüpfte in den dämmrigen Stall und begann routiniert das Futter in die Krippen zu verteilen, begleitet vom aufgeregten Brummeln und Stampfen der Pferde.
Lou war unendlich dankbar, dass sie, Emmie und ihre große Schwester Charly nach dem Tod ihres Vaters auf dem Hof wohnen bleiben durften. Immenhof war ihr Leben! Lou liebte jedes einzelne Pferd hier, auch wenn einige alt, krank und gebrechlich waren. Ihr Vater hatte viele von ihnen vor dem Abdecker bewahrt. Auf dem Immenhof sollten sie in Ruhe und Frieden ihren Lebensabend genießen dürfen. Lou stand mit ganzem Herzen hinter der Idee ihres Vaters. Auch wenn ihr im Laufe der letzten Jahre klar geworden war: Für einen Gnadenhof brauchte man vor allem eins, und das war Geld.
Lou seufzte und schaufelte eine letzte Schippe Hafer in die Krippe von Magic, einem Ex-Rennpferd. Mittlerweile hatten die Schwestern echte Probleme, die monatlichen Rechnungen zu zahlen. Futter und Tierarzt verschlangen Unsummen. Weder Lou noch Charly oder Emmie wussten, wovon sie die nächste Heu- und Strohlieferung bezahlen sollten. In spätestens zwei Wochen musste ihnen etwas einfallen, sonst … Darüber wollte Lou gerade lieber nicht nachdenken.
Sie lief zurück und begann eine Spezialportion zuzubereiten. Konzentriert mischte sie Honig unter die Reste des Schwarzkümmelöls und gab vier Hände Hafer dazu. Kaum hatte sie sich umgedreht, kam Krümel anspaziert und tauchte ihre Nase ohne Umschweife in den Eimer.
„Du bist auf Diät, Fräulein“, schimpfte Lou und wedelte mit den Armen, um Krümel zu verscheuchen. Vergeblich. Ein ordentlicher Happen verschwand in dem gierigen Ponymaul.
Emmie bog mit zwei leeren Eimern auf die Stallgasse ein. Sie hatte ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten und eine Basecap aufgesetzt. Weil es heute wieder warm werden sollte, trug sie nur Shorts, eine kurze Bluse und dazu ihre ausgelatschten Lieblingsstiefel. Kopfschüttelnd beobachtete sie, wie Lou nacheinander die verschiedenen Dosen öffnete und mit einem Löffel Pulver und Pellets abmaß. „Was du da immer zusammenmixt!“ Sie stellte ihre Eimer ab. „Wie wär’s noch mit ein bisschen Krötenblut und Krähenfüßen?“
Seelenruhig rührte Lou in ihrer Spezialmischung. „Schwarzkümmelöl ist gut für die Atemwege.“
„Und Hafer für den Magen, ich weiß!“ Emmie inspizierte die Futtersäcke in der Kiste. „Der Hafer ist so gut wie aus. Wir müssen neuen bestellen!“
Lou erwiderte nichts.
„Eigentlich könnten wir in den Ferien doch länger schlafen, oder?“, wechselte Emmie das Thema. Schlafen war zurzeit ihr größtes Hobby. Wenn Lou sie nicht weckte, ratzte sie problemlos bis zehn oder elf.
Doch Lou hatte keine Lust, schon wieder darüber zu diskutieren. „Hast du die Isis gefüttert?“, wollte sie wissen. Es war Emmies Aufgabe, sich um die Isländerherde zu kümmern, die schon seit einer gefühlten Ewigkeit auf dem Immenhof lebte.
Ihre Schwester verdrehte die Augen. „Ja!“
„Und sind die Halfter geputzt?“
Emmie hob die Hände und schlängelte sie wie eine indische Tempeltänzerin durch die Luft. „Ich bin doch kein Oktopus!“
In der Tat. Sie war eher so was wie ein Murmeltier. Aber Lou verkniff sich eine Erwiderung.
„Du, Lou“, begann Emmie nach einer schweigsamen Minute. „Der neue Helfer … Was hat der eigentlich angestellt?“
Vor ein paar Wochen hatten sie erfahren, dass Immenhof einen neuen Stallburschen bekommen würde. Eigentlich super – nur dass der Typ kein richtiger Stallbursche war, sondern jemand, der Sozialstunden ableisten musste. Emmie wusste genau, was das hieß: Er hatte irgendein krummes Ding gedreht.
Lou nahm die beiden Eimer und lief zur Tür. „Er hat zu viel gefragt“, witzelte sie.
Emmie beeilte sich, ihrer Schwester zu folgen. „Aber was, wenn er ein Drogendealer ist – oder ein Mörder?“ Ihre Augen wurden vor Schreck kugelrund.
„Oder einer, der kleine Kinder verschleppt!“, äffte Lou sie nach.
Emmie warf ihr einen unsicheren Blick zu.
„Mir egal“, erwiderte sie schnell, „ich bin ja nicht mehr klein!“
Lou musste grinsen. Emmie versuchte immer, auf cool und erwachsen zu machen, aber die Fassade wackelte bei der kleinsten Erschütterung.
Die beiden überquerten den geschotterten Feldweg hinter dem Gut und erreichten die Koppel, die im Sommer die Heimat von Lous Stute Holly und Emmies Pony Goldie war. Auf dem Koppeltor hingen noch Sattel und Trense von Lous letztem Ausritt.
Emmie redete ohne Punkt und Komma weiter. Sie hatte nämlich im Internet recherchiert – und eine Menge interessante und ziemlich gruselige Dinge herausgefunden. „Weißt du eigentlich, dass achtzig Prozent aller Massenmörder Einzelkinder sind?“ Vor Entsetzen schüttelte sie so heftig den Kopf, dass ihre Zöpfe flogen. „Dass Charly immer solche Loser holt“, fügte sie noch hinzu, aber es klang eher erschüttert als empört.
Lou drehte sich zu ihr um. „Wir brauchen Hilfe, und er muss Sozialstunden ableisten, Zwerg.“ War doch eine ganz einfache Sache. Sie war froh, dass überhaupt jemand kam.
Emmie stemmte die Hände in die Hüften. „Nenn mich nicht Zwerg!“ Doch kaum hatte sie sich umgedreht und ihr Pony erspäht, wurde ihr Stimme zu einem hellen Flöten: „Hallo, Goldie.“ Mit beiden Händen strubbelte sie durch die Mähne und streichelte jeden Quadratzentimeter der kleinen Islandstute. Schließlich hatten sie sich die ganze Nacht nicht gesehen.
Lou rief leise nach Holly, einer schönen braunen Stute mit weißer Blesse. Doch die reagierte nicht. Statt Lou wie jeden Morgen freudig zu begrüßen, stand sie heute etwas abseits, den Blick in die Ferne gerichtet.
Seltsam, sonst war Holly morgens immer die Erste am Tor. Ohne ihr Pferd aus den Augen zu lassen, raschelte Lou mit dem Futter im Eimer, um die Stute zu locken. Doch selbst die Haferkörner konnten Holly nicht aus ihrer Erstarrung lösen. Irgendetwas dahinten beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit.
Goldie dagegen begrüßte ihre Reiterin mit ganzem Einsatz. Sie brummelte, tänzelte, und weil der Eimer nicht schnell genug parat stand, schnappte sie nach dem Schirm von Emmies Basecap und zog sie ihr vom Kopf.
„Hey, das gibt Punkteabzug in der Hab-dich-lieb-Wertung“, beschwerte sich Emmie, aber sie grinste dabei. Mit geübtem Griff wand sie die Mütze aus den Ponyzähnen, und kaum war Goldie das lästige Ding los, versenkte sie ihr Maul im Hafer.
Auffordernd deutete Lou auf den Eimer, doch Holly ignorierte sie.
„Irgendwie verhält sie sich seltsam heute.“ Nachdenklich studierte Lou das Gesicht ihres Lieblings. Es war nicht das erste Mal, dass Holly ihr Sorgen bereitete. Schon seit einiger Zeit versuchten sie, die Stute decken zu lassen, doch Holly wurde einfach nicht trächtig. Auch die ganzen Zusatzfuttermittel halfen nichts.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, trompetete Emmie: „Da kannst du mixen, so viel du willst. Die wird erst trächtig, wenn der Richtige kommt. So ’n Kerl mit Tattoos und Waschbrettbauch!“
Lou schüttelte den Kopf. Emmie hatte wohl mal wieder zu viel in Zeitschriften geblättert. „Tätowiertes Pferd mit Waschbrettbauch, klar!“
„Vielleicht solltest du ihr mal das geben, was alle anderen fressen: Hafer pur!“ Emmie steckte Holly, der sie sich nun angenähert hatte, ein Stück Apfel zu. Immerhin darauf ließ Holly sich ein.
„Hör auf, sie ständig mit süßen Sachen zu füttern!“ Lou holte Sattel und Trense und begann Holly aufzuzäumen. Wenn Holly sowieso nicht fressen wollte, konnten sie auch ausreiten.
Emmie pustete die Backen auf. „Das ist kein Futter, das sind Vitamine.“
Lou warf ihr einen genervten Seitenblick zu, während sie vorsichtig den Sattelgurt anzog. „Wann wirst du endlich erwachsen?“
Emmie grinste. „Gar nicht. Erwachsenwerden ist was für alte Leute.“
Wie aufs Stichwort erschien Charly, die älteste der drei Schwestern. Mit zwei schweren Werkzeugtaschen bepackt hielt sie am Koppelgatter an. Ihre dunkelblonden langen Haare hatte sie zum Half Bun gebunden. Über Shorts und Top trug sie ein weites offenes Hemd und sah wie immer megalässig aus.
„Hast du die Kammer hergerichtet?“, rief sie in Lous Richtung. „Dieser Leon kommt doch heute!“
Lou nahm die Trense vom Zaun. „Das soll Emmie machen. Ich hab noch krass viel zu tun.“ Hieß so viel wie: Hab keinen Bock und geh lieber reiten.
Charly sah sie nur stumm an. Aber zwischen ihren Augen bildete sich eine steile Falte. „Du kannst dich ruhig mal ein bisschen ins Familienleben einbringen.“
Schweigend nestelte Lou den Genickriemen über Hollys Ohren.
„Und dich nicht immer nur verkriechen“, kam die zweite Ermahnung hinterher.
Seit ihr Vater gestorben war, hatte Charly notgedrungen die Elternrolle übernommen. Dabei war sie selbst erst 22 Jahre alt, und ihr Traumberuf war nicht Gestütschefin oder Ersatzmutter, sondern Künstlerin. Aber sie hatte ihrem Dad versprochen, für Lou und Emmie zu sorgen, bis Lou 18 war. Und diese Aufgabe nahm sie ernst.
Lous blaue Augen funkelten. „Tu ich doch gar nicht!“
„Doch, Lou!“, schaltete Emmie sich sofort ein. „Du bist voll der Problemiker! Seit Papa tot ist, kümmerst du dich nur noch um Holly und die anderen Pferde.“
Lous Mund klappte auf und wieder zu. Tausend Erwiderungen schossen ihr durch den Kopf. Irgendwer musste sich schließlich um die Tiere kümmern. Papa hätte es so gewollt. Sie fand alles außer Pferden einfach öde.
Aber Lou blieb stumm. Mit zusammengepressten Lippen schwang sie sich auf Hollys Rücken, wendete und trabte an. Im Galopp verschwand sie hinter dem ersten Hügel auf der Koppel.
Lou liebte das Geräusch donnernder Pferdehufe. Für sie bedeutete es Kraft und grenzenlose Freiheit. Der Wind trieb ihr die Tränen in die Augen, als sie eng an Hollys Hals gedrückt über die hügelige Weide preschte.
Hinter sich hörte sie trappelnde Hufe. Emmie und Charly hatten die Pferde rausgelassen, die ihnen jetzt ungestüm folgten. Buckelnd und hakenschlagend kamen sie heran, ihre Augen leuchteten, ihre Nüstern bebten. Holly wurde schneller, sie fühlte sich von der Herde angespornt. Beruhigend legte Lou ihr eine Hand auf den Hals und drehte sich im Sattel um. Ungefähr dreißig Pferde und Ponys, bunt gemischt in Alter und Aussehen, waren jetzt hinter und neben ihnen. Wild flatterten ihre Mähnen im Wind, ihre Hufe trommelten über das Gras. Aber keins wagte Holly zu überholen, die Stute war die unangefochtene Anführerin der Immenhof-Herde.
Jetzt hatten sie den kleinen Fluss erreicht, der die Koppel querte. Glitzernd spritzte das Wasser hoch, als die Pferde durch das knietiefe Wasser galoppierten. Ein paar erfrischende Tropfen landeten auf Lous nackten Armen.
Sanft nahm sie dann die Zügel auf und bremste die braune Stute. Etwas widerwillig fiel Holly in den Trab. Wie von selbst zog sie Richtung Zaun, denn sie wusste, was jetzt kam: Wie Lous Vater damals ritt Lou jeden Morgen die Koppeln ab, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Manchmal riss der Wind Bäume um, die auf den Zaun stürzten. Oder morsche Pfosten knickten beim Schubbern eines Pferdes einfach um. Pferde entdeckten Schlupflöcher schnell, und eine Herde, die ausbrach, war gefährlich.
Lou galoppierte den letzten Hügel hinauf, als sie links von sich tatsächlich eine Zaunstange bemerkte, die sich vom Pfosten gelöst hatte und schief hinunterhing. Ausgerechnet bei dem Zaun, der den Immenhof vom Nachbargestüt trennte. Dessen Besitzer Mallinckroth war nicht gerade gut auf die Mädchen zu sprechen.
„Oh Mann, langsam geht hier echt alles den Bach runter“, murmelte Lou, parierte ihr Pferd durch und glitt von seinem Rücken. Auch die anderen Pferde fielen in den Schritt. Zum Glück hatte Lou gestern schon daran gedacht, Stricke am Sattel zu befestigen. Sie löste ein dünnes Seil, um die gebrochene Stange hochzubinden.
Während Lou den Knoten festzog, hob Holly plötzlich den Kopf und schnaubte. Lou sah auf. Jetzt wiehert ihre Stute und warf unruhig den Kopf hoch. Besorgt suchte Lou mit den Augen die Umgebung ab. Sie wusste, dass es einen Grund für ihr Verhalten geben musste. Waren Tiere in der Nähe, ein Hund oder Reh? Sie folgte Hollys Blick. Da, ein Geräusch, ganz leise und eigenartig.
„Das kommt vom Moor!“, meinte Lou und spähte angestrengt auf die mit Bäumen und Büschen bewachsene Fläche, die an die Koppeln grenzte.
Holly schnaubte noch einmal, als wollte sie ihr recht geben.
Wieder hörte Lou etwas, das wie ein Prusten oder Ächzen klang. Kein Zweifel, da draußen war jemand in Gefahr, ein Mensch oder ein Tier! Sie eilte zu Holly und schwang sich wieder in den Sattel. Als sie sich umdrehte, blickten dreißig Augenpaare sie erwartungsvoll an. Die Herde hoffte offenbar, dass das rasante Laufspiel weiterging. Doch Lou klatschte in die Hände. „Auf! Nach Hause!“
Prusten und Kopfschütteln war die Antwort. Ein paar Pferde begannen, demonstrativ am Gras zu zupfen. Aber Lou konnte sie hier in der Nähe des kaputten Zauns nicht gebrauchen. Außerdem musste sie jetzt mit Holly die Koppel verlassen.
„Los! Sofort!“, befahl sie streng und wedelte mit den Armen. Zögernd setzte sich das erste Tier in Bewegung, und schließlich folgten die anderen. Im Gänsemarsch ging es zurück Richtung Hof. Lou atmete auf. Vom Pferderücken aus öffnete sie ein schmales Tor und ritt hinaus, geradewegs dem seltsamen Geräusch nach.
Lou kannte das Moor und alle verschlungenen Pfade darin. Vorsichtig lenkte sie Holly über die schmalen Wege, die sie immer tiefer in die Moorlandschaft führten. Obwohl die Sonne schien, stieg von unten kalte Luft auf. Die Erlen wurden dichter, dazwischen schimmerte Sumpfgras und das bräunliche Wasser der Schlammtümpel. Kein Geräusch war zu hören, weder Vogelgezwitscher noch Wind, der durch die Blätter rauschte. Die einzigen Laute waren das leise Knacken von Zweigen, die unter Hollys Hufen brachen. Lou wusste, dass schon ein falscher Schritt verhängnisvoll sein konnte, denn die Tümpel grenzten oft direkt an die befestigten Wege.
Da, wieder hörte sie ein Ächzen, ein dumpfes Stöhnen. Mit klopfendem Herzen hielt Lou an. Ein paarmal rief sie zaghaft in die Stille, doch niemand antwortete. Sie trieb Holly weiter. Hinter der nächsten Biegung entdeckte sie, was Holly alarmiert hatte: ein Pferd, das bis zum Hals im Moor steckte!
Der Anblick ließ Lou nach Luft schnappen. Das Tier hatte Nüstern und Augen angstvoll aufgerissen. Immer wieder unternahm es zappelnde Versuche, sich zu befreien, aber unerbittlich hielt der Schlamm es fest. Wieder drang ein schmerzvolles Grunzen aus seiner Kehle.
„Oh mein Gott!“ Lou atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Sie durfte das Pferd nicht noch mehr in Panik versetzen. Der Rappe war über und über mit Schlamm bedeckt. Teilweise war dieser bereits zu einer hellgrauen Schicht getrocknet; ein Zeichen, dass das Pferd schon seit einiger Zeit hier feststecken musste.
Lou stieg ab und ging zum Rand des Tümpels. Dabei ließ sie das erschöpfte Tier nicht aus den Augen.
„Ruhig! Nicht bewegen. Wir holen dich da raus!“ Ihre Stimme klang fest, auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wie das Rausholen funktionieren sollte.
Erst mal musste sie Holly in Sicherheit bringen. Hastig streifte sie der Stute ein Knotenhalfter über und band sie an einem Baum fest. Dann überlegte sie fieberhaft. Allein konnte sie hier nichts ausrichten. Das Pferd steckte zu weit drin und hatte offenbar selbst schon alles versucht.
„Ich bin gleich bei dir!“, murmelte sie. Hastig zog sie ihr Handy aus der Hosentasche und drückte eine Nummer. Zum Glück meldete sich am anderen Ende sofort jemand.
„Matz, Gott sei Dank!“, haspelte Lou. „Du musst mir helfen. Ein Pferd steckt im Moor. Bei der kleinen Hütte.“ Besorgt beobachtete sie das Pferd, das erneut einen Befreiungsversuch unternahm. Aber seine Bewegungen wurden schwächer.
„Bring den Traktor. Hörst du? Und Gurte und Seile. Schnell. Beeil dich.“ Das Letzte schrie sie beinahe. Sie stopfte das Gerät zurück, rannte zu Holly und löste mit zitternden Fingern die restlichen Seile vom Sattel. In Rekordgeschwindigkeit knotete sie sie zu einem langen Seil zusammen, das sie an Hollys Sattel befestigte. Die Stute stand da wie ein Denkmal. Sie schien zu wissen, um was es ging. Das andere Ende schlang Lou sich um den Bauch. Probehalber ruckte sie am Seil. Es würde ihr Gewicht hoffentlich halten.
So gesichert wollte sie sich in den Tümpel vorwagen. Falls es Schwierigkeiten gäbe, könnte Holly sie wieder rausziehen. Lou wusste, dass sie sehr aufpassen musste. Ein Pferd in Panik war völlig unberechenbar.
Vorsichtig tauchte sie ihren Fuß in die schlammige Brühe. Er versank sofort im sumpfigen Grund. Mühsam kämpfte sie sich voran.
„Keine Angst“, murmelte sie in Richtung des Rappen. „Gleich bist du in Sicherheit.“
Jeder Schritt kostete Kraft. Mit geblähten Nüstern beobachtete das Pferd, wie sie langsam näher kam. Fast hatte sie den Rappen erreicht. Zögernd streckte Lou einen Arm aus und sah in seine dunkel glänzenden Augen. Und plötzlich wurde es ganz still, in ihr drin und auch um sie herum, es war, als wäre eine Glasglocke über diese unwirkliche Szene gestülpt worden. In die Stille hinein hörte Lou den Atem des Pferdes überdeutlich. Er war ruhiger geworden. Lou spürte, dass seine Angst nachgelassen hatte. Seine samtenen Nüstern schnoberten über ihr Gesicht. Zart streichelte Lou den Kopf des Rappen. Und als würde er verstehen, dass Hilfe nahte, wich nach und nach alle Spannung aus seinem Körper, er senkte den Kopf.
Lou blieb dicht bei ihm stehen, bis zur Brust im Schlamm. Die Minuten vergingen. Sie fror. Auch das Pferd zitterte. Bildete sie sich das nur ein oder waren sie bereits ein kleines Stückchen tiefer eingesunken? Lou hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hätte nicht sagen können, ob sie erst fünf Minuten oder schon eine halbe Stunde hier drin war. Plötzliche Müdigkeit überkam sie, und auch das Pferd neben ihr schloss erschöpft die Augen. Lou dachte daran, was ihr Vater einmal erzählt hatte: War man im Moor gefangen, führten Kälte und Erstarrung schnell zu Unterkühlung. Und die war genauso lebensbedrohlich wie die Gefahr zu versinken. Sie gab sich einen Ruck. Nein, sie durfte nicht aufgeben. Auf keinen Fall. Lou hob die Hand und streichelte das schlammverklebte Fell auf der Wange des Rappen.
Sie sah zu Holly hinüber. Die schöne Stute hatte den Kopf erhoben und spitzte die Ohren, aber nicht in ihre Richtung, sondern zum Waldrand. Noch bevor Lou etwas sagen konnte, hörte sie ein Motorengeräusch. Endlich!
Matz, ihr bester Freund, holperte auf seinem Quad über den Waldweg heran. Entgeistert starrte Lou ihn an, während er sich über Baumwurzeln und Äste hinweg den Weg zum Rand des Moors bahnte.
„Wo ist der Traktor? Und die Gurte?“, fragte sie statt einer Begrüßung.
Der Junge mit den kurzen blonden Locken sprang vom Fahrzeug und griff nach dem aufgewickelten Seil, das er sich quer über die Schulter gelegt hatte. „Hatte ’ne bessere Idee! Wir ziehen ihn mit dem Quad raus!“
Lous Geduld war auf dem Nullpunkt. „Mit ‚wir‘ meinst du mich, oder?“
Matz musterte Lou. Auch wenn sie keine Miene verzog, konnte er an ihrer Stimme mit seismografischer Genauigkeit feststellen, wie sie drauf war. Nicht gut. Was kein Wunder war.
„Einer muss ja fahren!“, sagte er entschuldigend.
Lou stöhnte. „Aber das Quad hat doch gar nicht genug Power!“
„Quatsch“, winkte Matz ab und band das Seil am Heck fest. Dann warf er ihr das andere Ende zu. Das Pferd zuckte ängstlich zurück, als das Seil an ihm vorbeisauste. Beruhigend klopfte Lou seinen Hals, dann befestigte sie den Strick mit einem Doppelknoten am Halfter des Schwarzen.
„Bereit?“, fragte Matz und schwang sich auf sein Quad.
Lou kontrollierte noch einmal den Knoten. „Ja, aber vorsichtig, kapiert?“
Matz nickte, stieg auf und gab Gas. Im aufgeweichten Boden drehten die Räder sofort durch, Matschbrocken flogen durch die Luft und klatschten Lou und dem Pferd ins Gesicht. In Panik warf das Tier den Kopf hoch und wieherte schrill.
„Matz, hör auf!“ Lou schrie, zwang sich aber gleich darauf zur Ruhe. „Vielleicht sollten wir Hilfe holen. Die Feuerwehr oder die Tierrettung.“ Ihr Atem ging keuchend.
Matz schüttelte den Kopf. „Dafür haben wir keine Zeit, der unterkühlt doch.“ Er legte den Gang ein. „Ich versuch’s noch mal, okay?“
Diesmal fuhr er deutlich vorsichtiger los. Das Seil spannte sich. Das Pferd bemerkte den Zug am Halfter und spielte aufmerksam mit den Ohren.
„Komm, nur einen kleinen Schritt!“, ermunterte Lou und versuchte, es nach vorn zu dirigieren. Das Pferd bewegte die Beine, gleichzeitig zog Matz noch etwas mehr.
„Und jetzt noch einen. Toll machst du das!“, lobte Lou überschwänglich.