Am nächsten Tag war ich in einem der Strandhotels, für die wir regelmäßig Events organisierten, zum Nikolausbrunch eingeladen. Ich nahm die Gelegenheit wahr, Kontakte zu pflegen und ein Bühnenkonzept vorzustellen, das ich mir für dieses Haus ausgedacht hatte. Das Hotel verfügte über ein angrenzendes kleines Theater, und ich hatte in der Vergangenheit schon ein paar Künstler dafür engagiert. Im neuen Jahr plante ich, eine Reihe mit Binzer Persönlichkeiten zu etablieren, die Prominente aus ganz Deutschland im Stil von »Zimmer frei« interviewen sollten. Das würde bei den Einheimischen sicher gut ankommen, die oft genug beklagten, dass sie ihre Stadt mehr und mehr an die Touristen verloren.
Nachmittags traf ich mich noch einmal mit dem Brautpaar Diepkens-Albert, das in der »Villa« feiern würde und sprach mit ihnen die Musik-Hitliste durch, die sie sich für die Party nach dem Essen wünschten.
Abends ging ich wieder ins Büro, um letzte Mails zu beantworten und Angebote rauszuschicken. Den ganzen Tag zeigte sich kein einziger roter Fleck, und Robert und ich liefen uns nicht über den Weg.
Gegen halb neun kam ich nach Hause, genoss den Geruch nach Putzmitteln, der freitagnachmittags immer in meiner Wohnung hing, weil meine Putzhilfe Rodika gewaltet hatte. Ich bestellte mir eine Pizza, hockte mich vor den Fernseher und schlief vor dem laufenden Gerät ein. Irgendwann in der Nacht wachte ich auf und krabbelte ins Bett.
Meinen Geburtstag ging ich gemütlich an, zwang mich, der Arbeit fernzubleiben – immerhin war Samstag. Ich joggte am Strand entlang, drehte die Musik in meinen Ohren auf und ging anschließend im Hotel von Annikas Onkel eine Runde schwimmen, bevor ich mich den Vorbereitungen fürs Abendessen widmete. Während ich Dips und Lammkeule mit Gemüse vorbereitete, philosophierte ich wieder über mein Leben. Ein bisschen betrübte es mich schon, dass ich den Abend nur mit meinen Eltern und Marc verbringen würde. Fast fühlte ich mich wie eine verschrobene Junggesellin.
Als ich noch mit Piet verheiratet war, war es mir gar nicht so sehr aufgefallen, dass er die meisten unserer Freunde mit in die Ehe gebracht hatte. Wäre da nicht seine Mutter gewesen, die sich von Anfang an in alles eingemischt hatte, wären wir vielleicht sogar noch zusammen. Vor allem hatte ihr nicht gefallen, dass ich in der Agentur freiwillig jeden Wochenenddienst annahm. Dabei wäre das eine Sache zwischen Piet und mir gewesen. Doch irgendwann hatte es auch ihn gestört – und das war der Anfang vom Ende. Wenn man jemandem verbieten will, etwas zu tun, woran sein Herz hängt, ist das keine gute Idee. Allerdings hätte ich kompromissbereiter sein müssen – das war mir inzwischen auch klar.
Seit Annika so weit weg von mir lebte, waren Marc und Robert meine engsten Begleiter. Robert war mittlerweile ein guter Freund. Dennoch kam es überraschend, als sogar mein Chef zusammen mit Marc und meinen Eltern am Abend vor meiner Tür stand. Ich begrüßte meine Familienmitglieder mit Küsschen auf die Wangen und sah Robert verblüfft an. Mein Chef übergab mir einen Strauß weißer Lilien, in deren Mitte eine glitzernd rote 29 prangte.
»Alles Gute zum Geburtstag«, wünschte er und streifte sich die Füße an der Fußmatte ab.
Ich legte die Blumen beiseite und half mit Mänteln und Schals. Draußen wehte von der See ein eisiger Wind, der einem die Tränen in die Augen trieb.
»Ich glaube, heute wird es spannend«, raunte Mama mir zu, als wir allein in der Küche waren, wo ich die Lilien in einer hohen Vase verstaute.
Von Mama habe ich die rotblonden Locken und die hellbraunen Augen geerbt. Marc ist ebenfalls mit roten Haaren und einer hellen Haut gesegnet. Zurzeit trägt er Vollbart, wie Papa. Mein Vater ist dunkelblond und hat graue Augen. Er ist ein stiller Mann, der jetzt mit Marc und Robert im Wohnzimmer mit den Sektkelchen herumstand. Die Männer unterhielten sich leise. Vielleicht ging es um Fußball, ein Thema, bei dem Papa als HSV-Fan mitreden konnte.
»Inwiefern spannend?«, fragte ich meine Mutter und langte nach dem Tablett mit den Käsecrackern und Dips, die ich zur Vorspeise bereitgestellt hatte. Im Ofen schmorten die Lammkeule, Gemüse und Rosmarinkartoffeln – alles war ruckzuck vorbereitet gewesen. Für die Events meiner Kunden legte ich mich zwar wahnsinnig ins Zeug. Bei meinen eigenen Feiern war ich eine Minimalistin.
»Ich meine wegen Marc und Robert.«
Überrascht sah ich meine Mutter an. »Du meinst, die beiden sind ein Paar?«
Ich hatte es schon geahnt, allerdings lebte Marc in Berlin, kam nur alle paar Wochen her, wie zum Beispiel zu meinem Geburtstag. Oder zu Weihnachten, das wir üblicherweise bei meinen Eltern feierten. Wahrscheinlich waren sie sich im Sommer nähergekommen, als ich diese Krise wegen des verbaselten Termins von Tobias Föhring hatte und tagelang im Bett lag. Marc war aus Berlin gekommen, um mir zur Seite zu stehen. Und auch Robert hatte mir einen Besuch am Krankenbett abgestattet. Einmal, um mir zu versichern, dass Fehler nun mal passieren konnten, zum anderen, um mir den Verlust in Zahlen mitzuteilen, den ihn mein Fauxpas gekostet hatte. Glücklicherweise zahlte die Versicherung. Robert hätte mir aus Konsequenz für meine Schludrigkeit kündigen können, doch das hatte er nicht getan. Ob Marc etwas damit zu tun hatte? Ich würde jedenfalls erst glauben, dass die beiden ein Paar waren, wenn die beiden es auch offiziell verkündeten.
Als ich mit Mama im Schlepptau das Wohnzimmer betrat, stimmten die drei Männer »Happy birthday« an, und auch Mama fiel mit ein.
Verlegen stellte ich das Tablett ab und griff nach meinem Sektglas. »Lieb, dass ihr gekommen seid«, sagte ich. »Was würde ich nur ohne euch machen?«
»Ich weiß schon, was«, antwortete Robert, nachdem er sein Glas geleert hatte, und übergab mir einen Umschlag. »Für dich.«
»Wow.« Neugierig betrachtete ich das rote Kuvert, auf dem in Roberts steiler Handschrift mein Name stand. Robert und Marc setzten sich nebeneinander aufs Sofa, während Papa und Mama mir über die Schulter blickten. Ich öffnete den Falz des Briefumschlags und zog ein Blatt Papier hervor.
»Alpenlofts.at«, las ich. »Ein zweiwöchiger Aufenthalt in den Gasteiner Alpen. Ein Geschenk von Marc und Robert.« Dahinter drei Herzchen.
Fragend sah ich von Robert zu Marc. Die beiden grinsten mich an.
»Was soll das?«, fragte ich. Ich meinte damit zwei Dinge: Wieso schenkten sie mir eine Reise in die Berge? Und wieso sie beide zusammen? Hieß das wirklich …?
Mein Vater sah peinlich berührt aus, er interpretierte die Herzchen offenbar ganz richtig. Papa hatte sich schwer damit getan, als er erfuhr, dass Marc auf Männer stand. Er hatte nichts gegen Schwule, natürlich nicht, aber wenn es um den eigenen Sohn ging, sah die Sache etwas anders aus. Seinen Sohn hier mit einem Lover – noch dazu meinem Chef – zusammen zu sehen, war wohl nicht leicht für ihn. Dabei passte es doch eigentlich ideal. Marc war dreiunddreißig, Robert fünf Jahre älter.
Die Wangen meines Bruders röteten sich. »Wie – was soll das? Das ist unser Geschenk für dich. Wir haben nur zusammengelegt.«
»Jedenfalls ist es in Bad Gastein ganz toll.« Robert sah rückversichernd zu Marc.
Dieser nickte. »Wo du doch die Berge so sehr magst.«
»Seit wann mag ich die Berge?«, fragte ich. »Ich liebe die See. Ich –« Wieder sah ich auf den Voucher und riss die Augen auf. »Vom achtzehnten Dezember bis zum ersten Januar? Dann wäre ich ja Weihnachten weg! Und Silvester!« Ich sah Robert und meinen Bruder ungläubig an. »Wie stellt ihr euch das vor?«
Mein Chef stand vom Sofa auf und nahm mir den Voucher ab, den ich noch nicht vollständig studiert hatte.
»Ich stelle mir das ganz einfach vor«, antwortete er. »Ich hatte dir gesagt, du solltest mir deine Pläne mitteilen. Hast du aber nicht.« Er tippte auf den Voucher. »Guck mal, wir haben an alles gedacht. Es ist all inklusive. Das Flugticket nach Salzburg, der Mietwagen, Essen, Skikurs. Sieh es als Bonus für deine in diesem Jahr geleistete Arbeit.«
»Aha«, entgegnete ich, »daher weht der Wind. Weil ich Mist gebaut habe, komme ich ins Exil in die Berge.«
Marc stand ebenfalls vom Sofa auf und legte den Arm um mich. »Das hat doch mit deinem Fehler überhaupt nichts zu tun. Robert will nur, dass du dich mal entspannst und Urlaub machst. Und ich auch.«
Jetzt schaltete Mama sich ein. »Ich finde das ebenfalls keine schlechte Idee. Schau mal, Mona, du wirst bald dreißig. Du könntest die Zeit dort nutzen, um darüber nachzudenken, was du aus deinem Leben machen möchtest.«
»Gar nichts!«, rief ich. »Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist!«
»Das kann nicht sein«, meinte Papa. »Ohne Mann, keine engen Freunde vor Ort, nur die Arbeit. Das ist doch kein Leben für eine junge, hübsche Frau.«
»Sieh zu, dass du dich erholst«, drängte Mama. »Vormittags in den Skikurs und danach einen ausgiebigen Mittagsschlaf. Was meinst du, wie schnell du da wieder zu Kräften kommst.«
Plötzlich roch es angebrannt. Die Lammkeule! Ich rannte in die Küche, riss die Ofentür auf und stand in einer Nebelschwade aus verbranntem Öl. Mist.
Bei näherem Hinsehen war der Schaden jedoch begrenzt. Es hatte nur ein bisschen vom Gemüse erwischt, das ich offenbar nicht genug eingepinselt hatte.
Ich nahm das Blech aus dem Ofen und verteilte Saft über Fleisch und Grünzeug, stellte die Temperatur zurück und schob alles wieder hinein. Tief durchatmen.
»Robert und ich würden die Feiertage gern mit Freunden in Berlin verbringen«, flüsterte Marc, der hinter mich getreten war. »Und Mama redet schon seit Jahren davon, dass sie über Weihnachten gern mal von dem ganzen Trubel hier fort wäre. Sie würde gern Heiligabend in die Oper gehen, das haben sie noch nie gemacht, und danach schön mit Papa essen. Die beiden würden das aber nie tun, wenn sie wüssten, dass sie dich allein zurücklassen.«
»Warum hast du mich denn nicht vorgewarnt?«, murrte ich. »Für mich ist dieser Urlaub eine Strafe. Ihr hättet mich fragen sollen. Wenn ihr mich schon unbedingt los sein wollt, hättet ihr mir Teneriffa schenken können. Oder die Seychellen. Aber Bad Gastein!«
Ich fasste mir an die Stirn. Vor meinem geistigen Auge sah ich Greise mit Rollator durch die Straßen manövrieren.
Marc zog mich an sich und strich mir über den Kopf. »Komm, Löckchen«, meinte er, »ich spür genau, dass es viel besser wird, als du denkst.« Jetzt nahm er mein Gesicht zwischen die Hände und sah mich ernst an. »Du hattest im Sommer versprochen, dass du kürzer trittst. Du hast es aber nicht getan. Robert ist in Sorge, dass du bei all dem Stress wieder etwas übersiehst. Du brauchst mal einen klaren Kopf. Und als du im Mai von Annikas Hochzeit in Zermatt zurückkamst, hast du von den Bergen geschwärmt. Da dachten wir, dass so ein Loft mit Kamin und integrierter Sauna zur Entspannung genau richtig wäre. Es ist ein Apartment für vier Personen, du kannst dich dort total breitmachen. Damit du dich um nichts kümmern musst, nimmst du an den Mahlzeiten im nahegelegenen Hotel teil. Das ist ein toller Schuppen, Robert hat keine Kosten gescheut.« Er schmunzelte. »Wie du dir vorstellen kannst, habe ich finanziell nicht ganz so viel beisteuern können, wie er.« Nun streichelte er mir die Wange. »Du wirst nette Leute kennenlernen, die genau deine Kragenweite sind, du wirst sehen.«
Ich wischte mir eine Träne aus dem Augenwinkel. »Mag sein«, entgegnete ich, »aber ihr hättet trotzdem fragen können. Und Ski fahren werde ich auf keinen Fall. Am Ende breche ich mir was und liege in irgendeinem von Nonnen geführten Bergspital.«
»Na, na«, sagte Marc, »male mal nicht den Teufel an die Wand. Du wirst dir schon nichts brechen. Und wenn, dann hoffentlich nur dein Herz.«
Vorwurfsvoll sah ich ihn an.
Er lachte. »Spaß, Süße, nur Spaß. Ich wünsche dir, dass du endlich mal wieder andere Dinge wichtig nimmst, als immer nur die Arbeit.«
Während des Essens stocherte ich in den Speisen herum und haderte mit allem. Ich in den Bergen! Was hatten sie sich nur dabei gedacht?
Nachdem meine Eltern und Marc mit Robert gegangen waren, hörte ich die Mailbox meines Handys ab. Es gab genau einen Anruf. Eine einzige Geburtstagsnachricht zum Neunundzwanzigsten. Sie kam von Annika. Auf Facebook waren es mehr gewesen, zugegeben. Aber dort wurden die User auch daran erinnert.
»Hallo meine Süße, alles, alles Liebe und Gute zum Geburtstag! Ich hoffe, du feierst schön und hast den Tag genießen können! Melde dich doch mal, ich hab in den letzten Wochen schon ein paarmal angerufen. Ist alles okay bei dir? Uns geht es gut. Nevio kann jetzt laufen und hat nichts anderes im Kopf als Schlittenfahren. Er sagt Mama und Papa!« Sie lachte. »Na ja, Felix ist natürlich ununterbrochen auf der Piste und gibt Skikurse. Bei mir klappt es inzwischen auch richtig gut, wer hätte das gedacht. Was machst du über die Feiertage? Feierst du wieder mit Marc und deinen Eltern? Wahrscheinlich organisierst du eine Weihnachtsfeier nach der anderen. Ach, und die Silvestergala im Kurhaus natürlich. Bitte melde dich trotzdem mal, wäre schön. Happy birthday!«
Ich sah auf die Uhr. Dafür, Annika zurückzurufen, war es schon zu spät. Ich würde es morgen tun. Sie würde Augen machen, wenn ich ihr erzählte, dass Robert mich vierzehn Tage in die Berge verbannen wollte. Aber da hatte er sich geschnitten.