© Giampiero Celani Piendlbach
für Das vergessene Buch
Inhalt
Die Tür
Der Kleiderkasten
Die Mutter
Onkel Gustav
Mittagessen
Geld
Gott
Gute Familie
Brand
Eine Mutter
Der Tod
Vision
Abrechnung
Johann Sonnleitner
Mehr als „eine eine starke Talentprobe.“
Zu Maria Lazars Roman Die Vergiftung
Maria Lazar
Die Vergiftung
Mit einem Nachwort
herausgegeben von
Johann Sonnleitner
Die Erstausgabe erschien 1920
im E. P. Tal Verlag & Co.,
Leipzig und Wien
Alle Rechte vorbehalten
2., durchgesehene und aktualisierte Auflage
Copyright © 2020 by DVB Verlag GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Gianluca Coscarelli, Hamburg
Illustrationen: Giampiero Celani Piendlbach
www.dvb-verlag.at
Die Tür
Eine braune Holztür, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Eine Tür wie sie überall ist, überall ist. Eine Tür -
Nein, eine dunkle Macht, feindlich, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Das schlägt ins Gesicht, dem ganzen Körper entgegen. Eine Schicht, eine dünne, harte Wand.
Und da verloren sich die schmiegsamen Formen ihres Leibes. Das Immerweitertasten ihrer Hände blieb stecken. Sie wurde platt zusammengedrückt zu einer Fläche, einem Ding, aus dem nur der ungeheure Schrecken herausgestiegen war und draußen stehen blieb, verwundert.
Als sie über die Treppe des Alltagshauses ging, trat sie in die Abdrücke der hundert geschäftigen Füße, die täglich hier vorüberliefen.
Wieso war sie überhaupt dahergekommen? Immer daher gekommen und nur da her, daß alles übrige draußen liegen blieb?
Heute drang das Licht blendend durch Steine und die erstarrte Haut ihres Leibes. Von den Blättern troff es, grell und heiß, und duftete nach dem Blut aller, die auf der Straße gingen. Das Blau war zu tief, zusammengedichtet aus trotzigen Kräften.
Ach, die furchtbare Helle. Und in sie hineingelegt die Tür, mit den dunkelbraunen Flecken. Die sich niemals, aber auch niemals einschlagen läßt.
Diese Tür war schon damals gewesen, als sie so klein war, daß sie den Kopf ganz nach hinten legen mußte, um die ersten Stockfenster zu sehen. War es die Tür aus dem Kinderzimmer heraus oder von der Küche in den dunklen Gang, an die sie sich nicht zu hämmern traute, als man sie einmal dort eingesperrt hatte? Die Tür, die sich nie und nie zertrümmern läßt.
Wievielmal schon hatte sie diese Türe geöffnet, mit Händen, die dem eigenen Sieg nicht glauben wollen. Nur ein leichter Druck auf die Klinke - und hatte doch immer den Mut gehabt, zu wissen, daß diese Türe einmal verschlossen sein muß. Jedesmal hatte sie den einen gräßlichen Moment erlebt, der heute Wahrheit geworden war - verschlossen.
Heute, es ist ja gar nicht heute. Das war schon immer, das hat sie ja schon hunderttausendmal erlebt. Tritt man nicht aus der Zeit heraus, wenn dann eine Stunde kommt, die sich einbildet, die erste zu sein. Ein Heute, das ewig ist - ein Schritt aus dem warmen Leben - vielleicht ist ihr deshalb so entsetzlich kalt. Und sie muß die Augen schließen, während das Sonnenlicht des Tages die Wimpern versengt.
Verschlossen - undurchdringlich.
Sie geht durch Straßen, wo die Nachmittagsröte die Mauern frißt. Und weiß: Der breiten Kastanie vor seinem Fenster ist heute ein Ast abgehauen worden.
Blendend weiß bietet sich die Wunde der gierigen Sommersonne dar.
Sie kann nie mehr weiter tasten. Steht fest, undurchdringlich - verschlossen.
Ich muß denken, sagte Ruth. Sie nahm den Brief, der in seine Tür geklemmt war und dachte: Ein zu kleines Kouvert. Und warum macht er dem R bei Ruth so einen Schnörkel? Eine wütende Lust überkam sie, den Brief von sich zu werfen, irgendwohin, vielleicht in den Straßengraben. Und dann nie mehr ... Aber sie hielt ihn fest und ging so lange, bis die erste Dämmerung sich mit dem Staub der Großstadt mischte, der in die Höhe stieg, langsam, leise und unerbittlich.
Es schlug neun Uhr vom Kirchturm. Sie dachte: Mutter ist böse, wenn ich zu spät zum Abendessen komme. Und Richard macht seine verwunderten Augen. Ich will sie nicht ärgern. Aber ich bin nur so elend, wie sie gar nicht wissen, daß man sein kann.
Sie spürte den Essensgeruch, der aus der Küche quoll, als die Köchin öffnete. Und war gespannt, was es gäbe, während ihr die Tränen in die Augen traten, daß sie jetzt daran denken könne.
Sie sah nicht auf Mutter und Bruder, während sie schweigend würgte. Sie hörte nicht die Nörgeleien der Schwester. Sie schluckte eilig große, trockene Bissen hinunter und fragte sich nur: Was habe ich? Sie wußte es nicht mehr.
Aber als sie in ihr Zimmer trat, schrie der Spiegel seinen Namen. Und sie sah ihr Bild darin, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte, bevor sie weggegangen war, heute. Die Bücher auf dem Tisch, die vernachlässigt und zusammengeworfen waren, und die zerrissene Mappe atmeten seinen Duft aus. Und von dem seidengelben Lampenschirm herab träufelten in weichen Farben ihre nächtlichen Gedanken.
Sie öffnete den Brief. Und las verächtlich seine großen Lügen.
Der Spiegel schrie seinen Namen. Sie sah sich drinnen, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte. Wird sie so nie mehr zu ihm gehen.
Aber ja, morgen geht sie zu ihm, ganz so wie sonst. Was hat sie nur heute. Der Brief ist ja so einfach zu verstehen. Warum soll er denn nicht einmal verhindert sein, geschäftlich.
Ruth las den Brief noch einmal. Die lächerliche Schlinge des R und die kriecherische Windung des L in Liebe.
Er lügt. Aber das macht ja nichts, das wußte sie schon immer. Und doch - sie kann nicht mehr.
O Gott, was ist nur geschehen? Was ist mit ihr? Durch das Fenster strahlt die warme Sommernacht, wie eine Fülle leuchtender Versprechungen. Die Welt ist hell. Sie war bis jetzt nur in einer dunklen Stube. Dunkle Stühle, dunkle Flecken an der dunklen Tür. Die Welt ist hell. Ihre Glieder, ihr armer vergessener Körper schreien nach Licht. Sie kniet am Boden. Ihre Zähne beißen in die Tischkante, oh, daß sie nicht aufschluchzt.
Sie will denken. Sie weiß, daß seine Augen durch alle Mauern auf sie sehen. Aber ihre Hand sagt nein, ihr Knie schlägt in trotzigen Stößen auf die Diele.
Ihr Hirn schmerzt vor Sehnsucht nach ihm, ihre Zähne beißen in die Tischkante.
So lange sie denkt, gehört sie ihm. Aber da ist noch etwas an ihr, das nicht denkt. Das treibt, das schlägt, das stößt, das treibt sie zu ......
Er stand vor dem Spiegel mit dem zu dicken Rahmen, der alles verdüsterte und doch so hervorstach, als wolle er es nicht zugeben, daß eine eigentümliche Frechheit von dem bespritzten Glas ausging.
E r stand vor dem Spiegel und sah aufmerksam auf seine schlecht rasierten hageren Backen. Auf die etwas zigeunerhafte Locke, die über die Stirn hing. Sie war nur zu licht, um wild zu sein.
Er stand vor dem Spiegel und versuchte die Regelmäßigkeit seiner schmalen Züge zu genießen, durch die die zu weit nach hinten liegende Stirn durchfuhr wie ein querer Strich in einer regelmäßigen Zeichnung. Seine Schultern standen zu weit nach hinten, künstlich, steif. Sie wollten offen und frei erscheinen. Aber die Augen lagen tief versteckt. Die Pupillen waren nicht in sich abgeschlossen, sie liefen über, ausstrahlend und doch wie verirrt in das Weiße des Auges.
Er stand vor dem Spiegel und der zusammengepreßte Mund mit den dunklen, schmalen Zähnen erkannte alle Schwächen der kraftlos weichen Hände, die sich auf den Rücken legten, während die Schultern sich nach hinten streckten, gewaltsam, künstlich.
Als Ruth zur Tür hereinkam, saß er vor dem Pianino und spielte eine Beethovensonate. Er trat ihr entgegen mit beiden ausgestreckten Händen. - Du kommst spät, sagte er liebenswürdig spöttisch. Aber seine Augen blickten böse in eine Ecke des Zimmers.
Ruth erschrak. Wie immer legte sich der süßlich-herbe Geruch der Räume, den sie nie woanders getroffen hatte, betäubend um ihre Stirn. Sie lachte dann: Ja, denk nur, wieso, ich bin einen verkehrten Weg gegangen.
- Du hast nicht kommen wollen, sagte er langsam und schwer.
Alles stand still. Das Zimmer stand still, jeder Stuhl, selbst die Uhr, die sonst immer zu laut schnarrte. Etwas lebte nicht mehr, es war etwas gestorben, jetzt, in dieser Minute, etwas Furchtbares war ausgesprochen worden.
Ruth dachte: Weinen können. Sie sah die hochmütigen Globen auf dem Wandregal, die alle staubig waren. Und die sattgelben Minerale auf dem unordentlichen Schreibtisch.
Er rückte ihr den Stuhl zurecht, wie immer. Immer denselben Stuhl.
- Aber was sagst du denn da? lachte Ruth. Es war ihr schlankes, frohes Kinderlachen, das so seltsam hinaufkletterte über die grau verschossenen Wände, die zu hoch waren.
- Mein Kind, sagte er, mit überschlagenen Beinen und fremden Augen, ich habe dich seit drei Wochen nicht gesehen, und heute kommst du zu spät.
- Du mußt mir erzählen, stöhnte Ruth, alles was da war, alles was du erlebt hast, was du gearbeitet hast.
- Ruth, sagte er. Und sie haßte ihn. Spürte den Schnörkel in der Schlinge des R.
Sie sah seine weißen, kraftlosen Hände. Wußte, daß sie diese Hände niemals vermissen könne. Seine Krawatte war zerschlissen.
Eine heiße Welle stieg in ihr empor, würgte die Kehle. Aber sie war so müde. Hilf mir, sagte sie.
Vor ihr war eine große, schwere Waage. Eine Schale war voll eiserner Gewichte, schwer und kalt. Die andere leer, ganz leer und hoch oben, mutterseelenallein.
Die ganze Welt war aus dem Gleichgewicht durch diese Waage. Und durch die Disharmonie seiner Bewegungen. So wie er jetzt die Zigarre zum Munde führte.
- Du kannst mich eben nicht mehr aushalten, sagte er langsam. Nein, er wußte nichts, er konnte ihr nicht helfen.
Er erzählte ihr von seinem neuesten chemischen Experiment. Und sah sie an, als wäre sie eine schillernde Phiole.
Ihr Gehirn wollte mitarbeiten, aber wieder wehrten sich ihre Hände, ihre Knie, ihr Blut dagegen.
Die Nacht war hereingebrochen.
Du, sagte Ruth plötzlich, als er ihr seine letzten Tage schilderte, wie er sich elend in Gasthäusern herumgetrieben. Hör' auf. Ihre Stimme klang hart und hell. Sie sprang auf und nahm seine Hand. Und ein grenzenloses Mitleid, ein Schmerz, der sich selber zerbrach, lähmten ihren Atem. - Jetzt geh ich und komme nicht mehr. Deine Tür war verschlossen, letztes Mal. Sie war immer verschlossen. Lüg nicht! Vielleicht weißt du es nicht. Ach, diese Kälte herinnen. Und ich liebe dich. Hörst du mich nicht? Das ganze Zimmer hört mich ja. Die Bäume draußen hören mich. So hör' mich.
- Ich höre, mein Kind, sagte er und sie stampfte mit dem Fuß, weil er mein Kind sagte.
- Du weißt, daß ich seit zwei Jahren für dich gelebt habe, fuhr sie fort und ihre Stimme überschlug sich. Aber ich sage dir, ich spüre eine Erschöpfung, eine Gefahr, ich bin zu voll von dir, ich kann dich nicht mehr ertragen. O, was tust du mit mir.
- Wohin willst du, sagte er und nahm einen Zug aus seiner Zigarre.
- Fort, schrie Ruth. Was bin ich dir? Eine Phiole mehr für deine Experimente.
- Törichtes Kind, sprach er und seine Stimme war schwarz in der lauen Nacht. Fort - du kannst nicht mehr fort. Du warst die Phiole für mein kostbarstes Experiment. In dir habe ich mich selber experimentiert.
In diesem Augenblick sah Ruth vor sich auf dem Schreibtisch ein schmales, scharf geschliffenes Messer liegen.
- Wohin willst du, fragte er und vertrat ihr den Weg zur Türe. Du Kleine, die du die ganze Last eines verbrauchten Lebens in dir trägst.
Ruth roch Blut. Oder waren das seine Chemikalien.
- Nein, sagte sie. Und ging hinaus, ohne ihm die Hand zu geben.
Im Stiegenhaus brannte grellrot elektrisches Licht. Und die Straße lärmte.
Der Kleiderkasten
R uth erwachte. Durch das Fenster stieß peinigend laut Licht. Es kam von drüben, von der fahlgelben Hofmauer, zerbrochen und unverschämt schrill. Es saugte die Menschen aus ihren Betten, aus ihren Häusern, ihren Gewohnheiten. Und weil heute Sonntag war, liefen sie alle hinaus. In eine Freiheit, die zu hell war. Daß die großen grünen Blätter schon verdeckt lagen von Staub und zu viel erlebt haben. Wie das schmerzt. Und alle schreien. Irgendwo wird Bier ausgeschenkt.
Dasselbe Licht kroch über die Gegenstände ihres Zimmers, die sonst dunkel waren. Sie traten heraus aus sich selbst, aus ihrem farblosen Dasein und jede Kontur wurde scharf und kam weit hervor.
Es war nicht zum Aushalten. Ruth sprang auf. Sie ließ die Jalousie herunter und war erleichtert, als die Eisenstangen auf dem Fensterbrett aufschlugen. Dann legte sie sich wieder in das zerwühlte Bett, obendrauf den Kopf weit nach hinten.
Vor ihr stand der Kirschholzkasten. Der liebe, lichte, gerade Kirschholzkasten.
Tisch und Stühle und vor allem das dunkle Bücherbrett trugen noch sein Gepräge. Sie waren immer nur dagewesen, um zu warten, daß sie zu ihm gehe. Und wenn sie wieder kam, waren sie voll Warten für das nächste Mal. Und nur voll Warten.
Aber der lichte Kirschholzkasten war schon früher dagewesen. Sie sah starr auf ihn mit halbgeschlossenen Lidern. Um die anderen nicht zu sehen.
Der Kasten hatte etwas vom lieben Gott. Ganz bestimmt. Von dem lieben Gott, vor dem man die Hände faltet, um zu ihm zu beten. Der einen weißen Bart hat. Und man braucht nur brav zu sein und es kann einem gar nichts geschehen. Er schmeckt nach Zuckerlämmchen, die zu Ostern verkauft werden. Und auch ein bißchen verstaubt.
Dieser liebe, breitlinige Kasten war einmal groß, so groß, daß man nicht bis zum Schlüssel reichen konnte. Und alles war darin, was man nur brauchte.
Ruth bäumte sich auf. Der liebe Gott war tot. In dem lichten Kirschholzkasten hing eine Menge dunkler Stoffe. Die rochen alle ein wenig nach fremden Chemikalien, süßlich herb. Stundenlang war sie gesessen, den Kopf in diesen Kleidern vergraben, um den geheimnisvollen Duft einzusaugen. Nein, sie wird den Kasten nie mehr aufsperren können.
Sie betrachtete mißtrauisch ihre braunen Kinderhände. Mit den kurzen Fingern, die noch niemals etwas sein wollten und noch niemals etwas festgehalten hatten, immer nur alles fragend betastet. Rochen sie nicht in ihrem Innern, ganz drinnen in der Handfläche, aus den Poren heraus nach ihm? Sie dachte an das Versinken in seinen großen, zu weißen Händen und ihr wurde übel. Ihre widerspenstig flockigen Haare rochen ja auch nach dort – ist sie denn ganz von ihm durchzogen, vergiftet -
Sie wird ein Bad nehmen. Und sich die Haare waschen mit sehr viel Seife. Das wird nützen. Und die Möbel heute gut abstauben, mit einem neuen Staubtuch.
O Gott, wenn sie nicht auf den Kasten sieht, sieht sie überall ihn, nein, nicht ihn und auch nicht seine Augen, nur seinen Blick. Der dunkel ist und wie ein Band sich um ihre Glieder legt. Den sie nicht versteht und nie verstanden hat, weil er aus einem Land kommt, das sie nicht kennt. Dessen Unkörperlichkeit sie verzweifeln ließ und dem sie nun entflieht, von heute an.
Es ist merkwürdig, dachte Ruth, daß ich die ganze Nacht geschlafen habe. Es ist überhaupt merkwürdig, daß man bei einem großen Unglück doch ganz bleibt, wie sonst. Nur alles andere wird anders.
Und wieder sieht sie auf den hellen freundlichen Kasten. Und vergleicht ihn mit dem lieben Gott. Sie möchte die Hände falten, ganz wie damals. Und kann es nicht mehr. Und fürchtet sich, ganz wie damals.
Denn da ist sie wieder, die alte Kinderangst, über die sie schon hinweggegangen zu sein glaubte mit hochmütig erwachsenem Schritt. Die Angst, die die Nacht fürchtet und die blasse Frühlingsdämmerung. Die sich krümmt unter der Eintönigkeit des Mittags. Die Angst, die auf der Schulbank hockt neben dem patzenschwarzen Tintenfaß, den strengen Scheitel der Lehrerin streift, die nach zerkauten Federstielen schmeckt und liniertem Papier, die Angst, die aufschreit in einsamen Nächten und keinen Ausweg findet durch den fest verschlossenen Mund. Die von Leichenzügen träumt und alle Pest und Hungersnot der Jugendbüchereien durchlebt hat.
Wer ist sie heute? Was war sie seit der Zeit, als sie in kurzen Röcken über die Gassen lief und das Zopfband verlor? Ist sie bestohlen, beraubt?
Nein, Ruth wußte es, sie war mißhandelt worden. Eine zarte Hülle blieb übrig, die leben wollte. Und was war in ihr? Was roch wie die lebendig gewordene Wissenschaft? Was klebte an ihren Händen, in ihren Haaren, in ihren Kleidern? Was füllte den lieben, alten Kasten?
Da wird sie sich einer furchtbaren Gefahr bewußt: Leer werden. Leer – was heißt das, was ist das? Leer – das sind die Augen in Totenschädeln.
Sie will nach der goldenen Fülle greifen. Und das Licht kann nicht herein und dahinter steht das Nichts, das Leere.
Leer – das heißt ihn verlieren, ihn verloren haben. Und die Wucht seiner Schmerzen, die Qualen seiner Einsamkeit.
Hoch aufgerichtet steht sie vor dem Bett. Sie sieht an sich herunter. Bis zu den schlanken, braunen Knöcheln. Und haßt sich.
Leer – das ist das Stück vom Fenster hinab bis zu dem harten Pflaster. Worauf die Menschen ihren grünen Schleim spucken und das die Hunde beschmutzen.
Frei sein und leer sein und weniger als elend sein -
- Fräulein Ruth sollen zum Frühstück kommen. -Ruth sah das große überkräftige Stubenmädchen mit der hohen vergnügten Stimme. Und wußte: heute abends geht sie aus, da wartet einer unten auf sie, vielleicht der vom letzten Mal oder auch ein anderer.
- Ruth, rief die Mutter aus dem Nebenzimmer. – Ich komme, antwortete sie mit einer Stimme, die voll Musik und Jubel war.
Mutter stand in der Sonne. Und Mutter war lebendigstes Gewesensein.
M utter ging alle Morgen nachsehen, ob das Mädchen gut aufgeräumt habe. Sie ließ keinen Stuhl so stehen, wie diese ihn gestellt hatte. Mutter wollte ein eigenes Haus haben, wie sie sagte. Ob dieses Haus besser war, als alle anderen, ist nicht bestimmt. Aber daß es anders war als alle anderen, daß es ihr eigen war und nur durchtränkt von der kindhaften Unruhe ihrer zu langen Finger, die niemals jung gewesen sein konnten, daß ihr Haus fremd und versperrt war allen, die nicht ihres Blutes waren, das hatte sie erreicht. Und Ruth empfand es mit einem Stolz, der sich selbst nicht anerkennen will.
Mutter küßte Ruth, wie man ein Stück Eigentum küßt oder ein Stück von sich selbst. Und Ruth fühlte die Schmerzen der vergangenen Nacht ganz klein werden und wollte weinen.
Mutter frühstückte nicht mit. Sie war nie imstande, eine Mahlzeit durch sitzen zu bleiben. Sie mußte immer rasch noch etwas anderes tun.
Mutter war groß. Aber nicht groß genug für das, was sie der Welt zeigen wollte. Deshalb schien sie fast klein.
Und auch ihre Wohnung war groß. Aber zu klein, um sich vor allen zurückziehen zu können. Denn das wollte sie. Deshalb waren die hohen Räume eng und drückend.
Als Ruth mit dem schmalen, silbernen Brotmesser das Brot schnitt, empfand sie einen seltsamen Besitzerstolz und dachte: zuhause sein.
Sie hatte keinen anderen Wunsch, als Mutters Kleid zwischen beide Hände fassen zu können, ganz, ganz fest. Wie gut war es, daß Mutter immer so alte Kleider trug. Und schon wollte sie aufspringen und Mutter alles sagen -
Da kam Richard herein. Nein, sie konnte nicht. Richard war zu klug. Und Richard war Mutters Sohn. Von so etwas konnte sie nie zu Mutter sprechen.
Und Martha war Mutters Tochter. Martha war häßlich und verbittert. Wenn sie die Tür aufmachte, war das Zimmer voll Lärm. Da konnte Ruth von so etwas doch nie zu Mutter sprechen.
Ruth wußte nicht, daß Mutters Leben nur Enttäuschung war, die nicht eingestanden werden durfte. Und daß Mutter so grenzenlos arm war, weil sie nie den Mut gehabt hatte, das zu erkennen.
Mutter war so klug, daß sie die Dinge nicht wirklich sah, sondern in Karikatur auf dem Hintergrund ihrer Wünsche und Vorurteile. Aber sie sah sie alle bis auf eines: Das war sie selbst. Sie wußte so wenig von ihrer eigenen Existenz wie ein ganz kleines Kind. Und ahnte nicht, daß sie selber auch etwas beigetragen habe in der Symphonie der Ereignisse, die ihr enges, tiefes Dasein bildeten.
In ihrer Jugend hatte sie nur eines gekannt: Die Pose. Die Verwandten und Freunde, ja selbst der Kutscher ihres väterlichen Hauses sprachen mit Handbewegungen, wie Schauspieler in ihren Rollen. Das hatten sie von ihrem Vater gelernt. Dessen ganzes Leben ein großer Faltenwurf war. Hinter dem steckte nichts als Jagd und Rausch und etwas Verwesung. Aber ihre Mutter war träge.
Sie hatte nie den Mann gefunden, den sie lieben konnte. Das wäre auch nicht so nötig gewesen, nur hätte sie sich Zeit nehmen sollen, ihn zu suchen. Denn nur dann hätte sie sich entwickeln können.
Aber sie zerschnitt sich alle Möglichkeit weiterzukommen, indem sie in früher Jugend einen Mann heiratete, der vielleicht ein Heiliger geworden wäre, wenn sie ihn unter Menschen gelassen hätte. Denn er liebte die Welt mit der zarten, naiven Freude junger Knaben, die an einem Frühlingstag ein blühendes Tal durchstreifen. Aber sie hielt ihn als Eigentum, wie ihr Vater Pferde und Bediente gehalten hatte. Sie sperrte ihn ein in Räume, die von ihren Atemzügen übersättigt waren. Daß seine weiche Menschlichkeit zur Seite treten mußte und sein säurenscharfer Verstand allein ihn beherrschte. Er rechnete Tage und Monate und Jahre. Als seine große Erfindung fast fertig war, starb er. Aber noch eine Stunde vor seinem Tod erzählte er das Märchen vom Schneewittchen. Denn er hatte immer Königstöchter geliebt, die eigentlich kleine Mädchen waren und in rote Äpfel bissen. Die ein bißchen Puppentheater an sich hatten.
Ruth hatte Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen. Weil Mutter alles war, weil Mutters große, vielgliedrige Hände auf ihren Augen gelegen waren, wenn sie zu Vaters Schreibtisch sehen wollte.
Als sie noch ganz klein war, hatte er sie einmal in eine Konditorei geführt. Es war ein schneidend kalter Wintertag und ein elendes Geschäftchen in der Vorstadt. Dort kaufte er Bonbons, einen großen Sack voll großer, dicker, gelber, malziger Bonbons. Und gab sie ihr mit dem vergessen gütigen Lächeln, mit dem Christus das Brot an die Zehntausenden verteilt. Da wurde sie traurig. Am Abend saß er an seinem Schreibtisch und Mutter schalt mit der Köchin. Ruth ging in das dunkle Vorzimmer, steckte den Kopf in seinen Winterrock und küßte, küßte das weiche, kalte Tuch. Später sagte Richard: – Gib mir davon. – Sie hielt den Sack fest zu. – Du bist geizig, sagte Richard. – Gib! – Sie preßte den Sack an sich. Da schlug er sie. Sie weinte. Er zerriß das Papier. Aber sie kämpfte um jedes einzelne Bonbon. Und legte alle unter ihren Kopfpolster. So war Vater. Aber Richard konnte das nie verstehen. Und sie hatte viel Respekt vor Richard. Fast noch mehr als vor Mutter.
Am Abend sagte Mutter: – Warum bist du noch nicht angezogen. In einer Stunde müssen wir im Theater sein.
Ruth dachte an den Kleiderkasten. An den dunklen Duft, der aus ihm herausströmen soll. Und sie empfindet das dunkle Band, das von weither kommt und sich um alle ihre Glieder legt, schmiegt, sich einschneidet in die furchtsame Haut.
Und sie weiß, wenn sie das blaue Seidenkleid anzieht, ist sie morgen wieder bei ihm.
- Ich gehe nicht ins Theater, antwortete sie. Und blieb allein in der Wohnung. Da geht sie aus, sich zu suchen. Sie schleicht, sie kriecht fast durch die Zimmer. Sie betastet die Stühle mit den verbogenen Füßen, die überflüssigen Vasen, den Samt der Vorhänge. Überall war Mutter. Und noch Richards Bücher. Und ein paar gestopfte Handschuhe von Martha. Aber Ruth war nirgends.
Da überfiel sie eine Qual, die sie zu Boden schlug, sich wie ein Strick um ihren Hals legte und würgte ...
Mutter kam von Lohengrin und war entzückt, wie immer. Sie liebte derbe Romantik und laute Musik. Dann sang sie den Hochzeitsmarsch mit ihrer kräftigen Stimme. Ruth sah sie an wie eine Fremde.
Richard war zufrieden, wie nach einer gut überstandenen Prüfung. Und Martha jammerte, daß ihr Schal ein Loch bekommen hatte. Ruth war nur ganz verwundert.
Aber dann setzte sie sich auf Mutters Bett, tief hinein. Sie starrte in das schläferige Weiß des Linnens und wünschte sich klein zu sein und Fieber zu haben.
Mutter sagte: – Aber jetzt geh schlafen. Und warum bist du heute so blaß? Was hast du denn? Geh nur schlafen und gib mir noch vorher meinen Roman.
Richard meinte gähnend: – Möchte nur wissen, warum du deinen Sitz hast verfallen lassen. So was Dummes.
Ruth wußte nur: – Wenn ich den Kasten aufmachen muß, werde ich wahnsinnig. Da ist ein Abgrund drinnen, der stürzt über mich, der erdrückt mich durch seine Leere. Und dann wissen sie alles. Oh, die Schande. Dann bin ich ausgezogen. Nackt vor allen. Auf der Straße. Mein Körper ist voll eiternder Wunden, oh, die Schande.
Der liebe, lichte Kirschholzkasten stand glatt in ihrem dunklen Zimmer.
Nach zwei Tagen sagte das Stubenmädchen: – Wenn Fräulein Ruth nicht den Kasten aufmachen, kann ich den grauen Mantel nicht zum Putzen tragen.
Die Schande.
Und Mutter sagte: – Wenn du den Schlüssel verloren hast, lasse ich den Schlosser holen.
Die Schande.
Sie weinte heraus: – Ich will nicht.
- Ich glaube wirklich, du bist krank, meinte Mutter.
Aber Richard rief aus dem Nebenzimmer: – Geh, mach dich nur nicht interessant.
Oh, die entsetzliche Schande.
Und sie wird sich zwingen lassen.
Was tut sie nur den ganzen Tag. Sie geht herum und erklärt es ihm, ihm, zu dem sie nie mehr kommen wird. Sie macht ihm alles begreiflich, er versteht es, er weiß es, er weiß ja alles. Wie kommt es nur, daß er ihr so ähnlich ist. Oder sie ihm -
Sie nimmt zum zehntenmal ein neues Staubtuch und wischt alle Möbel ihres Zimmers ab. Damit sein Duft doch endlich weggehe. Und wäscht sich dann die Hände mit kochend heißem Wasser.
Am nächsten Abend sagte die Mutter: – Wenn du dir morgen nicht ein anderes Kleid anziehst und den Kasten aufsperrst, so hol ich den Schlosser. Also überleg es dir.
Ruth stand an ihrem Fenster und sah in die schmutziglaue Sommernacht hinunter und fühlte: Warum kann Mutter, die den Lohengrin so gern hat, die so nobel ist, wenn Gäste kommen, so zu mir sein? Warum stehe ich hier und schau auf eine staubige Straße, wo doch draußen die vielen Felder sind mit den endlosen Schienen – in die Ferne gleiten – und warum -
- Ich muß jetzt Bett machen, sagte das Stubenmädchen und zündete das grelle elektrische Licht an. Ruth sah auf sie. Auf ihre kräftigen Arme, die fast aus der Bluse quollen, ihre übermütig starken Hüften, ihre brennend heißen Wangen. – Hören sie, Agnes, sagte sie heiser und ging ganz nahe zu ihr ... Sie waren jetzt unten, da beim Haustor, und er war dabei, o bitte, sagen Sie nicht nein, ich habe Sie ja gesehen ... Nein, Sie müssen nicht schreien, aber sagen Sie mir doch bitte, war es derselbe, mit dem ich Ihnen begegnet bin, damals, Sie wissen schon, wie ich im Konzert war, aber so sagen Sie doch. – Nein, sagte Agnes, mehr verblüfft als verlegen. – Aber eines, Agnes, müssen Sie mir noch sagen. War es schön, unten jetzt, meine ich, war das schön – Oh Gott, sagte Agnes, nein, das ist nichts für Sie, Fräulein. – Hören Sie, Agnes, und Ruth kämpfte mit ihrem Atem, Sie haben so starke Arme. Agnes, liebe Agnes, ich habe meinen Kastenschlüssel verloren. Mama ist sehr böse. Nehmen Sie das Küchenmesser, das große, und machen Sie mir den Kasten auf, nicht wahr, Sie tun es. Aber leise, ich geh einstweilen in das Speisezimmer. Und kein Wort davon, Agnes, Sie verstehen. Die Kleider hängen Sie über Nacht ins Vorzimmer, aber es darf niemand davon wissen, und zeitlich früh wieder herein, o ja, Agnes, Sie verstehen, sie tun es gleich -
- Ich verstehe schon, Fräulein Ruth, sagte Agnes mit blödem Lachen.
Die Mutter
I ch liebe Mutter, dachte Ruth. Kein Mensch weiß, wie groß sie ist und stolz. Es ist schade, daß das niemand weiß. Aber ich kann es ja auch nicht vertragen, daß sie die Türen zuwirft und durch die Zimmer läuft. Daß sie mit dem Mädchen schreit.
Sie flüchtete in Gärten. In kleine, engbrüstige Vorstadtgärten mit zerrauften Büschen und wackligen Bänken. Mit großen Sandhaufen voll schmutziger Kinder.
Sie ging hin, weil sie dort noch niemals, niemals gewesen war. Und saß brutheiße Sommernachmittage durch und versuchte nur an Mutter zu denken und ihn zu vergessen.
Denn noch immer verfolgte sie sein Blick wie ein dunkles Band, das so weich war, wie das Innere seiner Hand, so daß man nichts wünscht, als sich hineinlegen zu können und nichts mehr weiß von Steinen und Bergen. Wie im Sand vor dem Meer.
Als sie einmal so saß, den Kopf in den Händen, mitten unter Proletarierfrauen und Ladenmädchen, setzte sich jemand ganz nahe neben sie. Sie fühlte nur immer den Blick, das Band, wie es sich um ihre Stirne legte und alle Nerven, den Rücken hinunter strich. Jemand sagte zu ihr: – Fräulein, gestatten, daß ich mich zu Ihnen setze. Neben ihr war ein Commis voyageur mit aufgewirbelten Schnurrbartspitzchen und rot geblümter Krawatte. Noch empfand sie den weichen Abgrund, der zu tief war, um zu duften und sah sich doch hier unter kleinen Leuten, im kleinen täglichen Leben, rundherum der graue Spielsand. Sie lachte ihrem Nachbarn ins Gesicht, laut und plötzlich, daß er zurückfuhr. Dann ging sie. Hinter ihr schimpften die Proletarierfrauen.
Sie mußte immer von zuhause weggehen. Denn wenn sie zuhause war, liebte sie Mutter nicht, und das war doch schon ganz unmöglich.
Mutter sagte zu Richard: – Man sollte doch sehen, wo das Kind sich herumtreibt. Sonst dachte sie nicht weiter an Ruth. Nur in der Nacht wachte sie manchmal auf und wurde unruhig. Sie meinte, das käme von ihren angegriffenen Nerven, und nahm Schlafpulver.
Daß etwas ihr Fremdes in Ruth vorging, wußte sie. Soweit sie überhaupt wissen konnte, was sie nicht wissen wollte. Und sie wollte nichts wissen, was sie nicht seit ihrem zwölften Jahr kannte und besaß. Das beleidigte sie schon durch seine bloße Existenz.
Für sie war Ruth das Kind. Das etwas verträumte Kind, das sie unbedingt liebte, weil es ihr Kind war, das sie bemitleidete, weil es das Kind ihres Mannes war. Und das sie deshalb schützen zu müssen glaubte.
Solange Ruth klein war, sagte sie mit Stolz zu allen Verwandten: – Das Kind wird ganz wie ich. Und Ruth war fast ebenso angesehen im Hause wie Richard. Aber mit zehn Jahren enttäuschte sie ihre Mutter zum ersten Mal. Von da an immer wieder.