Die junge Medizinstudentin Verena hat eine ebenso geheimnisvolle wie beunruhigende Fähigkeit: Sie kann die Aura von Menschen sehen und erkennen, ob sie dem Tod geweiht sind. Als sie eines Nachts im Park einen grausigen Fund macht, ahnt sie nicht, dass sie damit eine Kette unheilvoller Ereignisse in Gang setzt, die ihr gewohntes Leben für immer verändern wird …
Als Verena kurze Zeit später eine Stelle zur Pflege einer alten Dame in einem einsamen Herrenhaus annimmt, fühlt sie sich unwiderstehlich zu deren charismatischem Sohn hingezogen. Doch ihre Gefühle und ihre Gabe sprechen eine unterschiedliche Sprache. Kann sie dem düsteren Mann trauen? Und welches alte Geheimnis birgt das labyrinthische Herrenhaus?
Überarbeitete Neuausgabe Oktober 2018
Copyright © 2020 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
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Alle Rechte vorbehalten
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-409-6
E-Book-ISBN: 978-3-96087-410-2
Copyright © März 2010, Sieben Verlag
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits März 2010 bei Sieben Verlag erschienenen Titels Unter dem Vollmond (ISBN: 978-3940235916).
Covergestaltung: Elica Design
unter Verwendung von Motiven von
shutterstock.com: © Ralf Gosch
pixabay.com: © rkarkowski, © pascalmwiemers
Lektorat: Daniela Pusch
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Meiner Mutter Brigitte in liebevollem Gedenken.
Besonders bedanken möchte ich mich bei der ›Instant‹-Leserin und Autorenkollegin Andrea Tillmanns, die mir zeitnahes Feedback zur Erstfassung des Romans zukommen ließ.
Vielen Dank auch an Steffi Zurek, für den Einblick in ihre Arbeiten zum Sujet der gothic novel, namentlich:
»Elemente des Schauerromans in Jane Austens Northanger Abbey« (Hausarbeit von Stefanie Zurek) und
»Elements of the Gothic in Contemporary Popular Culture: The Case of Supernatural« (Magisterarbeit von Stefanie Zurek).
Schließlich geht noch ein ganz spezielles Dankeschön an ›Kurt‹ und Charlie für Sandman.
Und natürlich Alexander Lohmann für seine Geduld und Unterstützung.
Zu beiden Seiten des Autos zogen Scheinwerfer vorbei, beruhigende Funken in der Dämmerung. Auf dem Rücksitz drehte Verena ihren MP3-Player auf und wippte im Takt der Melodie mit dem Kopf. Bumbadabum.
Der Regen malte Kreise auf die Autoscheiben, wie blühende Batikmuster. Als der Wagen Tempo aufnahm, wurden aus den Platschern gewundene Schneckenspuren. Verena spürte die Beschleunigung übermütig im Bauch kitzeln, als der VW ihrer Eltern durch tiefe Pfützen über die Autobahn pflügte. Verena dachte sehnsüchtig an die Bretagne, wo sie gerade herkamen, und deren südliche Sonne sie als helle Strähnen in der karamellbraunen Mähne trug.
Sie äugte zu Marion hinüber. Ihre kleine Schwester war auf ihrer Sitzerhöhung eingeschlafen, nachdem sie zuvor ewig gequengelt und am Gurtschloss herumgespielt hatte, weil sie ihr Kuschelmonster an sich drücken wollte. Nun war Marion endlich still.
Verena ließ den Kopf gegen das kühle Fensterglas sinken. Unzählige Reifen und Motoren erzeugten ein Brausen auf der Autobahn. Wasser sprühte am VW hoch wie unter einem Boot bei starkem Seegang.
Verena machte die Musik leiser, damit sie sich zum Wasserrauschen vorstellen konnte, auf dem Meer unterwegs zu sein. In ihren Träumen schlüpfte sie in eine andere Haut: War Popstar oder Hochseilartistin … Aus einem dieser Kokons würde sie jenseits ihrer unspektakulären 13 Jahre als Schmetterling herausschlüpfen und alle verzaubern, die sie bisher übersahen.
Ein heftiger Ruck und ein ohrenbetäubender Knall rissen sie aus ihren Phantasien. Das Auto bockte wie ein Wildpferd und der Sicherheitsgurt straffte sich. Verenas Blick irrte in den Regenvorhängen umher. Sie erfasste vorüberziehende Pfosten, die Leitplanke und im Rückspiegel das angespannte Gesicht ihres Vaters, der wild am Lenkrad kurbelte. »Was ist los? Wieso hupen denn alle?!«
Die Mutter saß starr auf dem Beifahrersitz. Ein Scheppern drang Verena bis auf die Knochen. Die Lichter, die sie bisher begleitet hatten wie treue Hunde, wandten sich gegen sie, blendeten. Etwas geschah mit dem Wagen, geschah mit der Welt.
Die Umgebung kippte zur Seite und der Gurt drückte Verena die Luft aus den Lungen, wie einem Aufblasball. Verena verlor die Orientierung. Marion purzelte kreischend durch den Innenraum. Das Autodach verformte sich, wollte sie erdrücken. Verena schrie entsetzt auf. Sie prallte seitlich gegen das Fenster, schlug sich den Kopf an. Alles drehte sich, splitterte und versank im Chaos.
Die Stille, nachdem der Wagen zur Ruhe kam, war unwirklich und wohltuend zugleich. Verena schmeckte Blut. Es roch im Auto scharf und metallisch. Sie wollte sich zusammenkauern, doch ihr rechtes Bein steckte fest. Verena fühlte sich benommen. War sie ohnmächtig geworden? Aber aus den Kopfhörern drang noch immer das gleiche Lied wie vor dem – Unfall?
Hatten sie tatsächlich einen Unfall gebaut? Verena wollte sich befreien und stöhnte auf. Bumbadabum. Die Musik machte sie jetzt rasend! Ihr Bein fühlte sich fremd an, als wäre es kein Teil ihres Körpers. Verena wünschte fast, dem wäre so, denn vor Schmerz war ihr übel. Sie ertastete unterhalb des Oberschenkels klebrige Flüssigkeit und – Splitter! »Es tut so weh«, jammerte sie kraftlos und fing an zu zittern.
Nichts rührte sich auf den Vordersitzen. »Mama? Papa? Helft mir doch.«
Verena hatte Mühe, Worte hervorzubringen. Sie hörte ein Stöhnen und zog die störenden Ohrknöpfe heraus. »Ich kann euch nicht verstehen.« Dann schob sich ein anderes Geräusch in ihre Wahrnehmung.
Marion weinte, unerreichbar fern und doch nicht weiter als eine Umarmung von ihr fort. Die kleine Gestalt der Schwester war im Dämmerlicht kaum auszumachen. Ihre dunklen Zöpfe hatten sich gelöst und dicke Haarsträhnen verdeckten das Gesicht. Erst auf den zweiten Blick erkannte Verena das Blut. Sie reckte sich nach Marion, aber die Schmerzen im Bein rissen sie brutaler zurück, als der verklemmte Gurt es vermochte. Furcht kroch von ihrem Nabel aus die Kehle hoch und drohte sie zu ersticken. Ein grünes Schimmern erfüllte die Wagenfront. Kam das von den Instrumenten? Nein, es war irgendwie anders.
»Mama! Sag doch endlich was! Du machst Marion Angst.«
Verenas Bitte blieb ungehört. Die Rückenlehnen schirmten sie von den Eltern ab wie eine Wand. Eine verkrümmte Faust umklammerte noch die Handbremse. Und war das da Marions zerdrücktes Kuscheltier oder der Kopf ihrer Mutter? »Nein … nicht«, stammelte Verena. Ihr Flehen erstarb auf der Zunge.
Das fahlgrüne Licht umgab die Körper ihrer Eltern wie ein Leichentuch. Die Angst wurde zur furchtbaren Gewissheit.
Ein Beben schüttelte Verena, schlimmer als zuvor. Sie schaute weg. Ihr Magen glich einem Knäuel Stacheldraht.
Marion schrie jetzt, abgehackt und schrill.
Verena schluckte. Sie zerrte am Gurt.
»Marion, Süße, bleib ruhig. Es wird alles gut!« Das glaubte sie ja selbst kaum. Ohne eine tröstende Hand zur Unterstützung erreichten die Worte ihre Schwester einfach nicht. Das Geschrei sank zu einem Wimmern herab und dann zu leisen Klagelauten.
Draußen sausten gleichmütig Autos vorbei. Die Geräusche schwollen an und ab, bis Verena schließlich gar nichts mehr wahrnahm. Ihre Ohren fühlten sich an wie mit Watte ausgestopft. Tränen strömten über Marions Wangen. Verena konnte die Kleine weder hören noch ihr helfen. Zu weit weg …
Der geisterhafte Lichtschein griff über auf das kleine Mädchen. Bis die Helfer eintrafen, hatte Verena ihre Schwester sterben sehen.
»Wenn ich am Kopfende des Bettes stehe, wird der Kranke nicht mehr genesen. Siehst du mich aber am Fußende stehen, so wird der Kranke gesund, so schwer sein Leiden auch sein mag.«
Die Herrin des Todes und ihr Patensohn
Märchen aus Frankreich
10 Jahre später
Frau Melzer würde nicht durchkommen, das wusste Verena gleich. Ihre Aura blutete ins Nirgendwo, rötliche Fäden faserten von ihrem inneren Licht ab und verblassten. So sah es kurz vor dem Ende immer aus, wenn die Lebenskraft eines älteren Patienten derart abgenommen hatte, dass sie sich schließlich wie ein ausbrennendes Feuer selbst verzehrte.
Bei der Übergabe an das Pflegepersonal der Frühschicht verschwieg Verena diese Beobachtungen und wies nur auf den schlechten Allgemeinzustand der alten Dame hin. Puls, Blutdruck … Werte, die jede erfahrene Schwester und jeder Mediziner deuten konnten.
Ehe sie den Raum verließ, bettete Verena Frau Melzers Kopf höher, damit ihr der Speichel nicht aus dem Mundwinkel lief. Natalie Melzer legte großen Wert auf ihr Erscheinungsbild und ausgesuchte Kleidung. Einige Kolleginnen lästerten hinter vorgehaltener Hand darüber.
Verena schluckte. Sie spürte, wie sich ihr Kehlkopf verkantete. Dem Tod eines anderen machtlos ins Auge zu sehen war nie leicht. Noch drei Stunden, vielleicht vier, dann wäre es zu Ende. Mit Anbruch des neuen Tages würde ein altes Leben erlöschen.
Verena seufzte und dachte, wie gut es war, dass das erst nach ihrer Schicht passierte. Sie hatte mit ihren Ahnungen bezüglich der Todeszeit oft bis auf die Stunde genau richtig gelegen. Seither tuschelte man über sie im Schwesternzimmer. Todesengel. Verenas Gabe war anderen Menschen unheimlich. Daher teilte sie ihr Wissen nur, sofern noch Hoffnung für einen Patienten bestand und sein Überleben daran hing, dass er rasch die nötige Versorgung bekam. Es war zermürbend genug, Revierkämpfe mit den Ärzten auszufechten, von denen einige es nicht schätzten, wenn eine Pflegekraft nach Höherem strebte. Falls sie je laut aussprach, wie sie ihr befremdliches Wissen gewann, würde man Verena in eine Klinik ganz anderer Art einweisen.
Verena hängte den Schwesternkittel in den Schrank, wickelte sich den blaugrünen Schal um den Hals und schlüpfte in ihren grauen Wollmantel. Sie machte sich auf den Weg ans andere Ende der Stadt. Nach Hause, endlich.
Es war noch dunkel draußen. Die frische Morgenluft legte sich wie ein Eispanzer auf ihr seit dem Autounfall lädiertes Knie. Die Kälte schien dort kleine Kristalle zu bilden, die bei rau über den Knochen schmirgelten. Der Schmerz sickerte bei jedem Schritt tiefer ins Gewebe.
Verena erreichte rechtzeitig den Bus und döste neben schläfrigen Frühaufstehern ihrem Bett entgegen. Das war für sie ein gewaltiger Fortschritt. Nur Dank einer langjährigen Verhaltenstherapie hatte Verena gelernt, die tägliche Fahrt in einem geschlossenen Fahrzeug angstfrei zu überstehen. Da Verena Autofahrten hasste, besaß sie weder Führerschein noch Auto und war auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen.
Zuhause würde sie noch die Kapitel über Gefäßkrankheiten memorieren und endlich in die Kissen sinken. Sie hoffte auf einen ruhigen Vormittag, damit sie neue Kraft schöpfen konnte und für die Vorlesung fit war. Wenigstens begannen bald die Semesterferien, dann wurden Klausuren geschrieben.
Die Welt war für Nachtarbeiter schlecht eingerichtet. Oder passten Leute wie sie einfach nicht hierher?
Verena wollte den Anflug von Selbstmitleid schon als melodramatisch abtun, ehrlich betrachtet, fühlte sie sich aber oft wie ein absonderlicher Einzelkämpfer.
Wenn sie sich dagegen die glatte Karriere von Oberarzt Karden ansah! Der war in den Fußstapfen seines Vaters leicht durchs Medizinstudium gelangt. Verena würde gerne gönnerhafte Platzhirsche wie ihn sehen, wie sie neben der Arbeit in der Klinik noch ein Studium bewältigten.
Dr. Karden hatte Verena heute zu Beginn ihrer Schicht gerügt, weil sie so müde aussah. »Bei Ihnen weiß man ja nie, ob Sie in ein Bett auf Station gehören oder ins Schwesternzimmer. Sie wissen, ich bewundere Leute, die mehr aus ihrem Leben machen wollen, Frau Seiler. Aber sind Sie den Belastungen durch ein Studium wirklich gewachsen?«
Dieser falsche Kerl! In Wahrheit hatte er Verena auf dem Kieker, seit durchgesickert war, dass sie sich weiterbildete, um eines Tages Ärztin zu werden.
So sehr sie Kardens Jovialität auch verabscheute, sie konnte es sich nicht leisten, ihn zum Feind zu haben. Deshalb behielt sie ihre Meinung für sich. Wegen ihrer Gabe war Verschwiegenheit für Verena ohnehin zur zweiten Natur geworden.
Mit asthmatischem Keuchen stieß der Bus die Tür auf, die Verena in den jungen Tag entließ. Vorsichtig, um nicht zu stolpern, setzte sie die Füße auf die Stufen des Ausstiegs.
Ein Stück weiter breiteten sich die nebelumflorten Wiesen des Blankenrainer Parks mit dem kleinen Waldstück aus. Ein erleuchteter Fußgängerweg, Promenade genannt, führte um den Park herum. Ein Kaninchen hoppelte übers morgengraufahle Grün, und seine Fährte zog einen silbrigen Streifen ins nasse Gras. Es war gesund und trächtig, wie das warme Orange um sein Fell verriet, das typisch für wachsendes Leben war.
Die Auren von Tieren waren einfach zu lesen und für Verena auf Anhieb zu erfassen, aber in denen von Menschen konnte sie sich verlieren. Deshalb hatte sie gelernt, ihren zusätzlichen Sinn die meiste Zeit zurückzunehmen und die Informationen auszublenden, damit sie nicht von der Fülle an Eindrücken erschlagen wurde.
Verena träumte einen süßen Moment lang, dem Kaninchen übers Grün hinterherzujagen, nur ein paar sorglose Minuten. Aber das Knie tat nach der ereignisreichen Nachtwache weh.
Sie seufzte und rückte den Schulterriemen der Tasche zurecht, ehe sie auf die Promenade einschwenkte.
Die Gegend erschien zu dieser frühen Stunde wie ausgestorben und die Laternen am Weg unterstrichen das übrige Dunkel. Verena ertappte sich dabei, wie sie beim Gähnen die Augen immer ein wenig länger geschlossen hielt. Als es in den Holunderbüschen raschelte, die den Pfad einfassten, wurde Verena stocksteif. Dann zwitscherte eine Amsel ihr Morgenlied. Verena atmete auf und setzte ihren Weg fort.
Der Pfad rückte näher an den Wald. Verena fröstelte und beeilte sich. Aber ausgerechnet an dieser Stelle hatte jemand ein Trinkgelage veranstaltet. Verena musste Glasscherben und Bierflaschen auf dem Boden ausweichen. Das brachte sie direkt an das Drängelgitter heran, das Radfahrern den Zugang zum Park erschweren sollte.
Prompt verhakte sich ihre Tasche an einer Metallstrebe des Gitters und sprang auf. Der Riemen spannte sich und Verena geriet aus dem Gleichgewicht. Sie prallte mit dem Hüftknochen gegen die Eisenstange. Au, verdammt!
Sie befreite die Tasche und merkte, wie ihr Atem schneller ging, wie immer, wenn sie sich gefangen glaubte. Bei dem Gitter verschmolzen die Lichtkreise zweier Laternen und leuchteten jede Einzelheit aus. Verena konnte bis in den Wald sehen und bemerkte dort einen seltsamen Ast. Sie erstarrte, und ihr Herz jagte los. Das war kein Holzstück, das da aus dem kahlen Rhododendron ragte, sondern ein menschlicher Arm!
»Hallo?« Brauchte jemand Hilfe? Instinkt und Pflicht stritten kurz miteinander, dann machte Verena widerstrebend ein paar Schritte darauf zu. Ihre Sneaker sanken in die feuchte Wiese ein. Nach einigen Metern blieb sie stehen. Kein Zweifel, dort lag ein Arm.
Eine leise Stimme in ihrem Inneren wollte ihr weismachen, es sei nur der Teil einer Schaufensterpuppe, die Spaßvögel am Waldrand versteckt hatten. Aber Verenas Gabe enthüllte die grausige Wahrheit. Im Zwielicht erkannte sie deutlich die olivgrüne Aura von frischen Leichenteilen. Tiefer im Gebüsch schimmerte ein Torso. Und dahinter schien ein Fuß …
Verena schluckte, um den Kloß im Hals loszuwerden. Sie hatte in der Klinik eine Menge Tote gesehen, und im Studium beim Präp-Kurs einen Leichnam seziert. Meistens sahen Verstorbene entspannt aus – gelöst und irgendwie entrückt, nicht nur für ihre geschärften Sinne. Das hier aber war vollkommen anders. Die Körperteile lagen zwischen den Bäumen und Büschen verstreut wie Glieder einer zerrissenen Puppe.
Kam das Keuchen von ihr?
Ihre besondere Wahrnehmung suchte die fehlenden Stücke, die zuvor ein lebendes Wesen gebildet hatten. Ein Rest ihres Bewusstseins registrierte, wie sich die feuchte Luft auf ihrem Mantelkragen niederschlug, und versuchte, den stechenden Geruch nach Fäkalien und Blut auszublenden.
Etwas knackte tiefer im Gesträuch. Verena zuckte zusammen. Ihr Blick blieb an einer Schleifspur auf der taugetränkten Wiese hängen. Dunkle Abdrücke im Schrittabstand. Die einzelne Fährte endete an einem Gebüsch.
Die Erkenntnis traf Verena wie ein Schlag: Es führte keine zweite Fußspur zurück. Der Mörder lauerte vielleicht noch hier irgendwo.
»Oh Gott!« Ihr Magen zog sich zusammen. Sie war allein mit einer Bestie in Menschengestalt! Verena wünschte sich in den Kaninchenkörper: flink davonspringen und Deckung suchen.
Sie drehte um, steif und wie vor den Kopf geschlagen. So schnell es das marode Knie erlaubte, eilte sie zum Weg zurück, während sie gleichzeitig nach ihrem Telefon tastete. Vergeblich. Hatte sie das Handy etwa beim Drängelgitter verloren? Immer wieder verhakte sich ihr Fuß im feuchten Gras, aber jedes Knistern von altem Laub und dünnen Zweigen trieb sie vorwärts. Kein Gedanke mehr an Zuhause. Sie musste fort, unter Menschen, sich in Sicherheit bringen … Die Überlegungen wirbelten durch ihren Kopf, und sie konnte kaum Schritt halten mit diesem Karussell.
Vor dem Verlassen der Parkanlage warf sie einen Blick über die Schulter zurück. Da schälte sich eine Silhouette aus den Büschen. Ehe Verena genauer hinsehen konnte, trugen ihre Füße sie wie von selbst zwischen parkende Autos hindurch und über die Straße. Als sie sich das nächste Mal gehetzt umdrehte, war auch die Gestalt untergetaucht.
Gepresst stieß Verena den Atem aus. Sie eilte weiter, fort vom Park. Sie hielt nicht mehr an, um sich umzusehen, aber sie richtete all ihre Sinne hinter sich. Ihre Schritte dröhnten auf dem Asphalt, doch da war ein fremdes Schlurfen. Verenas Hand schloss sich um eine kleine Dose mit Pfefferspray. Die andere suchte immer noch das Handy. Mist!
Ein Stück die Straße hinunter lag ein Kiosk, der möglicherweise schon geöffnet hatte! Ein Stück hinter ihr schlug etwas gegen eine Stoßstange. Im Vorbeihetzen schaute Verena in den spiegelnden Autoscheiben nach ihrem Verfolger. Ein vager Umriss zeichnete sich im Glas ab. Blaue Blitze zuckten um die Gestalt. Unwillkürlich versuchte Verena, die Aura zu deuten und übersah dadurch die Bordsteinkante. Als sie das steife Bein zu hart aufsetzte, drang der Stoß bis in den Kiefer. Schlagartig wechselte das Knie vom Sand-im-Gelenk-Gefühl zur Phase Glassplitter über.
Verena zischte schmerzerfüllt. Ihre Finger stahlen sich automatisch zu der wehen Stelle. Eine Sekunde verharrte sie, die Hand schützend um die Kniescheibe gelegt. Sie spähte zurück, dann nach links und rechts.
Aber da war nur Dämmerung, in die sich allmählich der Sonnenaufgang schlich. Verena hatte die Gestalt aus den Augen verloren. Auf dem Bürgersteig konnte sich kein Angreifer verbergen, und vor ihr lag die Straße offen.
Wo versteckst du dich?
Die Ampel an der nächsten Kreuzung schaltete von Rot auf Grün. Das fahle Leuchten erinnerte Verena an die Aura der zerfetzten Leiche, und sie unterdrückte ein Würgen. Sie hastete weiter, an einem Abbruchhaus vorbei und schließlich um eine Ecke. Nirgendwo ein Licht, alle Leute schliefen noch.
»Internationale Presse« stand in abblätternden Buchstaben an der Wand des Kiosks am Ende der Straße, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Der Rollladen über dem Tresen war geschlossen. Auf dem Bordstein vor dem Geschäft lag ein aufgeplatztes Zeitungspaket. »Lumpensammler-Morde ohne jede Spur«, überflog Verena im Vorbeihasten.
Hier würde sie keine Hilfe finden. Sie war auf sich allein gestellt.
Wieder nahm sie hinter sich eine flüchtige Bewegung wahr, mehr das Huschen eines Tieres als eines Menschen. In der Ferne ratterte ein Zug durch den anbrechenden Tag. Neuer Plan! Verena lenkte ihre Schritte zum Bahnhof. Höchstens fünf Minuten Gehweg. Selbst wenn kein Zug fuhr, wartete dort zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Taxi. Verena biss die Zähne zusammen. Im Eilschritt überquerte sie das Kopfsteinpflaster.
Sie entfernte sich immer weiter von ihrer Wohnung, doch das war ihr recht. Verena konnte nicht riskieren, den Verfolger zu ihrem Zuhause zu führen. Allmählich geriet sie außer Atem. Zu den Stichen im Knie, die in rascherer Folge durch das Gelenk schossen, kam ein dumpfes Drücken im rechten Fuß, den der Unfall zehn Jahre zuvor zerschmettert hatte. Es fühlte sich jetzt an, als stecke er in einem viel zu engen Schuh.
Verena sog tief die Morgenluft ein. Sie hatte wie durch ein Wunder das Unglück überlebt, das ihr die Familie genommen hatte, und sich zurück ins Leben gekämpft. Sie hatte die Unterbringung bei den strengen Pflegeeltern überstanden. Die Angst, dass man sie wegen ihrer Gabe für einen Freak hielt, ertragen – eine Angst, die bisher jede Beziehung zerstört hatte. Und sie würde auch die Begegnung mit dem Lumpensammler für sich entscheiden – denn wer sonst könnte für die Leiche im Park verantwortlich sein?
Eine Woge von Energie beflügelte sie.
Zum Bahnhof ging es rechts. Verena bog ab und erkannte noch im selben Moment ihren Fehler.
Zierkirschen säumten die Straße zum Bahnhof. Blankenrain war stolz auf diese Alleen. Sie boten im Sommer viele schattige Parkplätze. Aber im Augenblick waren all die Bäume für Verena finstere Säulen, hinter denen sich wer-weiß-was in die Schatten schmiegen konnte. War der Verfolger überhaupt noch an ihr dran oder hatte sie ihn abgeschüttelt?
Wie zur Antwort stürzte etwas um und rollte scheppernd durch den grauen Morgen. Sie riskierte einen Blick: Eine Mülltonne. Die kippten nicht von alleine um. Verena ballte die Fäuste. Sie durfte um keinen Preis umkehren, sonst lief sie dem Mörder direkt in die Arme.
Kurzentschlossen hinkte sie auf den Mittelstreifen, um so viel Abstand wie möglich zu den düsteren Straßenrändern zu gewinnen.
Ängstlich schaute sie sich um. Ihr Verfolger duckte sich weg, aber für einen Augenblick konnte sie ihn deutlich erkennen. Kein streunender Hund, sondern ein Zweibeiner. Bis auf die bläulichen Funken erschien seine Aura matt und kränklich.
Verena lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie legte trotz des wummernden Knies noch einen Schritt zu. Das wunde Gelenk rieb aufeinander, darunter schien rohes Fleisch zu liegen. Der Fußknochen fühlte sich an, als würde er durchbrechen. Sie hielt das Tempo und setzte den Fuß mit der Außenkante auf, um beides zu entlasten. Die halbe Strecke zum Bahnhof war geschafft. Aber die Zeit rannte ihr davon und der Verfolger kam näher.
Zuerst war das Pfefferspray dran, um den Angreifer zu verwirren. Dann musste sie improvisieren: Schlüsselbund, Fingernägel. Dabei konnte ihr Wissen über verwundbare Stellen am menschlichen Körper nützlich sein.
Verena bereitete sich auf eine Konfrontation vor, als sie ein unerwarteter Schwall süßer Aromen einhüllte.
Natürlich. Es machte in Verenas Kopf regelrecht Klack!, und sie drehte sich auf dem gesunden Bein geschmeidig um.
Ein Durchgang führte in den Hinterhof einer Bäckerei und von da aus direkt in die Backstube. Wie Verenas Nase zweifelsfrei feststellte, arbeitete dort zu so früher Stunde bereits jemand.
Ihre Schritte verstummten wie abgeschnitten, während sie sich über den unbefestigten Boden zur Tür vorkämpfte. Sie keuchte auf, als ein federnder Ast ihren Nacken berührte und ihr Herzschlag trieb sie weiter, auf die Tür und den Lichtstreifen am Ende des Durchlasses zu.
Verena machte sich nicht die Mühe zu klopfen, sondern drehte den Knauf und trat ins helle, warme Licht. Drei mehlbestäubte Angestellte sahen sie verblüfft an.
»Ich brauche Hilfe«, erklärte sie atemlos. »Es ist ein Notfall!«
Gazette
Blutbad im Park
Küstennachrichten
Lumpensammler schlägt wieder zu
Hernberger Rundschau
Rätselhafte Mordserie geht weiter
Blankenrain – In den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages entdeckte die 23-jährige Verena S. im Stadtpark von Blankenrain den grausam zugerichteten Körper eines Helmstädter Geschäftsmannes. Die Polizei schließt einen Zusammenhang zu den anderen Morden im Landkreis (wir berichteten) nicht aus.
Sucht der wegen seiner angeblich abgerissenen Erscheinung im Volksmund Lumpensammler genannte Serienmörder nun auch im beschaulichen Blankenrain nach Opfern?
Über die genauen Hintergründe der Tat gibt es noch keine Informationen. Wir ermitteln in alle Richtungen, so der Polizeipräsident.
Gazette
Ihm (Rainer D.) konnte auch Schwester Verena nicht mehr helfen.
Abendbote
Nachtschwester findet zerstückelte Leiche
Wie erst nach Redaktionsschluss bekannt wurde, arbeitet Verena S., die gestern früh auf dem Heimweg wortwörtlich über eine Leiche stolperte, als Krankenschwester in der Klinik von Blankenrain. Nachdem sie auf die Überreste von Rainer D. stieß, rief sie, eigenen Angaben zufolge, umgehend die Polizei. Trotz eingeleiteter Großfahndung konnte im Park niemand angetroffen werden. Lesen Sie weiter im Innenteil.
Gazette
Nichts Neues im Park-Mord
Die Behörden wissen auch nach drei Tagen nichts Neues mehr zu berichten. Langsam erkaltet die Spur. Verena S., die angeblich so couragierte Krankenschwester, weigert sich mit der Presse zu sprechen. Hat sie etwas zu verbergen? Oder hat die junge Frau mehr gesehen, als sie zugeben möchte? In unserem Interview mit Bäckermeister Horn erfahren wir, wie er die Nacht des Mordes erlebte …
Ein leises Klirren. Verena, die sich hinter einer Zeitung auf dem Sofa vergraben hatte, schreckte hoch.
»Scht, alles in Ordnung«, meinte Martina. Sie stellte die Porzellantasse auf dem Glastisch ab und hinterließ eine mittlere Überschwemmung. »Ich dachte mir, eine Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige für dich.«
»Danke, Tina!«
»Ich verstehe nicht, wieso du dir das antust.« Tina wies auf den mit Zeitungen übersäten Tisch. »Die schreiben jeden Tag mehr Unfug über dich. Nun haben sie sogar ein Foto von dir aufgetrieben. Nicht mal ein Schmeichelhaftes.«
»Das war gestern schon bei Facebook.« Verena zuckte die Achseln. »Von den lieben Kolleginnen geteilt.« Auf ihr Handy, das sie in jener Nacht so verzweifelt gesucht hatte, war sie schließlich ganz unten in der Tasche gestoßen. Nun war der Akku so gut wie leer, weil sie sich die Unruhe vertrieben hatte, indem sie jede aktuelle Mitteilung online verfolgte.
»Nun lass doch mal gut sein. Denk an was Schönes!«
»Irgendwie muss ich mich ja beschäftigen«, erklärte Verena. »Die Klinik hat mich freigestellt. Ab nächster Woche sind Semesterferien, aber zum Lernen hab ich echt grade keinen Kopf. Eigentlich will ich von der Sache nichts mehr hören. Aber das ist wie mit einem lockeren Zahn. Man wackelt und wackelt mit der Zunge …«
»Die verbreiten nur Gerüchte, weil es über den Lumpensammler sonst nichts zu berichten gibt. Wenn du die Gazette zusammenrollst, kannst du glatt Blutwurst daraus machen.«
»Ja, bei dem Schmalzanteil in der Promi-Parade sogar eine recht gehaltvolle.«
Sie lachten. Verena, die bislang ihre Finger an der Tasse gewärmt hatte, zog Tina jetzt neben sich auf das Sofa. Die Freundin erstrahlte regelrecht in einem gelben Licht, das Verena als gesund zu deuten gelernt hatte.
»Danke«, wiederholte sie, »für die Einladung, ein paar Tage bei dir zu verbringen, bis das Schlimmste vorbei ist.«
»Na hör mal!«, wehrte Tina ab. »Das war selbstverständlich. Du hast doch sonst niemanden. Und die Polizei wollte dich ja nicht in Schutzhaft nehmen.«
»Schutzverwahrung«, sagte Verena mit gespieltem Vorwurf. »Tja, leider bin ich keine Kronzeugin aus einem amerikanischen Krimi. Ich hatte halt nur das Pech …«
»… über eine Leiche zu stolpern«, zitierte Tina. »Stell dir den Rummel vor, wenn du zu Hause geblieben wärst.«
»Ich will dich da nicht reinziehen. Es könnte gefährlich werden.«
In den Zeitungen war ein Phantombild des Verdächtigen abgedruckt, das kaum mehr hergab als ein paar glühende Augen in einer Kapuze, die in einen zerfetzten, weiten Mantel überging.
Verena nickte in Richtung des Bilds. »Der sieht alles andere als freundlich aus.«
Jetzt war es Tina, die empört dreinblickte. »Hey, du hast doch ausgesagt, dass du niemanden gesehen hast. Außerdem ist dieser Lumpensammler nur hinter Männern her.« Tina befreite sich aus Verenas Griff und deutete in den Raum. »Und, sind hier irgendwelche Männer? Unter dem Tisch? Im Schrank? Oder etwa im Schlafzimmer?«
Tina sah einen Moment lang traurig aus. Das gelbe Licht um sie flackerte. Dann stemmte sie eine Hand in die mollige Hüfte. »Da ist es doch gut, dass ich keinen Lover hab. Wir beide sind völlig sicher.«
Verena schluckte. In Wahrheit hatte sie bei der Polizei ausgesagt, dass ihr jemand gefolgt war, den sie für den Mörder hielt. Die Beamten hatten sie jedoch angewiesen, aus ermittlungstechnischen Gründen über dieses Detail zu schweigen. Sogar Tina gegenüber. Man hatte ihr angeboten, sie unter Polizeischutz zu stellen. Aber der Gedanke an eine Zelle im Polizeirevier oder das wochenlange Eingesperrtsein in der eigenen Wohnung, war Verena unerträglich.
Lieber verkroch sie sich bei ihrer einzigen Freundin und schaute mit ihr jeden Abend romantische BBC-Kostümfilme auf Netflix.
In einem jedoch lag Tina goldrichtig: Die vier bisherigen Opfer des Lumpensammlers waren allesamt Männer und ungefähr doppelt so alt wie sie gewesen. Angeblich folgten Serienmörder doch einem festen Schema. Trotzdem wurde Verena das unheimliche Gefühl nicht los, dass mehr hinter den Morden steckte. Vor allem, weil eine Aura, wie die ihres Verfolgers, ihr nie zuvor untergekommen war.
Eine wachsende Unrast verdrängte die Erinnerung. Sich im winzigen Appartement ihrer Freundin zu verstecken, war eine Sache. Den ganzen Tag wie eine Klette an Tina zu kleben, eine andere. Weil sie Verena nicht alleine lassen wollte, hatte Tina alle Verabredungen abgesagt. Verenas Lust auf neue Kontakte hielt sich in Grenzen, vor allem, wo ihr Bild gerade durch die Presse geisterte.
»Heut Abend gehe ich arbeiten!«, verkündete Verena. Es wurde Zeit, dass sie auf andere Gedanken kam.
»Hast du dir das gut überlegt?«
Verena lächelte. Normalerweise war sie die Besonnenere. »Natürlich. Außerdem ist mein Handy-Ladegerät noch in der Klinik.«
»Dann fahre ich dich hin. Und zurück nimmst du ein Taxi!«
Tina fuhr so übervorsichtig, dass Verena sich in ihrem Auto halbwegs sicher fühlte. »Ja, Mama.«
Sie lachten beide. Die Stimmen fingen sich unter der Decke und hallten von den Wänden wieder. Das Echo klang eigenartig dünn, als spotte jemand über sie. Beinahe hätte Verena sich umgedreht, um zu sehen, ob irgendwer hereingekommen war. Plötzlich war ihr nicht mehr zum Lachen zumute.
Verena zog den Pullover aus. Sie hängte das Mobiltelefon ans Ladegerät und streifte den Schwesternkittel über. Endlich wieder auf Station. Es roch nach Desinfektionsmitteln, Plastik von den Abdeckhauben der Abendbrotteller, dazu ein Hauch von Schweiß und krankem Mensch. Der vertraute Krankenhausmief. Während der Nachtschicht herrschte in der Klinik eine eigentümliche, fast beruhigende Atmosphäre, als färbe der Schlaf der Patienten auf das Personal ab. Und Ruhe war genau das Richtige für ihre überreizten Nerven.
Verena ging zum Schwesternzimmer, einer Insel des Lichts inmitten abgedunkelter Zimmer. Bestimmt würde sie eine Kollegin antreffen. Tatsächlich blickten Mila und Katja überrascht hoch, als sie eintrat. Ärzte pflegten anzuklopfen, ehe sie das Refugium betraten.
»Sieh an, unsere Berühmtheit«, bemerkte Katja spitz. »Aus dem Rampenlicht zurück an die Bettpfanne.«
»Verena, was tust du denn hier?«, fragte Mila. »Wir haben das von dir gehört.« Ihre Haut zeigte für Verenas zusätzlichen Sinn einen Grauschleier. Mila musste gerade aus der Raucherpause gekommen sein, weil der Graustich sich einige ungetrübte Atemzüge später bereits auflöste.
»Ich wollte mich nützlich machen. Mir fällt die Decke auf den Kopf«, erklärte Verena.
»Wir haben hier alles im Griff!«, betonte Katja und schob das gebrauchte Geschirr zusammen. »Aber der Warteraum der Ambulanz ist voll.«
Mila nickte. »Es gab einen Notfall auf der U6, und mit nur einem verantwortlichen Arzt auf Station stapeln sich die Patienten. Willst du vorher noch ein Tässchen?«
Verena schüttelte den Kopf. »Danke, ich mach mich gleich auf den Weg.« Blauer Dunst und schwarzer Kaffee, das trug die Pfleger durch jede Nachtschicht. Sie wollte nicht wissen, was manche der Ärzte einwarfen, um die anstrengenden Dienste durchzustehen. Bereitschaftsdienste, Rufdienste, oder wie jetzt die Verantwortung für eine ganze Station und die Notaufnahme, forderten ihren Tribut.
Verena würde nie verstehen, wieso ausgerechnet Leute im Medizinbetrieb derart Raubbau am eigenen Körper betrieben. Vielleicht fühlten sie sich durch den Kontakt zu Krankheit und Tod vor Schaden gefeit. Oder sie waren einfach abgebrühter.
Im Wartebereich eine Treppe tiefer empfing Verena starker Alkoholgeruch, und das war gewiss kein Desinfektionsmittel. Die Stuhlreihen der Ambulanz bildeten ein U, in einer Glaskabine am offenen Ende des Hufeisens nahm ihre Kollegin Gerti Personalien und Krankengeschichten auf. Zwei Männer sahen aus, als hätten sie mit Brauereipferden gerauft. Ein älterer Herr saß mit seiner Tochter oder Schwiegertochter daneben und schnaufte. Für Verenas inneres Auge wirkten die Beschwerden seiner verschleppten Bronchitis nicht sonderlich gefährlich. Ein wenig abseits wartete eine Frau. Sie hielt sich den linken Arm, gebrochen war er allerdings nicht.
Verenas sechster Sinn lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Pärchen, von dem der Alkoholgeruch stammte. Der Mann hockte ungelenk auf dem für ihn viel zu niedrigen Stuhl und schob die Beine ruhelos vor und zurück. Doch es war seine Partnerin, die Verena beunruhigte – ihre Aura, die einen gesunden Menschen sonst wie ein Strahlenkranz im Gegenlicht umflorte, war verschoben. Die Linie um ihren Körper wies in Schädelhöhe einen feinen Riss auf.
Beim Anblick von Verenas Kittel wetterte der Betrunkene los. »Wo bleibt denn der verdammte Doktor? Wir warten schon über eine Stunde!« Verena musste jemanden auf den kritischen Zustand der Frau aufmerksam machen. Um den Mann nicht noch mehr aufzubringen, schlüpfte sie rasch in die Kabine.
»Hallo!«
Gertis Augen weiteten sich überrascht. »Verena! Oh Mann, gut, dass du da bist. Ich mach mir Sorgen, dass der Kerl gleich randaliert. Heute Abend stürmen die Leute hier rein, als gäbe es Freibier.«
Prompt kam Bewegung in die Menge. Köpfe ruckten hoch, Körper spannten sich. »Herr Doktor!«, rief der Betrunkene mit schwerer Zunge und kämpfte sich auf die Füße. »Kommen se schnell. Meine Frau ist die Treppe runtergefallen und jetzt hat se wahnsinnige Schmerzen.«
»Immer mit der Ruhe«, drang eine Stimme vom Gang, die leider sehr nach Dr. Karden klang. »Ich seh mir eben die Papiere an.« Der Arzt öffnete die Tür zum Glaskasten, doch der Betrunkene war überraschend flink. Noch ehe Karden in das Büro schlüpfen konnte, hatte der Mann ihn schon am Kittel gepackt.
»Es is dringend, Herr Doktor. Die wird verrückt vor Kopfweh.«
Verenas Blick flog zu der benommenen Frau. Sie kauerte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf ihrem Stuhl, und der Riss in der Aura war in dem kurzen Moment, seit Verena die Ambulanz betreten hatte, länger geworden. Wütend pulsierte ein rötliches Strahlen um die Fissur.
Eine abwehrende Geste von Dr. Karden lenkte Verenas Aufmerksamkeit wieder auf die Männer in der offenen Kabinentür. »Wenn Sie ausfallend werden, helfen Sie Ihrer Frau auch nicht«, bemerkte er gerade und griff nach den Krankenblättern. Die Hand des Betrunkenen glitt vom steif gestärkten Arztkittel wie ein totes Gewicht. »Ich mein doch nur – tun se was!«, sagte er hilflos.
Karden wich vor der feuchten Aussprache des Mannes zurück. Er wäre beinahe in Verena gelaufen, ohne sie wahrzunehmen. »Wir kümmern uns gleich darum. Aber es gibt dringendere Fälle, Herr …«
»Noviak.«
Erst mal abwiegeln. Das war typisch Karden. Verena äugte noch einmal zu der Verletzten hinüber. Der aufgelösten Frau liefen die Tränen herunter und Verzweiflung und Schmerzen sprachen aus ihrer gesamten Haltung. Verena wusste, dass die lautesten Patienten nicht immer die dringensten Fälle waren, sondern oft umgekehrt. Sie räusperte sich leise.
»Soll ich alles zum Röntgen vorbereiten?« Sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, um nicht eigenmächtig zu erscheinen. Sonst musste am Ende die Patientin unter ihrem Vorpreschen leiden. Karden war in diesen Dingen eigen und brachte es fertig, das genaue Gegenteil des Vorgeschlagenen zu tun, nur um zu zeigen, wer das Sagen hatte.
Der Arzt blickte Verena an, als sähe er ein Gespenst. »Frau Seiler«, sagte er mit gespitzten Lippen. »Was machen Sie denn hier?«
»Ich bin eingesprungen, weil so viel los war!«
Kardens Blick sengte eine Brandspur durch den Raum, und Gerti schüttelte rasch abwehrend den Kopf. »Ich hab niemanden angefordert!« Entschuldigend sah Gerti Verena unter niedergeschlagenen Lidern an.
Nun genoss Verena Dr. Kardens ungeteilte Aufmerksamkeit. »Sie haben keine Berechtigung mehr, hier zu sein, Frau Seiler. Das wissen Sie doch.«
So schlimm konnte es wohl kaum sein, wenn sie mal freiwillig zum Dienst erschien. Bei Kardens nächsten Worten jedoch wurde Verena zunächst heiß und dann eiskalt.
»Seit Sie in diese unselige Mordgeschichte verwickelt wurden, geht hier alles drunter und drüber«, sagte er, als wäre sie mit Absicht einem Mörder in die Quere gekommen.
Verena fühlte, wie sie errötete. »Wenn ich erklären …«
»Wir müssen schließlich an die Patienten denken, Frau Seiler. Deren Wohl ist oberstes Gebot, das verstehen Sie gewiss.« Er hob die linke Hand, spreizte Daumen und Mittelfinger und strich sich geziert die Brauen glatt. »Ihre Anwesenheit stört entschieden die betrieblichen Abläufe. Obwohl wir Sie freigestellt haben, wimmelt es tagsüber von Reportern. Dies ist eine Klinik und kein Hühnerhof. Gestern erst ist ein aufdringlicher Boulevard-Schnüffler bis ins Schwesternzimmer vorgedrungen. Hat Fragen gestellt, über Sie.«
Verena war sprachlos über so viel Dreistigkeit. Aber was konnte sie dafür?
Karden blinzelte. »Ich bedauere, dass Sie es auf diesem Wege erfahren …«
Gar nichts tut dir leid, dachte Verena. Sie ahnte, worauf das alles hinauslief, fand vor Empörung jedoch keine Worte.
Der Arzt bürstete ein Staubkorn von seinem Ärmel. »Sie verstehen sicher unsere Lage. Der Betriebsrat hat der Kündigung zugestimmt. Da Sie nur über die Zeitarbeit angestellt sind, ging das fix. Das entsprechende Schreiben hätte längst …«
Verena schluckte. Natürlich. Ein Brief der Vermittlerfirma wäre an ihre Postadresse gegangen. Und die Sendungen der vergangenen Tage hatte sie noch nicht abgeholt, weil sie keine Verbindung von ihrem Zuhause zu Tinas Wohnung herstellen wollte. Außer Rechnungen und Werbebriefen bekam sie sowieso nie Post, und die konnten, weiß Gott, warten.
»Ihren Resturlaub bekommen Sie voll ausbezahlt. Ich bin sicher, eine andere Institution …«
Verena hasste sich selbst für das, was sie nun tun musste. Sie musste betteln. Und das ausgerechnet bei Karden. »Aber ich bin auf die Stelle angewiesen, um mir das Studium zu finanzieren. Wenn ich jetzt nach einem neuen Job suchen muss, kann ich die Klausuren vergessen.« Sie brauchte die Semesterferien zum Lernen und Geld verdienen. Und nun sollte sie sich in der knappen Zeit die Hacken bei der Arbeitssuche ablaufen. Das war unfair!
»Die Entscheidung habe nicht ich gefällt«, stellte Karden klar. »Entschuldigen Sie mich nun, es warten Patienten!« Er hob die Krankenblätter wie einen Schild vor die Brust.
Verena warf einen letzten Blick auf die zusammengesunkene Frau im Warteraum. Sie hörte ihr Weinen bis hierher.
»Gut, ich verschwinde«, sagte Verena. »Nur eins noch: Wir waren fachlich nicht immer einer Meinung, Doktor. Aber bitte sehen Sie sich Frau Noviak genauer an. Ich vermute, sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, vielleicht sogar einen Schädelbruch.«
Kardens Mund verzog sich abschätzig. »Wer saufen kann, der muss auch die Folgen tragen. Im Übrigen bin ich ausgebildeter Arzt mit Berufserfahrung, und Sie nur eine Pflegekraft. Von einem fachlichen Austausch auf gleichem Niveau kann also keine Rede sein.«
In Verena kochte es. Ihr Kreislauf hatte auf heiß geschaltet. Die Magensäure brannte bis an ihrem Gaumen. Befeuert von gerechtem Zorn stieß Verena nur einen Satz hervor: »Wir werden ja sehen, was die Presse zu Ihrer Behandlung von Notfällen sagt.«
»Passen Sie auf. Wenn ich wollte, setzten Sie keinen Fuß mehr in ein deutsches Krankenhaus. Dann können Sie Ihr Glück im Ausland versuchen – Haben wir uns verstanden, Frau Seiler?«
Verena versteifte sich. Ihr wurde noch heißer. Die Wände des gläsernen Kastens rückten näher und näher. Sie spürte, wie ihre Stirn feucht wurde, und hörte ihr Herz pochen. Karden beäugte sie misstrauisch. Er kannte die Anzeichen einer Panikattacke. »Ich hoffe, Sie machen mir hier jetzt keine Szene. Also gut …« Er winkte Gerti. »Bringen Sie die Patientin zum Röntgen. Und Ihnen noch einen schönen Abend, Frau Seiler.«
Lumpensammler
Die kühle Nachtbrise klärte ihre Gedanken und trieb die drückenden Sorgen auseinander wie Regenwolken. Sie ging weiter, langsamer jetzt, über den erleuchteten Gehweg, vorbei am Parkplatz, der außerhalb der Besuchszeiten verlassen dalag.
Die Lichter des Klinikkomplexes verschwanden hinter ihr und endlich drang eine Wahrnehmung durch Verenas abflauende Panik. Sie hörte Tritte von schweren Schuhen. Sofort schlug ihr das Herz bis zum Hals. Ihr Verfolger? Instinktiv lief sie schneller. Aus purer Gewohnheit hatte Verena bei ihrem aufgebrachten Abgang den gewohnten, kürzeren Weg an der dunklen Cafeteria vorbei zur Bushaltestelle eingeschlagen. Die offene Haltestelle war alles andere als eine Zuflucht und im hellen Schwesternkittel war Verena leicht auszumachende Beute.
Sie zwang sich stehenzubleiben. Die Schritte verklangen augenblicklich. Verena ging ein Stück weiter. Wie ein schleppendes Echo kehrten die Fußtritte zurück.
Jemand war hinter ihr her. Und das Handy hing noch am Ladegerät neben ihrem Spind. Verfluchte Scheiße, wenn etwas schiefging, dann gründlich!
Verena blickte sich hektisch um, konnte in der Dunkelheit aber niemanden ausmachen. Das Geräusch verstummte.
»Hallo?«, fragte sie in die Schwärze hinein, weil sie sich nicht grundlos ängstigen wollte. Vielleicht war es nur ein Pfleger. Ein einsamer Spaziergänger – oder Reporter. Wo blieb die Meute, wenn man sie mal brauchte? »Suchen Sie mich?« Ihre Stimme trug weit in der Nachtluft.
Es kam keine Antwort, nur ein leises Rascheln, als hätte sich jemand tiefer in ein Gebüsch gedrückt. Wer immer da war, zog es vor zu schweigen.
Verena sammelte alle Kräfte. Also gut.
Den Lauten nach zu urteilen, war der Verfolger mindestens zehn Meter zurück. Verena knöpfte im Gehen hastig den Kittel auf. Hinter den vorspringenden Ästen der ausladenden Kiefer vor ihr würde der Unbekannte sie einen Moment lang aus den Augen verlieren. Eine bessere Gelegenheit gab es kaum. Verena zog den Kittel aus. Sie hängte das helle Oberteil in eine Berberitze am Weg. Dann schlug sie sich seitlich in die Büsche.
Für denjenigen hinter ihr sah es hoffentlich so aus, als wäre sie erneut stehengeblieben.
In Wahrheit huschte Verena geduckt in Deckung der Anpflanzungen über den Rasen zurück Richtung Klinik. Immer wieder stoppte sie und sicherte nach allen Seiten. Der Kittel hing wie ein Gespenst zwischen den dornigen Zweigen.
Verena hatte endlich die Cafeteria erreicht, als sie sich ein letztes Mal umsah. An der Stelle, wo sie den Kittel zurückgelassen hatte, nahm sie eine schattenhafte Gestalt wahr. Wild flatterten die Ärmel des Kleidungsstücks, und es sah beinahe aus, als tanze der Verfolger damit … Verena riss sich von dem Anblick los und steuerte direkt auf das Pförtnerhäuschen zu, das 24 Stunden am Tag besetzt war. Den Rest ihrer Sachen konnte sie morgen bei Tageslicht abholen. Jetzt würde sie beim Pförtner die Polizei alarmieren und sich ein Taxi bestellen.