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Tamara Scheer

Von Friedensfurien und dalmatinischen Küstenrehen

Vergessene Wörter aus der Habsburgermonarchie

Mit 57 Abbildungen in Farbe

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© 2019 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagabbildung sowie Illustration auf den Seiten 8, 66, 80, 100, 125, 155, 163, 212: Doppeladler © INTERFOTO/Hermann Historica GmbH/picturedesk.com

Lektorat: Arnold Klaffenböck

Übersetzung des englischen Vorwortes von Pieter M. Judson: Susanne Lenhart

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der 11,25/14,5 pt Arno Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-145-0

eISBN 978-3-903217-32-4

Inhalt

Vorwort

Pieter M. Judson

Eine kurze Geschichte der späten Habsburgermonarchie, 1867–1918

Amnestiekarl

Ärarische Weiber

Armeedeutsch

Armeeslawisch

Austroungar

Bin-gesund-Karte

Blumenteufel

Bocche-Krankheit

Böhmisches Viertel

Bohnenzüchter

Brillantengrund

Ce Vau Ha

Dalmatinisches Küstenreh

Ef Ef

Entenabend

Etappensäure und Piavemischung

Faktor

Festungsschwamm

Flaschengrüner und Reservepintsch

Friedensfurie

Fünfzig-Kreuzer-Magyare

Galizische Wirtschaft in Skandalizien

Goldlinie

Gulaschkapelle

Hernalserinnen

Kaiserkönig und Kaiserkönigin

Karl der Plötzliche

Karpathengesetz

Klein-Wien und Klein-Österreich

Knopflochschmerzen

Kommisswitz

Krumpirii

Kuferaschen und Schwabas

Lämmerhüpfen

Latrinen-Literatur

Maiskirchner

Momaken

Moralbrigade und Blaustift-Dragoner

Neu-Österreich

Olmütz Pascha

Portone dei Gnocchi

Regiment »Freiherr von Rothschild« und Moses-Dragoner

Sanitäre Erholungsstätte und Sprungtaxe

Schandsack

Schmutzige Schulden oder Schulden wie ein Stabsoffizier

Schwarz-Gelbe Gesellschaft

Sliwowitzland

Telefon und Telegraf

Treubruchnudel

Viehtrieb und Fisolenhaus

Wazachit

Weiße Flecken

Wendenpriester

Wiener Krankheit

Zweite Menage

Epilog: Der kakanische Tinnitus

Martin Haidinger

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Die Autorin

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Vorwort

Pieter M. Judson

Dieses zauberhafte Buch der Historikerin Tamara Scheer ruft uns einige der bekanntesten Persönlichkeiten und Eigenschaften der einstigen Habsburgermonarchie in Erinnerung, die als Staatsgebilde zwar vor einem Jahrhundert von der Landkarte verschwunden ist, deren Kulturen jedoch überraschenderweise weiterleben, und dies heute fast machtvoller als vor hundert Jahren. Viele Europäer und Amerikaner haben ihre Lieblingsgeschichten, die ein österreichisch-ungarischer Vorfahre erzählt hat, oder ein geliebtes Familienrezept, das in vielen Teilen der alten Monarchie seinen Ursprung haben könnte. Tamara Scheer ist in mehreren Sprachen versiert und vereint in diesem Buch einige der farbigsten – wenn auch vergessenen – Ausdrücke, eine Art inoffizieller Sprache, die man als »Habsburgerisch« bezeichnen könnte.

Viele Menschen meinen, dass die wahre Einzigartigkeit der habsburgischen Gesellschaft darin bestand, dass sie mehr als elf Sprachen und zahllose Dialekte umfasste. Vor allem wurden diese vielen Sprachen zu Symbolen für die Unterschiede, die die Völker der Monarchie scheinbar voneinander trennten. Dabei vergessen wir jedoch gern, dass jene verschiedenen Völker mit ihren unterschiedlichen Sprachen ja vieles gemeinsam hatten: Institutionen, Alltagsbräuche und Speisen ebenso wie die Erfahrung einer imperialen Kultur. Ungeachtet ihrer Sprachenvielfalt gestalteten die Völker der Monarchie in nahezu jeder Art menschlicher Lebenssituation eine kulturelle Vermischung. Bereits im 19. Jahrhundert lebten die vielen Völker der Habsburgermonarchie in der Regel nicht voneinander getrennt, vor allem in den Städten. Männer verschiedener Nationalitäten innerhalb der Monarchie dienten zusammen in einer Armee, die auf der allgemeinen Wehrpflicht basierte. Als Teil dieser Erfahrung lernten sie verschiedene Teile der Monarchie kennen und schnappten überall etwas von den jeweiligen Sprachen auf. Bewohner der Monarchie lasen ähnliche Zeitungen und Karikaturen aus dem ganzen Reich, sie bestellten Kaffee, Bier oder Sliwowitz in Cafés und Gasthäusern, die ihnen allesamt bekannt waren, sie kauften ihre Straßenbahnfahrscheine in vertraut aussehenden Tabaktrafiken, sie holten sich zahllose behördliche Stempel in ähnlich aussehenden Ämtern und legten oft bis dahin unvorstellbare Strecken innerhalb der Monarchie mit der Bahn zurück. Wo auch immer sie sich befanden, von Bosnien bis in die Bukowina, von Vorarlberg bis nach Siebenbürgen, überall trafen sie auf eine gemeinsame vertraute Kultur.

Doch sogar jenseits dieser gemeinsamen Kulturen und Speisen ist es eine Tatsache, dass die Habsburgermonarchie sich auch durch viele Formen sprachlicher Vermischung und gemeinsamer Sprachschöpfung auszeichnete. Oft waren die Heimatregionen der Menschen durch ihre Mehrsprachigkeit und den lokalen Gebrauch ausgeprägter Dialekte bestimmt. Auch wenn Nationalisten das Gegenteil behaupten: Können wir uns denn wirklich die Steiermark/Štajerska ohne die slowenischen und deutschen Sprachgruppen vorstellen? Können wir uns Tirol ohne Deutsch und Italienisch vorstellen? Können wir uns Siebenbürgen ohne Ungarisch, Sächsisch und Rumänisch vorstellen (von Jiddisch ganz zu schweigen)? Natürlich nicht. Die meisten Menschen in diesen Regionen beherrschten zumindest teilweise zwei oder drei Sprachen. Vielleicht wurden die Bewohner von Österreich-Ungarn gar nicht so sehr durch ihre vielen Sprachen getrennt, wie wir uns das heute vorstellen.

Wir verdanken es der Detektivarbeit von Tamara Scheer, dass wir nun den vielen offiziellen und inoffiziellen Sprachen der Völker der Monarchie eine weitere germanische Sprache hinzufügen können: Habsburgerisch. In diesem wertvollen Lexikon erklärt Tamara Scheer die faszinierenden Ursprünge vieler versunkener habsburgischer Ausdrücke. Wie das Armeedeutsch des Reiches oder wohl auch wie das sogenannte Englisch, das heutzutage in der Europäischen Union verwendet wird, deutete Habsburgerisch nicht nur auf die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft Österreich-Ungarns hin, sondern vor allem auf den gemeinsamen regionalen oder imperialen Erfahrungsraum. Habsburgerische Ausdrücke beziehen sich ganz speziell auf Phänomene, die in der Habsburgermonarchie zutage traten, weil deren Völker sie erfunden hatten. Auf diese Weise lehrt uns Tamara Scheer mit ihrem faszinierenden Lexikon viel mehr über die Funktionsweise der Habsburgergesellschaft als die meisten Geschichtsbücher, die ich kenne.

Und wer könnte berufener sein als Tamara Scheer, diese Kleinode zusammenzutragen und zu erklären? In ihren früheren Arbeiten erwies sie sich als eine der führenden Historikerinnen der österreichisch-ungarischen Armee, speziell im Hinblick auf die vielen Sprachen, die in dieser Armee gesprochen wurden. Sie ist eine der wenigen Historikerinnen der Geschichte Habsburgs, die tatsächlich genug Deutsch und Ungarisch sowie Italienisch und mehrere slawische Sprachen beherrscht, um Regierungsdokumente der höchsten Ebene ebenso zu verstehen wie lokale Polizeiberichte aus jeder Region der Monarchie. In ihrer Arbeit beweist sie immer wieder einen scharfen Blick für die wichtigen und faszinierenden Details alltäglicher Lebenssituationen.

Viele der in diesem Buch aufgelisteten Ausdrücke haben sich aus den gemeinsamen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges entwickelt. Wie von Tamara Scheer aufgezeigt, war der Krieg eine besonders fruchtbare Zeit für neue Sprachschöpfungen, um die Frustration der Menschen angesichts schwieriger neuer Umstände auszudrücken, aber auch gemeinsame Erfahrungen von Not und Leid zu beschreiben. Wie in ihren anderen Arbeiten stellt sie auch hier fest, dass die Habsburgerarmee ein besonders fruchtbarer Boden für sprachliche Erfindungskraft war. Das trifft aber auch auf die neuen Ersatzlebensmittel und Haushaltsartikel zu, die an die Stelle der vertrauten traten und in Kriegszeiten quasi zu Legenden des Alltagslebens wurden. Tamara Scheer berichtet über eine Art kreativer Ironie der Bevölkerung, die mithilfe eines erfindungsreichen Wortschatzes ihr Leiden und ihren Pessimismus ebenso ausdrückte wie auch ihre zynische Weigerung, die rosigen offiziellen Erklärungen von Ereignissen oder Ersatzlebensmitteln zu akzeptieren.

Auch wenn wir die Lebensbedingungen in einem großen Vielvölkerstaat wie der Habsburgermonarchie wohl kaum nachvollziehen können, so gibt uns Tamara Scheer doch in wunderbarer Weise eine Vorstellung davon, wie sie geklungen haben mag.

Eine kurze Geschichte der späten Habsburgermonarchie, 1867–1918

Zur Einleitung sei hier durchaus ein »Es war einmal …« erlaubt. Denn seit rund hundert Jahren existiert jenes Land nicht mehr, um das es in dem vorliegenden Buch geht. Im November 1918 endete nicht nur der Erste Weltkrieg, sondern auch die Jahrhunderte währende habsburgische Herrschaft über Zentraleuropa. Nicht weniger als 13 Staaten sind es heute, die sich auf dem ehemaligen Territorium Österreich-Ungarns gründen beziehungsweise zu denen Teile davon gehören: neben Österreich und Ungarn, den damaligen Namensgebern, Polen, die Ukraine, Slowakei, Tschechische Republik, Kroatien, Rumänien, Slowenien, Serbien, Bosnien und die Herzegowina, Montenegro sowie Italien.

Die Auflistung dieser vielen Staaten zeigt eines bereits deutlich: Die Bevölkerung der Habsburgermonarchie war multikulturell, umfasste viele Konfessionen und wies eine Vielzahl von Sprachen und Dialekten auf. Zumeist lebten die Sprecherinnen und Sprecher nicht in klar umgrenzten Gebieten, man teilte sich Dörfer und Städte. Einsprachige Gebiete – wie sie sich vor allem auf lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten – waren eher die Ausnahme als die Regel. Es gab nicht unbedingt einen großen Zuzug aus dem Ausland. Eine immer stärkere Binnenmigration mischte die Bevölkerung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr. Eltern aus zwei unterschiedlichen Nationalitäten und Herkunftsregionen zu haben war vor allem in den Ballungsräumen wie Prag, Budapest oder Wien gang und gäbe. »Nationalitäten« ist übrigens jener Begriff, der zumeist in den Quellen verwendet wurde und sich nach dem Sprachgebrauch richtete. Der Nationalität nach gab es Deutsche (also eigentlich Deutschsprechende), Italiener, Kroaten, Polen, Rumänen, Ruthenen (Ukrainer), Serben, Slowaken, Slowenen, Tschechen (sie wurden in den Quellen auch oft synonym als Böhmen bezeichnet), Ungarn (häufig auch Magyaren genannt).

Tatsächlich gab es in der Habsburgermonarchie noch eine Fülle weiterer Gruppen mit ihrem eigenen Idiom, das aber nicht offiziell als Sprache anerkannt war. Darunter fielen etwa Huzulen (lebten in der Bukowina und Galizien), Ladiner (Tirol), Bunjevacen (Südungarn), Windische (Kärnten), aber auch jiddisch sprechende Juden, die zum größten Teil in den östlichen Teilen des Habsburgerreiches ansässig waren. Sie wurden in den Statistiken häufig den anderen Nationalitäten zugeteilt, etwa die Huzulen den Ruthenen oder Polen, die Ladiner den Italienern und die Windischen den Slowenen. Nichtsdestotrotz finden sich diese Bezeichnungen wiederkehrend in den zeitgenössischen Quellen. Denn Zuschreibungen der Bürokratie waren oft nicht jene, die sich die Betroffenen selbst gegeben hätten. Manche hätten sie überhaupt abgelehnt. Selbst deutsch- und italienischsprachige Tiroler bezeichneten sich oft lieber als Tiroler und Österreicher denn als Deutsche oder Italiener, wie es die Bürokratie aber tat. Sie wollten nicht in irgendeine nationale Schublade gesteckt werden.

Neben diesen Charakteristika prägten die unterschiedlichen geografischen Gegebenheiten die Kulturen und die Lebensgewohnheiten der Menschen. Österreich-Ungarn war ein westeuropäischer, genauso wie es ein ost-, mittel- und südosteuropäischer Staat war. Es gab hoch industrialisierte Regionen mit tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern, die am Existenzminimum und in Armut lebten, es war ein karges, dünn besiedeltes Hochgebirgsland ebenso wie weitläufiges Steppengebiet mit Viehzucht und hatte ausgedehnte Küstenregionen.

Neben der geografischen Lage, der Nationalität und Sprache unterschieden sich die einzelnen Teile durch ihre Identifikation mit dem Herrscherhaus. Jene war auch mit davon beeinflusst, wie lange sich eine Region bereits unter direkter habsburgischer Herrschaft und Verwaltung befand beziehungsweise wie sie unter diese gefallen war. Es gab Teile wie die alten Reichsländer, die bereits seit Jahrhunderten habsburgisch verwaltet wurden, darunter Böhmen, Ungarn, das heutige Nieder- und Oberösterreich oder das heutige Slowenien. Erst relativ spät kamen Salzburg, Dalmatien und Galizien hinzu. Eine als unblutig geplante, tatsächlich aber verlustreiche Okkupation begründete die k. u. k. Verwaltung Bosniens und der Herzegowina im Jahr 1878.

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Neben diesen Unterschiedlichkeiten ist noch jene der politischen Verwaltung zu nennen. Denn nicht alle Menschen lebten unter denselben Gesetzen. Österreich-Ungarn, darauf lässt bereits die zweigeteilte Bezeichnung schließen, war nicht zentralistisch verwaltet. Seit der Teilung in Österreich und Ungarn mit dem sogenannten Ausgleich 1867 gab es zwei unterschiedliche Verfassungen und zwei Parlamente in Budapest und Wien. Innerhalb dieser beiden Hauptteile gab es wiederum kleine Ausgleiche, wie mit Kroatien und Galizien, die fortan vor allem im Kultur- und Bildungsbereich ihre eigene Politik machten. Nach der Annexion Bosniens und Herzegowinas im Jahr 1908 kam noch ein weiteres Quasiparlament mit einem Landtag in Sarajevo hinzu. Insgesamt gab es drei unterschiedliche Staatsbürgerschaften: eine ungarische, eine österreichische und eine bosnisch-herzegowinische Landeszugehörigkeit. Nach dem Ausgleich hatten diese Teile nur mehr drei Angelegenheiten gemeinsam: die k. u. k. Armee, das Außenministerium und ein Finanzministerium, welches das Budget für erstere beide verwaltete und bereitstellte. Nicht einmal der Kaiser war allen gemein: Franz Joseph und später Karl waren genau genommen in Ungarn Könige und im Rest des Reiches Kaiser.

Aber was bedeuteten unterschiedliche Verfassungen, Parlamente und lokale Autonomien letztlich konkret für die Bevölkerung? In der Friedenszeit waren die Unterschiede weitaus weniger spürbar als später im Ersten Weltkrieg. Beispielsweise gab es eine unterschiedliche Ehegesetzgebung: In Ungarn bestand die Zivilehe und Scheidung war erlaubt, in Österreich nicht. Tagebücher und Memoiren weisen immer wieder darauf hin, dass jemand ungarischer Staatsbürger wurde, um sich scheiden lassen und wiederverheiraten zu können. Weitaus drastischer aber war für den aufkeimenden und immer stärker werdenden Nationalismus, dass eine unterschiedliche Sprach-, Bildungs- und Kulturgesetzgebung herrschte. Inwiefern in öffentlichen Ämtern, in der Armee und im Schulwesen die Sprachen berücksichtigt wurden, unterschied sich eklatant in Österreich und Ungarn. Ganz vereinfacht kann man sagen, dass in Österreich immer mehr Schulen in anderen Sprachen als der deutschen etabliert wurden, während in Ungarn, das zunächst eine liberalere Gesetzgebung hatte, dem Ungarischen immer mehr der Vorzug gegeben wurde.

Während des Ersten Weltkrieges kam es zu drastischen Unterschieden gerade im Alltag der Bevölkerung. In allen Teilen der Monarchie wurden mithilfe eines Ausnahmerechts staatsbürgerliche Grundrechte nicht nur eingeschränkt, sondern faktisch abgeschafft. Presse- und Briefzensur gab es überall. Der Unterschied lag in der Durchführung beziehungsweise darin, worüber geschrieben werden durfte und was die Konsequenzen bei Nichtbeachtung waren. Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen wegen angeblicher Spionage oder Verrats erfolgten überall in der Habsburgermonarchie. Wer wofür wie lange eingesperrt wurde, unterschied sich freilich. Dies alles führte zu einer wachsenden Unsicherheit in der Bevölkerung, die mehr und mehr den Glauben an das Rechtssystem verlor.

Dieses Buch berücksichtigt grob jenen Zeitraum, den man wissenschaftlich die späte Habsburgermonarchie nennt. Dieser begann 1867 mit dem Ausgleich mit Ungarn, was auch der Beginn der konstitutionellen Ära war, und reichte bis zum Ende des Weltkrieges 1918 (und ein wenig darüber hinaus, wenn danach noch über die alten vergangenen Zeiten geschrieben wurde). Es sind im Ganzen rund 50 Jahre, die hier behandelt werden. Trotz dieses klar abgegrenzten Zeitraums war die späte Habsburgermonarchie nicht immer gleich. Sie wandelte sich in diesen Jahren drastisch. Jene Veränderungen waren aber nur zum geringsten Teil Phänomenen geschuldet, die es nur in Österreich-Ungarn gab. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkrieges folgte man mehr oder weniger dem damaligen Zeitgeist, wie er überall in Europa anzutreffen war. Dennoch ergab die Vielfalt der Bevölkerung und der Verwaltung eine ganz eigene Entwicklung und Interpretation der internationalen Tendenzen. Der hier behandelte Zeitraum war von vier großen politischen Schlagworten geprägt: Modernisierung, Bürokratisierung, Medialisierung und Nationalisierung. Diese vier können allerdings nicht unabhängig voneinander erklärt werden. Sie bedingten sich gegenseitig und beeinflussten einander. Ein Schlagwort war ohne das andere oder ohne die anderen nicht denkbar.

Beginnen wir mit der Bürokratisierung, in die in diesem Buch immer wieder Einblick gegeben wird. Bürokratisierung bedeutete etwa den Ausbau der Verwaltungsstrukturen: mehr Ämter, die für immer mehr, was zuvor nicht reglementiert war, zuständig wurden. Das hieß zwangsläufig mehr Beamte, mehr Gesetze und Gesetzchen, mehr Verordnungen und mehr Formulare. Die Bevölkerung, und zwar jeder und jede, war nunmehr gezwungen, viel mehr als jemals in der Geschichte zuvor in Kontakt mit der Verwaltung zu treten. Man könnte auch sagen, dass die Bevölkerung immer mehr Möglichkeit erhielt, sich an der Staatsverwaltung aktiv zu beteiligen. Das ist Ansichtssache. Eine Beteiligung an der Verwaltung aber setzte Bildung voraus. Man musste lesen können, und zwar vor allem in der Sprache der Ämter. Die Bürokratisierung führte daher in das nächste Schlagwort der Zeit: die Modernisierung.

Bürokratisierung und Verwaltungsausbau galten als modern. Davon sollten alle sozialen Schichten profitieren. Alle mussten in die Schule gehen. Als modern galten auch Statistiken. Die Bevölkerung sollte gezählt und ihre Lebensweise, Familiengröße, Berufe, aber auch Sprache und damit Nationalität festgestellt werden – nicht nur, um Steuern effizienter einheben zu können, die vermehrt benötigt wurden, um den immer mehr wachsenden Beamten- und Verwaltungsapparat zu finanzieren. Hier allerdings kommt das nächste Schlagwort ins Spiel: die Nationalisierung. Je mehr Menschen der Zugang zu Bildung erleichtert wurde, umso mehr lesen konnten, desto mehr stellte sich die Frage, in welcher Sprache eigentlich all diese Formulare gehalten sein, in welcher Sprache die Beamten mit der Bevölkerung sprechen und in welcher Sprache der Unterricht in den Volksschulen stattfinden sollte. Die steigende Alphabetisierung jedoch führte auch zu mehr Interesse und Kaufkraft an Druckschriften. Die Publikations- und Medienlandschaft wuchs stetig. War es zu Beginn vor allem die städtische deutschkundige Mittel- und Oberschicht, die als Leserschaft und Produzenten von Zeitungen infrage kam, so ergab die Ausweitung des Bildungssystems auf die anderen Sprachen auch immer mehr Medienprodukte in jenen Sprachen.

Das rege parlamentarische Leben mit seinen regelmäßig wiederkehrenden Wahlen sorgte für die Gründung von Massenparteien. Neben einzelnen auf einer bestimmten Ideologie basierenden Parteien wie Sozialdemokraten, Liberalen oder Christlichsozialen hefteten sich immer mehr Parlamentarier die Vertretung einzelner Nationalitäten auf ihre Fahnen. Sie forderten nun auf Basis der Statistiken eine fairere Berücksichtigung ihrer Wählerschaft in der öffentlichen Verwaltung, die immer noch in Österreich deutsch- und in Ungarn immer mehr ungarischsprachig dominiert war. Für die Umsetzung ihrer nationalen Ziele bedienten sie sich der Parlamente, Landtage, aber auch der ständig wachsenden Medienlandschaft.

Das tägliche Lesen unterschiedlichster Texte – von Plakaten der Verwaltung in den Straßen über Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu politischen Pamphleten – ergab in der Zeit der späten Habsburgermonarchie eine bislang nicht bekannte Verbreitung von politisch-ideologischen Ideen, aber auch ein intensiveres Kennenlernen derjenigen, die in entfernten Teilen daheim waren. Dies ergab einen Austausch von Ideen, führte aber auch zur Ablehnung des jeweils anderen aus sozialen, politischen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gründen. Dennoch: Der Zugang zu politischen Ideen war nicht mehr nur einer kleinen Elite möglich. Immer mehr schafften durch Bildung den Aufstieg in eine höhere soziale Schicht. Der Zugang zu Texten veränderte auch den Sprachgebrauch. Der Wortschatz wurde nicht nur erweitert, sondern auch Begriffe aus anderen Sprachen übernommen und rascher verbreitet als jemals zuvor. Dabei half auch die immer mehr zunehmende Mobilität – nicht nur beruflich oder bei tausenden Männern der Militärdienst, der meist fern der engeren Heimat abgeleistet wurde, sondern auch der Ausbau der Straßen und der Eisenbahnen. Niemals zuvor in der Geschichte war es so einfach und günstig gewesen, zu reisen und täglich in Druckwerken zu erfahren, was außerhalb des eigenen Wohnortes (angeblich) vor sich ging.

Keine Sorge, das vorliegende Buch ist nicht noch eine weitere Abhandlung über die Geschichte der k. u. k. Monarchie. Tatsächlich pickt es nur eine einzige Facette heraus – allerdings eine, die einen ganz anderen Blick auf die Geschichte, Bevölkerung, Verwaltung und Politik erlaubt. Dieses Buch widmet sich jenen Schlagworten und Begriffen, die heute gerne als Unwörter bezeichnet werden – jene Begriffe, die aus dem Moment entstehen oder Scherzbezeichnungen sind, die sich daher meist lange Zeit nicht in Wörterbüchern finden lassen. Häufig bezeichnet man sie auch mit »aus dem Volksmund« stammend. Meist sind sie anlassbezogen und daher sehr kurzlebig. Nur in dem oft unwahrscheinlichen Fall, dass sie über einen längeren Zeitraum hin immer wieder in Gebrauch sind, finden sie doch manchmal Aufnahme in Nachschlagewerke.

Erinnern Sie sich noch an den Problembären und den Schweigekanzler? Sollte das nicht der Fall sein, so sei Ihnen gesagt, dass vor ein paar Jahren beide nicht nur in Österreich alltagsbekannt und -berühmt waren, sondern auch über die Landesgrenzen hinweg. Für einige Monate wusste jede und jeder, was mit den beiden Begriffen gemeint war, und verwendete sie auch – zum Teil schließlich sogar synonym für bestimmte Verhaltensweisen, also entkoppelt von ihren eigentlichen »Namengebern«. Mittlerweile sind beide Begriffe aus dem alltäglichen Sprachgebrauch wieder verschwunden, obwohl Letzterer im Sommerloch 2018 ein kurzes Revival erlebte, als die österreichische Außenministerin sich nicht bei jeder Angelegenheit zu Wort meldete (letztlich ist auch das Sommerloch ein Unwort).

Der Problembär hat es sogar mittlerweile zu einem eigenen Wikipedia-Eintrag gebracht – sicherlich einfacher, als es in habsburgischer Zeit in den Brockhaus oder in Meyers Konversationslexikon zu schaffen. Bruno, so hieß der Erste dieser Gattung, wurde gleichsam zum Synonym für ein Phänomen. Der Schweigekanzler, Wolfgang Schüssel, wurde hingegen 2005 sogar zum (Un-)Wort des Jahres gewählt. Doch was haben Bruno und Wolfgang mit der Habsburgermonarchie zu tun? Nun ja, auf den ersten Blick nichts, wobei Bruno der Problembär Staatsgrenzen überschritt, die es in der Zeit der Habsburgermonarchie noch gar nicht gab. Er kam nämlich aus dem damals österreichischen und heute italienischen Trentino. Der Schweigekanzler hingegen hatte durchaus sein Pendant. Dem Kaiser und König Franz Joseph wurde nämlich häufig ein ähnliches Verhalten vorgeworfen. Er hätte bei wichtigen tagespolitischen Problemen nur ruhig zugeschaut und sich nur sehr ungern geäußert und entschieden. Für dieses Verhalten gab es auch ein Pendant zum Schweigekanzler in der Habsburgermonarchie – der (ewige) Fortwurstler.

Tatsächlich glauben wir heute oft, dass wir es schon aufgrund der neuen und alles durchdringenden Medien und des Internets mit absolut neuen Phänomenen zu tun haben, ohne jegliche Vorbilder in der Geschichte. Wir meinen, dass Wortkreationen wie Problembär und Schweigekanzler unserer Zeit gehören als Auswüchse marktschreierischer Medienberichterstattung. Doch dem ist – oder besser war! – nicht so. Situationsbezogene Begriffe wie auch Synonyme für bestimmte Alltagsphänomene, einzelne Personengruppen oder geografische Plätze gab es immer schon im Sprachgebrauch. Sie sind in der Zeit vor 1918 nur weitaus schwieriger aufzuspüren. Auch deshalb, weil sie häufig lediglich im Gespräch und eventuell in privaten Briefen verwendet wurden und selten in gedruckte Werke Eingang fanden. Auch damals schon gab es so etwas wie die Schnelllebigkeit der Medien. Manche Themen und Wörter wurden für ein paar Wochen rauf und runter zerpflückt, um beim Eintreten eines neuen, vermeintlich spannenderen Ereignisses von einer Sekunde auf die andere von der Bildfläche zu verschwinden. Die meisten Unwörter sind und waren Eintagsfliegen. Dennoch, einige verzeichneten für kurze Zeit einen Hype, andere lebten für ein paar Monate, nur wenige gingen in den Sprachgebrauch einer ganzen Generation ein. Gerade das Habsburgerreich als multikulturelles Imperium war prädestiniert für solche Wortschöpfungen.

Dieses Buch ist das Ergebnis von mehr als zehn Jahren der Forschung und Arbeit an Texten aus der Zeit der späten Habsburgermonarchie. Die vorgestellten Begriffe entstammen autobiografischen Texten wie Tagebüchern und Briefen ebenso wie den Zeitungen und Zeitschriften überall aus der Donaumonarchie, aber auch Memoiren und Romanen. Obwohl beinahe alle aus der deutschen Sprache stammen, hatten viele von ihnen Entsprechungen in den anderen Sprachen der Donaumonarchie. Einige Begriffe sind durchaus nicht ausschließlich in der Habsburgermonarchie verwendet worden – aber häufig bekamen sie dennoch eine landesspezifische Weiterdeutung. Obwohl die meisten Bezeichnungen heute kaum noch jemand kennt oder weiß, was sie bedeuteten oder wofür sie verwendet wurden, schaffen sie es, einen tiefen und lebhaften Einblick in eine vergangene Gesellschaft zu geben. Die hier vorgestellten Begriffe sind nur eine repräsentative Auswahl jener, die nicht nur einmal von jemandem gebraucht wurden, sondern damals auch ins Alltagsvokabular übergingen.

So unterschiedlich diese vergessenen Wörter sind, so lassen sie sich doch in einzelne thematische Gruppen einteilen. Viele sind das Ergebnis der kulturellen, ethnischen, sprachlichen und religiösen Vielfalt. Man schuf Bezeichnungen, die auf ein bestimmtes Verhaltensmuster oder eine Lebensweise Bezug nahmen. Häufig spiegeln sie Vorurteile negativ wider, aber nicht immer. Dass die hier vorgestellten Wörter zum größten Teil der deutschen Sprache entnommen sind, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren Adressaten wiederum einen Begriff für jene hatten, die für sie ein Unwort fanden (und doch finden sich auch in diesem Buch ein paar davon wieder). Die Begriffe scheinen zu zeigen, dass die k. u. k. Monarchie nicht wie in den offiziellen Statistiken von Deutschen, Tschechen, Slowaken, Ungarn etc. bewohnt wurde, sondern von Bohnenzüchtern, Kuferaschen, Krumpiriis und Schwabas. Manchmal schließen Unwörter auch politische Zuschreibungen mit ein, wie der Austroungar oder der Fünfzig-Kreuzer-Magyar.

Die zweite Gruppe der hier besprochenen Bezeichnungen bezieht sich auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Sie sind zumeist einer politischen Handlung oder einem typischen Verhaltensmuster geschuldet. Bertha von Suttner wurde zur Friedensfurie. Dem Kaiser und König Karl setzte man gleich zweimal ein Denkmal: Er wurde zu Karl dem Plötzlichen und zum Amnestiekarl.