Es war der Sonntag nach meiner unvollendeten Putzaktion, mein Sohn Ben lehnte in der Küchentür. »Was gibt’s denn so Dringendes?«, fragte er auf meine Bitte hin, sich einen Moment zu Tobi und mir in die Küche zu setzen. Mit einer fließenden Bewegung zog er den Reißverschluss seiner Trainingsjacke hoch. »Ich muss gleich los.«
Tobi und ich hatten gerade gefrühstückt. Seit einiger Zeit taten wir das allein, weil unsere Kinder so früh – zehn Uhr dreißig! – nicht aus dem Bett zu bekommen waren. Ben nahm sich meist Bananen und Erdnussbutter mit zum Training, das um zwölf Uhr stattfand.
»Setz dich einfach kurz«, bat ich ihn abermals und rief ins Treppenhaus nach meiner Tochter. »Miri! Ich wollte mal kurz mit euch reden, kommst du bitte?« Ich hatte sie schon dreimal geweckt.
Ich hörte die Badezimmertür im oberen Flur klappen, Ben zog sich einen Stuhl heran und setzte sich auf die äußerste Kante. »Was also?« Fragend zog er die Augenbrauen nach oben.
Na gut, ich konnte ja schon mal anfangen. Ich zog den Farbausdruck des Prospekts eines Reiseveranstalters von der Anrichte – ich hatte lieber was in der Hand – und legte die Zettel auf den Tisch. Das Cover zeigte die geschwungene Küstenlinie Teneriffas inmitten des Atlantiks. Im Zentrum der Insel erkannte man den schneebedeckten Vulkan Teide. Die Aufschrift des Prospekts lautete Teneriffa – Insel der Träume.
In diesem Moment schlurfte Miri in die Küche und plumpste auf ihren Stuhl, gähnte demonstrativ. Wenn sie verschlafen war, erinnerte ihr Gesichtsausdruck an den eines Faultiers. Kaum zu glauben, dass dieses Kind früher keine Sekunde stillsitzen konnte und meist gerannt war. Müde hob sie ein Augenlid und schielte in Richtung des Ausdrucks. »Was ist das?« Ihre Stimme hätte nicht gelangweilter klingen können.
»Es geht um meinen Geburtstag«, sagte ich in die Runde. »Zu meinem Vierzigsten würde ich gern eine Woche mit euch und Oma auf Teneriffa verbringen.« Erwartungsvoll sah ich meine Familie an. Als die Jubelschreie ausblieben, tippte ich auf die Bilder der Hotelanlage. »Hier. Da ist für jeden etwas dabei. Es gibt Tennisplätze, Billard, Minigolf, verschiedene Pools, Massagen und …« ich warf Tobi einen Blick zu, »rund um die Uhr kostenloses W-LAN.«
Bisher war noch kein Urlaub vergangen, in dem mein Mann nicht mal zwischendurch arbeiten musste. Nur im letzten Jahr in Husum hatte er darauf verzichtet. Aber auf dieser Reise war alles anders gewesen.
»Echt jetzt?« Miri hatte inzwischen immerhin beide Augen geöffnet. Früher hätte die Aussicht auf eine Flugreise – wir waren meist an die Nordsee gefahren – einen Freudentanz hervorgerufen. Der blieb jetzt aus. Und auch Tobi und Ben schauten irritiert drein. Es mochte ja sein, dass unsere Kinder uns schon verschiedene Male zu verstehen gegeben hatten, dass sie nicht mehr mit uns in den Urlaub wollten. Aber das hier war anders!
»Hört zu«, sagte ich, »es geht hier wie gesagt um meinen Vierzigsten. Den will ich gebührend feiern, und zwar mit euch. Aber eben nicht irgendwo hier, sondern auf der Insel, auf der ich mal sehr schöne Tage mit Opa und Oma verbracht habe. Genauer gesagt hab ich schon meinen zwölften Geburtstag dort gefeiert. Valerie werde ich auch dazu einladen, sie hat mir damals schon gefehlt.«
»Valerie?« Miri sah mich grübelnd an. »Du hast doch am 4. Juli. Wenn ich mich nicht total täusche, sind sie und Matt da auf Sardinien.«
»Auf Sardinien?«
»Terry heiratet. Du weißt doch, Matts Ex-Schwägerin, oder wie man das nennt.«
Meine Freundin Valerie lebte inzwischen in Schottland, wo sie letztes Jahr auf ihrem Trip mit meiner Tochter einen Mann – Matt – kennengelernt hatte, ohne den sie nie wieder sein wollte. Im Mai war sie Mutter eines kleinen Jungen geworden. Kurz nach der Geburt hatte ich sie schon zusammen mit Miri besucht.
Jetzt ließ mein Kind die Zunge aus dem Mund hängen wie ein Tier, das nach Wasser lechzt. »Du weißt doch außerdem, dass ich zu Jamie wollte – und jetzt hat er ja sturmfrei, wenn Matt und Valli nach Sardinien fliegen.« Jamie war der Sohn von Matt. Miri hatte sich letztes Jahr auf ihrem Schottlandtrip in ihn verliebt, und bisher schien die Liebe noch kein bisschen abgekühlt.
Hilfesuchend sah ich zu Tobi, der zwischen den Zetteln blätterte, als suchte er etwas Bestimmtes. Ihm waren Geburtstagsfeiern noch nie wichtig gewesen. Seinen eigenen Vierzigsten hatte er nicht feiern wollen, dabei hatte ich ihm ein Fest in unserem Garten vorgeschlagen. Ich hätte neben meiner Familie und Valerie seine Arbeitskollegen eingeladen, aber bei diesem Vorschlag hat er sich fast überschlagen vor Ablehnung.
Ben griff nach den Resten einer Eierschale und zerbröselte sie in kleinste Teile. »Ich wollte es dir ja schon längst sagen, Mama. Dein Geburtstag fällt genau auf den Start des Trainingcamps in Marburg. Ich hab schon zugesagt, kann da auch nicht fehlen.« Er hob die Schultern. »Ich bin der wichtigste Stürmer, das wäre echt fatal.«
»Also gut.« Ich schluckte die Enttäuschung hinunter. »Dann eben ohne euch und Valerie.« Erwartungsvoll sah ich zu Tobi. »Aber du hast doch hoffentlich nichts Besseres vor?« Zu dritt mit Mama war zwar auch nicht meine Traumvorstellung. Aber was sollte man machen?
Mein Mann rückte seine Brille gerade, dann nestelte er an seinem Hemdsärmel herum. »Ich werd wohl nicht freinehmen können«, murmelte er. »Also – nicht, dass ich nicht mit dir feiern möchte. Aber ich kann keine ganze Woche weg.« Er hob bedauernd die Schultern. »Wir haben doch …«, sein Blick flog zu Ben, der die Augen verdrehte, »… den Rollout.«
Tobi arbeitete nun schon so lange in der Software-Branche, doch was ein Rollout war, hatte ich bis heute noch nicht richtig begriffen.
Niedergeschlagen blinzelte ich die aufsteigenden Tränen fort. Warum ließen mich denn alle im Stich?
Tobi griff nach meiner Hand. »An deinem Geburtstag hätte ich mir natürlich freigenommen, ist doch klar. Ich dachte, wir gehen irgendwo in ein nettes Lokal …«
Zu Papas Beerdigung waren wir auch in »ein nettes Lokal« gegangen. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte auf Teneriffa feiern. Diese Idee hatte mir so gut gefallen!
Miri beugte sich über den Tisch und tätschelte mir den Arm. »Fahr doch mit Oma. Die würde sich bestimmt über so eine Auszeit freuen. Und ihr beide könntet mal wieder so richtig schön in Erinnerungen an Opa schwelgen. Und wie ihr da mal vor dreißig Jahren zusammen wart.«
Fast hätte ich gelacht. Den Vierzigsten allein mit meiner Mutter? Zum Glück hatte ich Mama noch nicht gefragt, ob sie mit uns mitkommen würde. Nicht, dass wir uns nicht gut verstanden hätten, im Gegenteil. Aber es entsprach einfach nicht meiner Traumvorstellung.
Ben rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »War’s das? Ich muss echt los.«
Miri pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Ich würd mich auch echt gern noch mal hinlegen.«
Wieder sah ich hilflos zu meinem Mann, der sich das stoppelige Kinn kratzte.
»Miris Vorschlag ist doch gar nicht so verkehrt – wenn du so unbedingt über deinen Geburtstag verreisen möchtest, fahr doch mit deiner Mummel. Ansonsten feiern wir ihn eben gebührend hier.« Er nahm meine Hand und drückte sie kurz. »In der Gerbermühle zum Beispiel. Das Ganze könnten wir mit einem ausgiebigen Spaziergang am Main verbinden.« Er hob den Zeigefinger. »Man kann, glaube ich, auch ein Feuerwerk anmelden. Da würde ich mich drum kümmern.«
Miri und Ben stießen synchron ihre Stühle zurück und kamen sich in der Küchentür fast ins Gehege. Was ging sie der Rest der Unterhaltung an, sie waren an meinem Geburtstag ja nicht mal in der Nähe.
»Und wenn wir auf Teneriffa nachfeiern würden? Vielleicht am Ende der Ferien?«, rief ich ihnen noch hinterher. Aber sie hörten mich gar nicht mehr.
Tobi stippte mit der Fingerspitze ein paar Brötchenkrümel vom Tisch. »Wir haben uns doch immer gewünscht, dass sie selbstständiger werden. Und letztes Jahr waren wir sogar ganz froh, ohne sie wegzufahren. Wenn du nicht in Frankfurt bleiben willst, könnten wir auch an den Rhein. Oder ins Elsass, in ein schönes Weinhotel. Wie gesagt, Donnerstag kann ich mir freinehmen. Aber mehr nicht.«
Wäre es eine Option, mit Tobi für einen Tag nach Teneriffa zu fliegen? Nein. Dazu war die Flugzeit einfach zu lang.
Wehmütig dachte ich an unseren Urlaub vom letzten Jahr. Tobi und ich hatten in dem Ferienhäuschen in Husum so etwas wie einen zweiten Frühling erlebt. Ich hatte die Zeit sehr genossen, auch wenn die Frage in meinem Kopf aufgepoppt war, ob ich die Gelegenheit unserer wiedererlangten Nähe dafür nutzen sollte, reinen Tisch zu machen und ihm von einem Fehltritt zu erzählen, der mir schwer auf der Seele lag. Vor allem aber wollte ich ihm sagen, dass diese Sache endgültig vorbei war. Vielleicht hätte Tobi mir bei der wieder aufgeflammten Verliebtheit dieser zwei Wochen verziehen? Wenn man jemanden nur genug liebte, dann konnte man ihm doch alles vergeben?
Doch dann hatte ich jeden sich bietenden Moment verstreichen lassen, weil ich Angst hatte, er könnte das Ende bedeuten. Und als wir zurück waren und wir uns damit auseinandersetzen mussten, dass unsere Tochter sich unsterblich in einen schottischen Musiker verguckt hatte, da war alles in den alten Trott zurück verfallen. Die wiedergewonnene Verliebtheit hatte sich zurückgezogen wie eine Wüstenblume, die nur für ein paar Stunden blüht und dann erneut im Sand verschwindet. Dabei hatten wir uns bei unserem Liebesrevival versprochen, wieder mehr auf die Körpersprache und die Signale des anderen zu achten. Wir wollten öfter Sex miteinander haben, mindestens einmal im Monat. Man sollte denken, dass das zu schaffen sein könnte. Tatsächlich hatte sich dieses Vorhaben jedoch als Herausforderung erwiesen.
Grundsätzlich hätte ich ja auch gar nichts dagegen gehabt, meinen Geburtstag zu zweit mit meinem Mann zu begehen. Aber eben nicht in Deutschland. Ich wollte es ein bisschen temperamentvoller. Nicht »gediegen« oder »gebührend«. Und auch nicht »gemütlich«. Abgesehen davon hätten wir ja vielleicht in diesem Urlaub mal wieder miteinander geschlafen? Wie lange war das letzte Mal eigentlich her?
Während Tobi vom Tisch aufstand, um mit Klappern und Klirren die Spülmaschine auszuräumen, blätterte ich noch einmal durch die Infozettel. Auf einer Seite blieb ich hängen. Dort bot man eine »abwechslungsreiche Ü30-Singlereise unter dem Motto ›Oro negro‹« an. Schwarzes Gold. Nannte man so vielleicht die dunklen Sandstrände? Auf einem Bild war ein luxuriös aussehendes Strandhotel in Playa de las Américas mit verlockend blau schimmerndem Pool abgebildet. Den Urlauber erwarteten entspannende SPA-Anwendungen. Das Logo des Veranstalters war ein Kanarienvogel mit goldgelbem Gefieder.
Verträumt sah ich aus dem Küchenfenster. Bestimmt existierte auf Teneriffa noch immer der Loropark, den ich damals mit meinen Eltern besucht hatte. Sogleich ließ ich die Schultern sinken. Was sollte ich denn alleine dort anfangen? Das war doch lächerlich. Und Single war ich auch nicht.
Eben griff Tobi nach den leeren Orangensaftgläsern auf dem Tisch und erhaschte einen Blick auf die aufgeschlagene Seite. »Guck mal hier«, sagte er und tippte auf einen Satz. »Der krönende Abschluss der Reise ist das Feuerwerk am 4. Juli am Strand von Las Américas im Hotel Palacio.« Er deutete auf das Datum. »Das ist doch genau dein Geburtstag.«
»Aber das ist eine Singlereise. Du willst mir allen Ernstes vorschlagen, meinen Vierzigsten alleine zu feiern?«
»Na ja, alleine wirst du nicht sein. Du kannst ja wie gesagt deine Mutter mitnehmen. Und bestimmt lernt man da auch andere ganz gut kennen.« Tobi lächelte schräg. Wie ein Verkäufer, der einem ein Gerät mit leichten Macken andrehen will.
Störte ihn der Gedanke denn gar nicht, dass ich jemanden kennenlernen könnte? Mich erfasste ein Kribbeln. Ohne meine Familie könnte ich mich natürlich mal von einer ganz anderen Seite zeigen. Ich wäre nicht Susa Brix, Mutter zweier Jugendlicher und Inhaberin eines Fachgeschäfts für Elektroinstallationen. Ich wäre einfach nur Susanna. Hätte mal keine Verpflichtungen meiner Familie gegenüber und könnte ein paar Tage Freiraum und Erholung genießen. Keiner würde von meinen Eheproblemen etwas ahnen oder von der Tatsache, dass mir Papas Tod noch immer zusetzte. Und ich in der Firma mit Sorgen zu kämpfen hatte, von denen ich manchmal nicht wusste, wie ich ihrer Herr werden sollte. Allen voran die Auseinandersetzungen mit diesem Kotzbrocken Bernd. Seit Papa tot war, gab es immer wieder Beschwerden über ihn. Er arbeitete ungenau. War unpünktlich. Zuletzt hatte eine Kundin sich darüber beschwert, er hätte anzügliche Bemerkungen gemacht. Bernd hätte zu ihr gesagt, er käme jederzeit gerne, wenn es mal wieder etwas »zu nageln« gäbe. Der Typ ging mir so auf die Nerven, es wäre herrlich, einmal eine Woche lang nichts von ihm zu hören oder zu sehen.
Verträumt lächelte ich in mich hinein. Ich würde einen Urlaub von meinem Alltagsdasein bekommen. Danach würde ich erfrischt zurückkehren. Vielleicht würden Tobi und ich uns nach so einer Pause wieder näherkommen?
Ehe ich’s mich versah, zog mein Mann sein Tablet von der Anrichte und rief die Internetseite des Anbieters auf. Schnell fand er das Angebot »Oro negro«. Mit der Maus fuhr er über den Anmeldebutton. Ein Kommentar leuchtete auf. Es gab noch genau zwei freie Plätze. Buchen Sie jetzt!
Tobi tippte auf die Zahl. »Das passt doch perfekt für deine Mummel und dich.«
Stirnrunzelnd sah ich ihn an. »Wenn ich schon allein verreisen soll, dann richtig. Und es wäre sowieso nicht verkehrt, wenn Mama ein Auge auf Bernd hätte.«
Täuschte ich mich, oder glimmte mit einem Mal ein Funken Unsicherheit in den Augen meines Mannes auf? »Versprich mir, dass du keine Dummheiten machst«, neckte er. Sanft zwickte er mich in die Wange.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, spielerisch aufzulachen. »Und wenn doch?«
»Das würdest du nie tun.«
»Natürlich nicht«, entgegnete ich.
Er hatte ja keine Ahnung, was ich in der Vergangenheit bereits getan hatte.